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Nr. 305
Staatssekretär Bracht an den Reichsminister der Finanzen, den Reichsminister des Innern und den Reichsverkehrsminister. 25. September 1924
R 43 I/2327, Bl. 244-247 Durchschrift
[Stellung Preußens zum Reich]
Vertraulich!
In der gestrigen Sitzung des preußischen Staatsministeriums1 kam wiederholt die Sprache auf die Stellung Preußens zum Reich. Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Angelegenheit möchte ich nicht verfehlen, hierüber im einzelnen zu berichten, wobei ich jedoch vorsorglich die Bitte aussprechen möchte, für den Fall, daß mein Schreiben in Ihrem Ressort einer geschäftlichen Behandlung unterworfen wird, darauf hinzuwirken, daß von seinem Inhalt zwecks Wahrung der unbedingt gebotenen Vertraulichkeit der Verhandlungen[1063] im Preußischen Kabinett nach außen hin kein Gebrauch gemacht werden darf.
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Ein Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des PrStMin. vom 24. 9. befindet sich in R 43 I/2286, Bl. 34f.
Die Aussprache stand stark unter dem Eindruck, daß kurz zuvor im Hauptausschuß des preußischen Landtages beim Haushalt des Ministerpräsidenten nicht nur von der Opposition, sondern auch von Regierungsparteien, und zwar mit besonderer Schärfe von dem Abg. Dr. Leidig (D.V.P.) auf die „Aschenbrödelrolle“ hingewiesen wurde, die Preußen angeblich dem Reich gegenüber spiele, und in Verbindung damit wurde auf das „Vorbild“ Bayerns hingewiesen, das seine Selbständigkeit energisch und stets mit Erfolg zu wahren wisse. Wenngleich aus der Mitte des preußischen Kabinetts heraus demgegenüber mit Recht ausgeführt wurde, daß, wenn Preußen sich in seinem Verhältnis zum Reich Bayern zum Muster nehmen wollte, der Reichsgedanke einfach binnen kurzem zerschlagen sei, so war doch andererseits nicht zu verkennen, daß bei der Beratung der sehr reichhaltigen Tagesordnung verschiedentlich immer wieder der Gedanke stärker wie bisher Ausdruck fand, man müsse den Wünschen des Reichs zur Wahrung des preußischen Standpunktes in Zukunft nur mit stärkerer Zurückhaltung begegnen. Als beispielsweise bekannt wurde, daß Bayern bereits den Beitritt zu einer „Vereinigung staatlicher Arbeitgeber“ abgelehnt hätte, wurde preußischerseits beschlossen, dieser unter Führung des Reichs stehenden Organisation nur unter der Bedingung beizutreten, daß sämtliche deutschen Länder sich ebenfalls anschlössen. Ebenso wurde die Frage, ob Preußen in der Festsetzung der Arbeitszeit der Beamten sich nunmehr endlich den Bestimmungen des Reichs anschließen wolle2, rundweg und endgültig abgelehnt.
Bei der Erörterung des Entwurfs einer Ehrenurkunde für Rettung aus Lebensgefahr kam zur Sprache, daß eine Reihe von Ländern entgegen dem Artikel 109 der Reichsverfassung bereits Rettungsmedaillen verliehen und auch im übrigen – z. B. in punkto Charakterverleihungen (Bayern) – Artikel der Reichsverfassung sehr large interpretierten3. Darauf bestand sehr große Neigung, auch preußischerseits nunmehr eine Wiederverleihung der Rettungsmedaille ins Auge zu fassen mit der Begründung, daß, wenn die Reichsregierung derartige „Auslegungen“ der Reichsverfassung hinnähme, Preußen keinen Anlaß habe, sich auf einen besonders strengen Standpunkt zu stellen. Auf meine Anregung hin wurde dann beschlossen, zunächst noch einmal in dieser Angelegenheit schriftlich mit der Reichsregierung ins Benehmen zu treten. Gleichzeitig trat ich einer Bemängelung des preußischen Innenministers entgegen, der rügte, daß der Beschluß auf Grund der gemeinsamen Besprechung des preußischen und Reichskabinetts über die Frage der Amtsbezeichnungen4 noch keinen Erfolg gezeitigt hätte, und wies darauf hin, daß seitdem die Reichs- und preußischen Ressorts gemeinsam wiederholt über die Frage beraten hätten, mußte dann allerdings die Replik hinnehmen, daß derartige kommissarische Beratungen durchaus nicht immer eine Förderung der[1064] Angelegenheit bedeuteten. Auch bei der Frage der Bereitstellung von Mitteln zur Linderung der durch Ernteausfälle hervorgerufenen Notstände in der Landwirtschaft wurde sehr stark das mangelnde Entgegenkommen der Reichsregierung gerügt und beschlossen, erneut und sehr energisch in dieser Frage nochmals an das Reich heranzutreten.
Endlich trat bei der Beratung von Personalfragen eine Verstimmung darüber zu Tage, daß man Bayern wiederum bei der Besetzung des Verwaltungsrats der Reichsbahn nachgegeben habe. Es wurde beschlossen, auf Grund des Staatsvertrags mit dem Reiche über den Übergang der Eisenbahn und des Zusatzabkommens vom 25. März 1924 mit allem Nachdruck darauf zu bestehen, daß der preußische Personalvorschlag wegen der Besetzung eines Direktorpostens bei der Reichsbahn angenommen würde5.
In diesem Zusammenhang gewinnt auch die überraschend schroffe Haltung des preußischen Ministerpräsidenten in der gestern vormittag unter dem Vorsitz des Herrn Reichskanzlers stattgehabten Chefbesprechung wegen der künftigen Unterbringung des neuen Aufsichtsministeriums für die Reichsbahn6 eine erhöhte Bedeutung. Die Verstimmung Preußens ist zweifellos nicht spontan und nur vorübergehender Art, vielmehr wird sie, wie ich fürchte, gelegentlich mal recht unangenehm in die Erscheinung treten, wenn es nicht gelingt, mit allen Kräften auf eine Besserung der Beziehungen hinzuarbeiten und die preußische Staatsregierung von dem Gedanken abzubringen, daß ihre oft bewiesene Reichstreue sich so schlecht lohne.
Dem Herrn Reichskanzler habe ich über die Angelegenheit Vortrag gehalten7.
gez. Bracht