1.6 (bau1p): Auslieferungsfrage

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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Auslieferungsfrage

Der Versailler Vertrag stellte in den Artikeln 227–230 Kaiser Wilhelm II. „wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ und sah die Auslieferung derjenigen Deutschen vor, denen ein Verstoß „gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ zur Last gelegt wurde. Letztere sollten durch Militärgerichte der ehemaligen Kriegsgegner abgeurteilt werden. Im Rahmen des politischen Propagandakampfes um die Untermauerung oder Zurückweisung der das Versailler System tragenden Kriegsschuldthese des Artikels 231 kam diesen Bestimmungen eine zentrale Bedeutung zu. Die Alliierten hatten den verzweifelten Versuch der Regierung Bauer, einen Vorbehalt zum Versailler Vertrag dahingehend[XLIX] durchzusetzen, daß mit der Vertragsannahme eine Anerkennung der Kriegsschuld nicht bewirkt und Verpflichtungen nach Artikel 227–230 des Friedensvertrags nicht übernommen würden, am 22. Juni 1919 zurückgewiesen150. Ultimativem Druck weichend, war der Vertrag daraufhin von Deutschland zwar angenommen worden; die Reichsregierung machte aber kein Hehl daraus, daß sie in Übereinstimmung mit dem Empfinden des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung die alliierten Forderungen für ehrenrührig halte und daher weiter zu ihrem Vorbehalt stehe. Dieses Verhalten trug der erheblichen Unruhe Rechnung, die sich Mitte 1919 vor allem des Militärs bis hin zur Erörterung von Staatsstreichplänen bemächtigt hatte151. Die Auslieferungsproblematik barg somit hinreichend Zündstoff in sich, um sie als die brisanteste Herausforderung zu bezeichnen, der sich die Regierung Bauer in Ausführung des Versailler Vertrags stellen mußte.

150

Dok. Nr. 1; 3.

151

Dok. Nr. 4, P. 5; 7, P. 13; 12, P. 1. – Vgl. in diesem Zusammenhang die – erst nach Abschluß des Manuskripts dieses Bandes erschienene und daher zur Kommentierung nicht herangezogene – Edition: Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Zweite Reihe Militär und Politik. Bd. 2: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch. Militär und Innenpolitik 1918–1920. Bearbeitet von Heinz Hürten. Dok. Nr. 51; 73.

Die Aussicht, innerhalb des ersten Monats nach Inkrafttreten des Vertrags mit den Auslieferungslisten der Alliierten konfrontiert zu werden, hing als Damoklesschwert monatelang über der Kabinettsarbeit. Die Regierung erörterte vordringlich, in welcher Weise den vermutlich Beschuldigten finanzielle Unterstützung für ihre Prozeßführung und im Gegenzug propagandistische Hilfe durch Anklageerhebung gegen Angehörige von Ententestaaten gewährt werden könne152. Die Minister berieten Mitte Oktober – und erneut nach Bekanntwerden der Listen im Februar 1920 –, ob sie zur Abwehr der Auslieferungsforderungen nicht mit dem Rücktritt der Reichsregierung und der wahrscheinlichen Konsequenz anarchischer Zustände in Deutschland drohen sollten153. Den auf die Vertragsbestimmungen gegründeten juristischen Bedenken Reichsinnenminister Davids, der auch die Befürchtung aussprach, daß mit einem solchen Schritt die übrigen vertrauensbildenden Maßnahmen der Reichsregierung untergraben würden, mochte selbst der ansonsten auf eine weitgehende Vertragserfüllung bedachte Außenminister Müller nicht zustimmen. Mit nüchterner Sachlichkeit sah er den Loyalitätskonflikt voraus, in den die Auslieferungsbegehren die deutschen Exekutivorgane stürzen würden154. Die Kabinettsmehrheit zeigte sich entschlossen, die Auseinandersetzung über die Auslieferungsfrage zur ersten Nagelprobe des im Juni beschlossenen Konzepts der deutschen Erfüllungspolitik zu machen und den Alliierten eindringlich die faktische Undurchführbarkeit ihrer Forderungen vor Augen zu führen155. Im Rahmen dieser Konzeption blieb Spielraum für unterschiedliche Initiativen des Kabinetts und einzelner seiner Mitglieder.

152

Dok. Nr. 33, P. 3; 41, P. 2; 88, P. 3; 160, P. 2.

153

Dok. Nr. 83, P. 1; 160, P. 2.

154

Dok. Nr. 132; 152.

155

Dok. Nr. 83, P. 1; 88, P. 1; 161; 166.

[L] Angesichts der verhärteten öffentlichen Meinung in den Ententestaaten wurde im Kabinett nicht bestritten, daß man in den Gesprächen, die Ministerialdirektor von Simson seit Anfang November 1919 über die Unterlassung der Auslieferungsforderung in Paris führte, den alliierten Regierungen eine Kompensation anbieten müsse. Das Reichskabinett legte deshalb den Entwurf eines eigenen Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen vor, in dem das Reichsgericht in Leipzig als Instanz zur Durchführung entsprechender Verfahren bestimmt wurde156.

156

Dok. Nr. 33, P. 1; 83, P. 1; 123, P. 2 und 3; 125, P. 6.

Einen ersten Einbruch in die Front der Siegermächte glaubte Reichsfinanzminister Erzberger mit den von seinem Ressort seit den Sommermonaten 1919 mit der belgischen Regierung geführten Gesprächen über den Rückkauf während der Besetzung Belgiens im ersten Weltkrieg zwangsgetauschter deutscher Markbeträge erzielen zu können. Da Erzberger zum Umtausch dieser und weiterer von Spekulanten nach Belgien gebrachter Markbestände ohne zwingende Verpflichtung bereit war, erwartete er von dem im November 1919 zu Verhandlungen nach Berlin gekommenen belgischen Minister Francqui über die finanziellen Abmachungen hinaus Konzessionen bei der Erfüllung von Bedingungen des Versailler Vertrags. Insbesondere sollte Belgien auf seine Auslieferungsforderungen verzichten. Die rechtlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Bedenken, die gegen die freiwillige Übernahme enormer, den Ertrag der wichtigsten Kriegsfolgesteuer, des Reichsnotopfers, übersteigender Lasten zugunsten Belgiens sprach, wischte Erzberger mit einer für seinen Arbeitsstil typischen Geste vom Kabinettstisch: Man dürfe an die Sache „nicht mit deutscher Schwerfälligkeit“ herangehen. Obwohl Francqui sich auch nach Einschaltung des Reichsaußenministers in die mit unerhörter Eile auf einen Vertragsabschluß hingeführten Verhandlungen nur zu mündlichen Absichtserklärungen verpflichten ließ, stimmte die Kabinettsmehrheit nach Abwägung aller Risiken dem sogenannten Markablösungsabkommen zu157. Als Belgien sich nach Inkrafttreten des Versailler Vertrags nicht konzessionsbereit zeigte und im Verein mit den übrigen alliierten Mächten auf seinen Auslieferungsbegehren beharrte, entschloß sich die Regierung Bauer noch im Februar 1920, das Abkommen den gesetzgebenden Körperschaften nicht zur Ratifizierung vorzulegen158.

157

Dok. Nr. 94; 106, P. 2; 107a, P. 4; 107b; 108.

158

Dok. Nr. 159.

Daneben wartete Erzberger, gespeist aus einem weit gefächerten Netz meist inoffizieller Nachrichtenquellen, wiederholt mit wichtigen Hintergrundinformationen auf. Die Auslieferung der sogenannten Kriegsverbrecher sollte danach selbst Marschall Foch als „odios“ bezeichnet haben159. Bemühungen, die Auslieferungsfrage auf dem Verhandlungswege im Sinne des deutschen Alternativvorschlags zu lösen, erschienen somit nicht unrealistisch, zumal gleichzeitig der US-Senat seine Vorbehalte gegen das Versailler Vertragsgeflecht geltend machte160. Die Reichsregierung sah in der bevorstehenden Inkraftsetzung des[LI] Friedensvertrags ohne Beteiligung der Vereinigten Staaten von Amerika eine Benachteiligung und glaubte, aus der dadurch zu erwartenden Stärkung des englischen und französischen Einflusses auf die Reparationskommission und die Interalliierte Rheinlandkommission einen begründeten Anspruch auf Kompensationen, namentlich bei der verzögerten Repatriierung der Kriegsgefangenen, der umstrittenen Entschädigungspflicht für die bei Scapa Flow versenkten Schiffe, dem alliierten Vorbehalt militärischer Zwangsmaßnahmen auch über den Friedensschluß hinaus und nicht zuletzt in der Auslieferungsfrage, ableiten zu können161. Der Präsident der Friedenskonferenz, Clemenceau, leugnete, daß aufgrund der ungewissen Haltung der USA Vertragsbestimmungen einer Revision unterzogen werden könnten. Unter Hinweis auf die durch einfache Kündigung des Waffenstillstandsabkommens mögliche Wiederherstellung des Kriegszustandes forderte er vielmehr die Reichsregierung auf, die für die Inkraftsetzung des Versailler Vertrags erforderliche Unterzeichnung eines Ratifikationsprotokolls nicht weiter hinauszuzögern162. Dagegen erachtete Reichsaußenminister Müller am 15. Dezember 1919 vor dem Reichsratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten „den psychologischen Moment für gekommen“, „um gegen ungerechte Forderungen Widerstand zu leisten“163. Lagebeurteilungen des Auswärtigen Amtes und des Reichswehrministeriums ließen auf eine abnehmende militärische Interventionsbereitschaft der Alliierten schließen, so daß sich im Kabinett gegen Ende des Jahres die Auffassung durchsetzte, die Entente würde wahrscheinlich nicht auf ihren teilweise über die Bestimmungen des Versailler Vertrags hinausgehenden Maximalforderungen beharren, sie zumindest nicht mit der Androhung militärischer Repressalien durchsetzen164, wie sie es zuletzt noch zur Verhinderung des Anschlusses von Deutsch-Österreich an das Reich165 und zur Liquidierung des Baltikumunternehmens getan hatte.

159

Dok. Nr. 83, Anm. 3; s. auch Dok. Nr. 161, Anm. 2.

160

Dok. Nr. 83, P. 1; 88, P. 1; 100, P. 1.

161

Dok. Nr. 107a, P. 2; 107b; 109; 111; 113.

162

Dok. Nr. 124.

163

Dok. Nr. 132.

164

Dok. Nr. 123, P. 2, Anm. 5; 132; 161, Anm. 2.

165

Dok. Nr. 57, P. 1.

Tatsächlich konnten auf dem Verhandlungsweg die alliierten Vorstellungen über die Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen und die Anwendung militärischer Zwangsmaßnahmen nach dem Friedensschluß auf das vertraglich festgelegte Maß zurückgeführt werden. Die Schadensersatzleistungen für Scapa Flow sollten nicht ohne Berücksichtigung der durch die verlangte Ablieferung von Hafenmaterialien bedrohten deutschen Schiffahrts- und Handelsinteressen festgesetzt werden. Die weitere Reduzierung der dem Reich verbliebenen modernen Seestreitkräfte glaubte die politische Führung gegen den Protest des Chefs der Admiralität hinnehmen zu müssen166. Unter den gegebenen Umständen überwogen jetzt die Argumente dafür, das Ratifikationsprotokoll zum Versailler Vertrag am 10. Januar 1920 im Uhrensaal des Quai d’Orsay zu unterzeichnen. Der Vertrag trat am gleichen Tag um 16.15 Uhr in Kraft167, während[LII] der Waffenstillstandsvertrag vom 11. November 1918, der bislang als Unsicherheitsfaktor das politische Leben belastet hatte, hinfällig wurde. Der Friedensvertrag erschien den politisch Verantwortlichen geeignet, die Politik des Reichs wieder kalkulierbar zu machen und die Anbahnung normaler Außenbeziehungen, insbesondere der lebensnotwendigen Handelsverbindungen, zu ermöglichen168. Mit seinem Inkrafttreten wurden Fristen in Lauf gesetzt, die sich – z. B. für die Dauer der Besetzung der Rheinlande und für die Periode, in der Deutschland die Gegenseitigkeit im Wirtschaftsverkehr versagt bleiben sollte – bei fortschreitender Verzögerung der Ratifikation zum Nachteil des Reichs immer mehr verlängert hätten. Zweifellos gab es auch Fristen, an deren weiterer Hinausschiebung das Reich ein Interesse haben mußte. Neben den Bestimmungen über die Heeresverminderung, die von seiten des Reichswehrministeriums immer noch für verhandlungsfähig gehalten wurden169, erschien die Frist von einem Monat nach Inkrafttreten des Vertrags, die für die Übergabe der Auslieferungslisten gesetzt war, am brennendsten.

166

Dok. Nr. 124, P. 2; 126; 128; 132.

167

Dok. Nr. 137, P. 2; 145, Anm. 4; 148, P. 1.

168

Dok. Nr. 177.

169

Dok. Nr. 32; 110; 117, P. 1; 172, P. 2.

Vizeadmiral von Trotha hatte schon die Ablieferung von fünf Kreuzern als Schadensersatz für Scapa Flow mit der Auslieferung der deutschen U-Boot-Kommandanten auf eine Stufe gestellt und für diesen Ablieferungsfall bezweifelt, ob er Offiziere und Mannschaften der Marine in der Hand behalten könne170. Am 20. Januar 1920 teilte auch Reichsaußenminister Müller dem Reichskanzler mit, daß, wie er vorausgesehen habe, die Beamten des Auswärtigen Amtes nicht bereit sein würden, bei Auslieferungsverfahren mitzuwirken171. Nicht minder schien im Heer, namentlich in der Umgebung des Generals von Seeckt, die Autorität der Reichsregierung durch Planungen in Frage gestellt, die darauf abzielten, „jeglichen Versuch der Auslieferung an die Entente mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern“172. Nachdem der Leiter der deutschen Friedenskommission, Freiherr von Lersner, und der deutsche Geschäftsträger in Paris, der bisherige Reichsschatzminister Mayer, dem neuen Präsidenten der Friedenskonferenz, dem französischen Ministerpräsidenten Millerand, noch einmal dargelegt hatten, daß man den zu erwartenden Auslieferungsbegehren auf keinen Fall entsprechen könne, erreichte das innen- und außenpolitische Ringen einen Höhepunkt, als die alliierten Auslieferungslisten am 3. Februar 1920 übergeben werden sollten und Freiherr von Lersner ihre Annahme verweigerte173. Die Auslieferungsfrage nahm schließlich – für die Reichsregierung nicht ganz unerwartet174 – am 13. Februar 1920 eine undramatische Wendung, als Lloyd George namens der alliierten Regierungen erklärte, man werde von Auslieferungsverfahren zunächst absehen und die Durchführung von Probeprozessen vor dem Leipziger Reichsgericht abwarten175.

170

Dok. Nr. 127; 137, P. 2; 148, P. 6.

171

Dok. Nr. 152.

172

Dok. Nr. 166, insbesondere Anm. 3.

173

Dok. Nr. 160, P. 2; 161; 163; 164; 166; 168.

174

Dok. Nr. 161, Anm. 2.

175

Dok. Nr. 123, P. 3; 125, P. 6; 170, P. 1.

[LIII] Im innerdeutschen Propagandakampf wog dieser von der Reichsregierung erzielte Erfolg nur gering. Die ersatzweise Aburteilung der sogenannten Kriegsverbrecher durch deutsche Gerichte wurde weiterhin als nationale Demütigung empfunden und im Grunde nur von der USPD vorbehaltlos gutgeheißen. Die unpathetische Erledigung der zu den meistumkämpften Artikeln des Friedensvertrags zählenden Auslieferungsbestimmungen führte weder zu einer Entspannung der innenpolitischen Fronten, noch zu einer Entkrampfung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den Siegermächten. Die Deutschnationalen gingen kein politisches Risiko ein, als sie am 5. März 1920 in der Nationalversammlung gegen das den Alliierten zusätzliche Garantien bietende Ergänzungsgesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen stimmten176. Vor dem Hintergrund materiell sichtbarer Wirkungen des Versailler Vertrags verblaßte der in der Verhinderung von Wirkungen bestehende Sieg der Regierung Bauer.

176

Dok. Nr. 172, P. 1.

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