zur Hauptnavigation zum Servicemenü direkt zum Inhalt

Sie sind hier: Startseite » Dokumente » Biografien » Marsha - ein jüdisches Mädchen aus dem Ghetto Kaunas

Logo der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft

Dokumente

Marsha - ein jüdisches Mädchen aus dem Ghetto Kaunas

Großansicht des Bildes

Konzentrationslager Salaspils, SS-Lageraufseher vor angetretenen jüdischen Häftlingen

Quelle: Bundesarchiv, Bild 101III-Duerr-054-14A, Foto: Dürr

Neues Fenster: Großansicht des Bildes

Ende des Jahres 1942 meldet sich die 15-Jährige Marsha zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Vater freiwillig zur Zwangsarbeit für die deutsche Besatzungsmacht nach Riga. Sie möchte dort ihre Mutter wiederfinden. Das jüdische Mädchen wird zusammen mit den anderen jüdischen Männern und Frauen auf einem mehrwöchigen Transport in Viehwagen vom litauischen Kaunas aus dorthin gebracht. Täglich gibt es pro Waggon einen Kübel Wasser zum Trinken und wöchentlich für jeden einen Laib Brot. Ein weiterer Eimer dient als Abort. Ebenfalls täglich leeren sich die Wagen mehr um Kranke und Tote, die von den Wachleuten herausgenommen werden. Marsha wechselt so ihren Wohnort vom Ghetto in Kaunas mit dem Ghetto in Riga. Sie findet ihre Mutter. Sie war mitten aus einem Arbeitseinsatz in Kaunas heraus hierher verschleppt worden. Kurz nach Marshas Ankunft in Riga werden die drei Frauen in ein Arbeitslager am Flughafen zum Bau von Straßen und Landebahnen gebracht. Anfang des Jahres 1944 überstellt man sie in das Konzentrationslager Kaiserwald am Stadtrand von Riga. Dort entgehen sie nur knapp der Selektion zur Zwangsprostitution, die viele Mädchen in den Selbstmord treibt. Als das Lager angesichts der heranrückenden Roten Armee im Juli 1944 aufgelöst wird, bringen die Deutschen die Häftlinge auf Schiffen in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Die Mutter meldet sie freiwillig für ein Arbeitskommando in einem Außenkommando. Dort heben sie mit anderen Häftlingen Panzergräben aus. Als die sowjetische Armee nahe herankommt, beginnt für die Zwangsarbeiter der Todesmarsch, bei extremer Kälte, bei Eis und Schnee. Je näher die Rote Armee sich dem Zug nähert, desto häufiger kommt es zu Erschießungen durch die SS. Dann aber fliehen die Bewacher und lassen ihre Gefangenen alleine zurück. Mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und sechs weiteren Frauen schlägt sich Marsha zu einem verlassenen Bauernhaus durch. Dort geraten sie noch einmal zwischen die Fronten, bleiben aber unerkannt. Dann gelingt es ihnen, Lublin zu erreichen, wo sie das Ende des Krieges erleben. Über Berlin und München gelangen sie nach Wolfratshausen. Marsha emigriert 1949 in die USA. Ihre Schwester und ihre Mutter kehren in ihre Heimat nach Litauen zurück. Erst 1957 erhalten sie die Erlaubnis, nach Israel auszuwandern. Später leben die Frauen mit ihren Familien zusammen in den USA.

Viele Biographien jüdischer Zwangsarbeiter(innen) ähneln sich in wesentlichen Punkten und unterscheiden sich damit zugleich von denen der "Ostarbeiter", polnischen Zivilarbeiter und anderer Gruppen von Zwangsarbeitern. Jüdische Arbeitskräfte arbeiteten mit der Hoffnung, dadurch vielleicht überleben zu können. Sie arbeiteten als Häftlinge oder als Bewohner von Ghettos. Perspektiven wurden ihnen nicht geboten. Freizeitaktivitäten waren für sie nicht vorgesehen. Die Zielsetzung der Vernichtung durch Arbeit verlangte keine Schonung. Der Erhalt der Arbeitskraft war im Hinblick auf Juden in den Augen der verantwortlichen Dienststellen kein erstrebenswertes Ziel und gewann erst kurz vor Kriegsende leicht erhöhte Bedeutung.

Trotz vielfach auch menschenunwürdiger Lebens- und Arbeitsbedingungen unterschieden sich die der übrigen zivilen Zwangsarbeiter von denen der Juden doch erheblich. Das Bestreben deutscher Regierungsstellen, ihre Arbeitskraft nicht nur zu erhalten, sondern sogar zu fördern, bot grundsätzlich andere Voraussetzungen für die Vorgaben zu ihrer Behandlung als die Zielsetzung der Vernichtung durch Arbeit. Die Begriffe slave labour und "Sklavenarbeiter", die vor allem verwendet werden, um Zwangsarbeit in Konzentrationslagern und KZ-Häftlinge zu bezeichnen, finden hier ihre Begründung.

[Der Erinnerungsbericht von Marsha findet sich in: Geraubte Leben : Zwangsarbeiter berichten / hg. v. d. Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" ; bearb. v. Kathrin Janka. - Köln [u.a.] : Böhlau, 2008. - S. 59-68.]