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[Annahme der Einladung zur Locarno-Konferenz; Kriegsschuldfrage, Räumungsfrage, Sicherheitspakt, Eintritt in den Völkerbund]
Der Herr Reichspräsident eröffnet um 11.10 Uhr die Sitzung und ersucht Herrn Reichsminister Dr. Stresemann, nochmals im Zusammenhang die Entwicklung der Frage des Sicherheitspaktes und die vom Kabinett in Aussicht genommenen Schritte vorzutragen.
Reichsminister Dr. Stresemann legt die Ergebnisse der Londoner Juristenkonferenz2 im einzelnen dar und führt weiter aus:
Die bisherigen Beratungen des Kabinetts haben einheitlich den Beschluß ergeben, die Einladung zur Konferenz anzunehmen. Es ist aber als wünschenswert und notwendig erachtet worden, zugleich mit Annahme der Einladung[568] deutscherseits zu zwei Fragen eine Erklärung abzugeben, um die innere Gleichberechtigung Deutschlands klarzustellen. Die eine Frage ist die der Schuld am Kriege, die zweite die vertragswidrige Nichträumung der ersten Rhein-Zone. Dr. Stresemann verliest den Entwurf der Erklärung (Anlage)3. Diese Erklärung soll zugleich mit der Antwort auf die Einladung4 übergeben werden, die rein formell zum Ausdruck bringt, daß die deutsche Regierung die Einladung zur Ministerzusammenkunft in der Schweiz annimmt und hierfür den 5. Oktober vorschlägt. Es ist kein Zweifel, daß wir mit dieser Erklärung ein großes außenpolitisches Risiko übernehmen. Die Erklärung gegen die Schuldlüge, welche die Regierung Marx seinerzeit öffentlich abgegeben hat5, war nicht notifiziert worden, weil die französische wie die englische Regierung erklärt haben, eine solche Notifizierung nicht anzunehmen oder sie sofort zurückzusenden, was einen Konflikt bedeutet hätte. Deshalb muß die Form unseres Vorgehens eine solche sein, daß wir nicht in den gleichen Konflikt geraten und daß am besten überhaupt keine Antwort von der anderen Seite erfolgt. Im übrigen sind wir in der ganzen Welt wegen der Kriegsschuldfrage in der Offensive und im guten Fortschreiten, und zwar in dem Sinne, daß immer mehr Poincaré als der Kriegsschuldige erscheint; umsomehr müssen wir vermeiden, daß diese Erklärung einen Rückschlag gegen uns bedeutet und daß wir wieder als Störenfried dargestellt werden. Darum ist die Erklärung vorsichtig gefaßt; es ist Bezug genommen auf ein deutsches Dokument, das den fremden Mächten zugegangen ist, nämlich das Memorandum vom September 19246, in welchem wir unseren Standpunkt im Völkerbund im Zusammenhang darlegten, und ist weiter Bezug genommen auf die öffentliche Kundgebung des Reichskanzlers Marx vom 30. August 1924 über die Schuld am Kriege7. Ich hoffe deshalb, daß dieser Schritt, der nicht durch zu starke Töne der deutschen Presse begleitet werden darf, vor sich gehen kann, ohne daß mehr als eine zeitweilige Verstimmung und Verschärfung der politischen Lage sich ergibt. Allerdings sind die Herren meines Amts der Auffassung, daß unter Umständen eine scharfe und ablehnende Antwort von der Gegenseite erfolgt, welche die Konferenz erschweren kann. Auf der anderen Seite aber müssen wir die seelische Bedrückung und Belastung unseres Volkes ausräumen, ehe wir zu einer wirklichen Verständigung kommen können.
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Liegt obigem Protokoll nicht bei. Zum Inhalt s. Anm. 1 und 9 zu Dok. Nr. 159. Die folgenden Ausführungen Stresemanns deuten darauf hin, daß der ihm vorliegende Entw. weitgehend mit der Endfassung des dt. Memorandums vom 26. 9. übereinstimmt. Das Memorandum ist gedr. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 22.
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S. Anm. 8 zu Dok. Nr. 159.
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S. unten Anm. 7.
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Dt. Memorandum an die Ratsmächte des Völkerbundes vom 29.9.24. S. dazu Anm. 17 zu Dok. Nr. 62.
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Diese Kundgebung wurde am 29.8.24 durch WTB verbreitet; ihre Veröffentlichung in der Tagespresse erfolgte am 30.8.24. Zum Inhalt s. Anm. 7 zu Dok. Nr. 158.
Der zweite Teil der Erklärung, die Räumung der ersten Rheinlandzone, ist weniger ernst; hier handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit. Was die Vertretung Deutschlands auf der Konferenz anlangt, so ist das Kabinett in seiner Vorbesprechung dahin übereingekommen, daß der Reichskanzler und der[569] Reichsaußenminister das Reich vertreten sollen8; ein einzelner deutscher Delegierter wäre schon physisch nicht in der Lage, alle Dinge durchzukämpfen und die Verantwortung für alles zu tragen. Die fremden Regierungen haben keine Bedenken gegen diese Vertretung.
Bei den einzelnen Fragen des Sicherheitspaktes wird es sich im wesentlichen um folgendes handeln:
Die von der Gegenseite vorgeschlagene Präambel kann von uns nicht angenommen werden, entweder muß sie ganz wegfallen, oder der Passus vom Status quo muß so geändert werden, daß darin kein dauernder Verzicht auf deutsches Gebiet liegt9. In der Frage der Möglichkeit der Kündigung des Sicherheitspaktes10 werden wir den Standpunkt vertreten, daß allein von deutscher Seite, nicht erst von zwei Mächten, diese mittelbare Kündigung erfolgen kann. Gerade wegen der Konstruktion des ewigen Friedens und der Schlußfolgerung eines Verzichts auf Elsaß-Lothringen hierbei ist es notwendig, daß ein Kündigungsrecht, wenn auch nur ein mittelbares, hier eingefügt wird, damit der Charakter der ewigen Dauer beseitigt ist. Weiter muß der Pakt Rückwirkung haben für das jetzige Besatzungssystem am Rhein, sowohl für die Dauer, die Höhe des Truppenkontingents als auch [für] das Delegiertensystem und die Eingriffe in die deutsche Verwaltungshoheit. Unbedingt abgelehnt werden muß jede Verbindung dieses Paktes mit einem Ostpakt, insbesondere auch mit einer Garantie Frankreichs für einen solchen11. Wenn wir Schiedsgerichtsverträge mit Polen abschließen, so können es nur Schiedsgerichtsverträge nach unserem Muster, d. h. lediglich zur Erledigung von Rechtsstreitigkeiten sein12. Weiter kommt für die Verhandlung in Frage die Erreichung der vorzeitigen Rückkehr des Saargebiets. Ferner müssen wir sicherstellen, daß Artikel 16 des Völkerbundstatuts nur insoweit Anwendung findet, als wir selbst das Maß unserer Beteiligung bestimmen; ferner, daß das „Investigationsrecht“ des Völkerbunds beseitigt wird13. Im Zusammenhang mit der Räumung der Kölner Zone werden auch die Fragen der Entwaffnung und der Luftfahrtnote14 erledigt[570] werden können. Hierüber ist das Kabinett im allgemeinen einmütiger Auffassung.
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Gemeint ist die Präambel zum Sicherheitspaktentwurf der Londoner Juristenkonferenz vom 4.9.25. S. Anm. 9 zu Dok. Nr. 158.
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S. Anm. 10 zu Dok. Nr. 158.
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Forderung der frz. Note an die RReg. vom 16.6.25. S. Anm. 3 zu Dok. Nr. 110. Vgl. auch Anm. 11 zu Dok. Nr. 158. Hoesch berichtet am 29. 9. über ein diesbez. Gespräch mit Briand: Er, Hoesch, habe dabei erklärt, „daß hierüber offenbar Hauptstreit entbrennen würde, da deutsche Regierung derartige Garantie kaum würde annehmen können. Briand meinte, auch er halte diesen Punkt für den kritischsten. Frankreich könne aber keinesfalls seine Bundesgenossen sitzen lassen und müsse deshalb an Garantie-Idee festhalten. Vielleicht werde sich aber Lösung durch sachgemäßes Einfügen Völkerbundes finden.“ (Telegramm Nr. 696 in R 43 I/445, Bl. 3-5).
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Über den Unterschied zwischen den von Dtld. angestrebten und den von Frankreich geforderten Schiedsverträgen s. die Ausführungen des MinDir. Gaus in der Ministerbesprechung vom 24. 6. (Dok. Nr. 110, dort auch Anm. 34).
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Betrifft Art. V des „Organisationsplanes für die Ausübung des Untersuchungsrechts“ (nach Art. 213 des VV), der am 27.9.24 vom Völkerbundsrat angenommen worden war. S. dazu Anm. 2 zu Dok. Nr. 50.
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Hierbei handelt es sich wohl um die Note der Botschafterkonferenz vom 24.6.25, die durch „Neue Regeln zur Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Luftfahrzeugen“ die bisher geltenden Bestimmungen der all. Note vom 14.4.22 (s. Anm. 15 zu Dok. Nr. 96) abgelöst hatte. Die Note ist gedr. in: Schultheß 1925, S. 408 f. Nähere Einzelheiten s. in Anm. 18 zu Dok. Nr. 170.
Der Herr Reichspräsident stellt durch Fragen fest, daß das Kabinett grundsätzlich in diesen Fragen mit dem Außenminister übereinstimmt und ersucht, nunmehr in die Beratung der abzugebenden Erklärung und unserer Vertretung auf der Konferenz einzutreten. Der Herr Reichspräsident führt hierbei aus:
Was die abzugebende Erklärung anlangt, so hätte ich sehr gewünscht, daß wir eine deutlichere und schärfere Sprache in unserer Erklärung gesprochen hätten, aber ich kann den Gründen, die gegen eine schärfere Sprache sind, mich nicht verschließen. Auf alle Fälle bitte ich aber, daß die klare und deutliche Erklärung des Reichskanzlers Marx vom 30. August 1924 in diesem Zusammenhang und mit dieser Note in der deutschen Öffentlichkeit bekanntgegeben wird15. Ferner bitte ich, daß wir in der Note, wenn von dem Eintritt in den Völkerbund die Rede ist, hier das Wort „etwaig“ beifügen, um uns die Freiheit des Handels zu wahren16.
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Wesentliche Teile der Erklärung Marx’ (s. Anm. 7) werden am 30.9.25 in der Presse abgedruckt (s. z. B. „Tägliche Rundschau“).
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In der Endfassung lautet der entsprechende Passus des dt. Memorandums vom 26.9.25 (s. Anm. 3): „Sie [die RReg.] wiederholt aus diesem Memorandum [vom 29.9.24, s. oben Anm. 6] die Erklärung, daß der etwaige Eintritt Deutschlands in den Völkerbund nicht so verstanden werden darf, als ob damit die zur Begründung der internationalen Verpflichtungen Deutschlands aufgestellten Behauptungen anerkannt würden, die eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schließen.“
Der Herr Reichskanzler Wir müssen drei Dinge unterscheiden, einmal die großen außenpolitischen Ziele, dann den erhofften Nutzen für das Rheinland, und drittens die Schritte, die wir mit dieser Erklärung bei Annahme der Einladung tun. Das Kabinett ist einmütig der Auffassung, daß der außenpolitische Nutzen darin besteht, daß Deutschland einen rechtlichen Schutz gegen neue Invasion und Anschläge Frankreichs bekommt, daß England von der einseitigen Verbindung mit Frankreich losgelöst und in eine Rolle überführt wird, in der es außerhalb der politischen Gestaltung des Kontinents steht. Was den Nutzen für das Rheinland anlangt, so besteht er in der Räumung der ersten Zone und in fühlbaren Erleichterungen für die zweite und dritte Zone. Schließlich erscheinen mir die Schritte, die wir jetzt gleich vorhaben, auch als ein gewisses Wagnis; es wäre zweifellos ein Rückschlag, wenn wir hier eine scharf ablehnende Antwort bekämen. Trotzdem bin ich der Meinung, daß wir aus inneren wie äußeren Gründen den Schritt machen müssen und zwar jetzt machen müssen. Der Ton dieser Verbalnote muß dem diplomatischen Ton und Zweck angepaßt werden, schon damit wir keine scharfe Antwort, sondern womöglich gar keine bekommen. Ein endgültiges Ergebnis werden die jetzigen Verhandlungen in der Schweiz noch nicht haben, aber sie werden die Grundlage für diese Entscheidung bilden und ich bin darum auch der Meinung, daß sowohl der Reichskanzler und der Außenminister hierbei das Reich vertreten sollen.
Der Herr Reichspräsident Ich bin dem Herrn Reichskanzler dankbar, daß er mit zur Konferenz geht und seine ursprünglichen Bedenken hat zurücktreten[571] lassen17. Die Erklärung vor Beginn der Verhandlung müssen wir trotz Bedenken abgeben, damit wir endlich damit anfangen, die Schmach, die uns auferlegt ist, abzuschütteln.
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Hindenburg hatte Luther schon Ende August 1925 mitteilen lassen, er lege „größten Wert darauf, daß zu einer eventuellen späteren Ministerkonferenz auch der Herr Reichskanzler selbst mitfahren.“ (Schreiben des MinR Doehle vom Büro des RPräs. an den RK vom 28. 8. in R 43 I/425, Bl. 109).
Reichsminister Dr. Brauns: Wir sind mit dem Herrn Reichspräsidenten der Meinung, daß wir die Aufgabe haben, Deutschland einer freieren Zukunft entgegenzuführen; das kann aber bei unserer Waffenlosigkeit nur Schritt für Schritt geschehen und bedarf großer politischer Mäßigung und Geduld. Wir sind in den letzten Jahren schrittweise schon etwas vorwärts gekommen, besonders durch die Londoner Abmachungen, deren Unterschrift uns auch sehr schwer geworden ist. Was wir jetzt tun wollen, ist eine neue Etappe. Wir können diesen Schritt nur tun, wenn wir für das Rheinland wesentliche Vorteile erreichen, ohne unsererseits nochmals formell Verzichte und Bindungen auf uns zu nehmen. Ich glaube, daß dies zu erreichen ist, weil bei den gegnerischen Staaten ein gewisses Bedürfnis zu einer Verständigung besteht; für dieses Bedürfnis ist bestimmend die wirtschaftliche Notlage in der ganzen Entente; hierbei spielt Amerika auch eine Rolle, da es die politische Befriedung Europas wünscht. Caillaux wird mit seinen Finanzreformbestrebungen in Frankreich nicht durchdringen, ehe nicht diese Verständigung erreicht ist. Bei uns ist das gleiche Bedürfnis nach wirtschaftlicher Verständigung vorhanden; wir bewegen uns immer noch am Rande der Gefahr, in eine neue Inflation hineinzukommen, die den Untergang Deutschlands bedeuten würde. Wir haben daher auch ein Interesse daran, zu einer gewissen Friedensatmosphäre zu gelangen, die uns eine wirtschaftliche Verständigung ermöglicht. Das sind die Leitgedanken, die mich bestimmen, auch das Risiko zu übernehmen, das beim Eintritt in den Völkerbund liegt, und das auch die Gefahr mit sich bringt, uns zum Bundesgenossen der Entente gegen Rußland zu machen. Dieses Risiko zwingt uns, gewisse Reservationen für unseren Eintritt in den Völkerbund zu machen. Ich hoffe, daß dies gelingt und damit die Möglichkeit eines Bruches mit Rußland vermieden wird. Ich glaube also, daß wir mit diesen beabsichtigten Maßnahmen wichtige Schritte nach vorwärts tun und stimme damit zu.
Reichsminister Dr. Schiele: Ich lasse mich auch nur davon leiten, daß hier die Möglichkeit gegeben ist, die außenpolitische Lage für uns günstig zu klären, und daß wir dieses Mittel zur Klärung, die Konferenz, nicht ablehnen dürfen. Um aber die psychologische Voraussetzung zu gewinnen, lege ich allergrößten Wert darauf, daß wir uns nicht unabhängig machen von der Stimmung im deutschen Volke. Daß das deutsche Volk auch hinter diesen Abmachungen steht, kann nur erreicht werden, wenn wir die Last der Schuldfrage von uns abschütteln. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich es gewünscht hätte, daß der Widerruf der Schuldlüge eine prägnantere Form gefunden hätte. Ich habe mich aber der hier vorgetragenen Auffassung gebeugt, damit Schaden vermieden wird. Ich bitte aber, den Anregungen des Herrn Reichspräsidenten bei der[572] Schlußredaktion Rechnung zu tragen. Im einzelnen stimme ich Stresemanns Vorbehalten und Bestimmungen zu und nehme auch an, daß die Besprechungen der Minister in der Schweiz nicht das Reich schon festlegen werden. Es wird aber nicht leicht sein, hier wirkliche Bindungen zu vermeiden, wenn der verantwortliche Leiter der Reichspolitik, der Reichskanzler, an den Besprechungen teilnimmt. Ich nehme weiter an, daß das von uns abzugebende Memorandum später auch den übrigen Signatarmächten des Versailler Vertrages zur Kenntnis gebracht wird. Ich lege auch großen Wert darauf, daß man bei den Verhandlungen zu einer Revision des Rheinlandabkommens18 kommt, sonst wäre es nicht wert, von einem Friedensvertrag zu sprechen. Wichtig ist auch die Präambel für die Frage eines auch nur zeitweisen Verzichts auf deutsches Land und Volk; es muß versucht werden, hier die Fassung zu erreichen, daß wir nur für gewisse Zeit auf einen Angriff und einen Krieg zur Änderung der Westgrenzen verzichten, nicht aber unseren Anspruch auf deutsches Gebiet preisgeben. Wenn ferner erreicht wird, daß alle Rechts- und Streitfragen, die sich aus dem Versailler Vertrag ergeben, einem Schiedsgericht unterbreitet werden, so sehe ich darin einen entscheidenden Punkt. Die Kündigungsmöglichkeit ist ebenfalls von Bedeutung, weil sie eine zeitliche Beschränkung darstellt und damit der Auffassung von einem Verzicht auf Elsaß-Lothringen entgegentritt. Ich bitte auch, bei den Verhandlungen festzustellen, daß die Erfüllung der Reparationsverpflichtungen nicht zu den internationalen politischen Verpflichtungen zu rechnen ist, deren Erfüllung wir beim etwaigen Eintritt in den Völkerbund versprechen. Jede Verbindung dieses Pakts mit einem Ostpakt und jede Garantie östlicher Verträge durch Frankreich muß unbedingt ausscheiden. Wenn es sich nicht vermeiden läßt, daß wir mit Polen Verträge abschließen, so müssen sie sich beschränken auf die schiedsgerichtliche Erledigung von Rechtsstreitigkeiten. Wesentlich für unseren Eintritt in den Völkerbund ist auch die Frage der allgemeinen Abrüstung, die hier angeschnitten werden muß. Selbstverständlich ist, daß der ganze perniziöse Inhalt des Artikel 16 auf uns keine Anwendung finden kann. Im übrigen halte ich es auch für selbstverständlich, daß in Verbindung mit einem solchen Pakt eine Erleichterung für die zweite und dritte Rheinlandzone erreicht wird.
Der Herr Reichspräsident Ich glaube, daß alle diese Forderungen schon in den Darlegungen des Ministers Stresemann zugestanden sind, bis auf die Frage der allgemeinen Abrüstung, deren Behandlung aber schon bei früheren Gelegenheiten von uns verlangt wurde19.
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S. das amtliche Kommuniqué der RReg. über den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund vom 23.9.24 sowie das Memorandum der RReg. an die im Völkerbundsrat vertretenen Mächte vom 29.9.24 in: Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1371 a/b; s. auch Schultheß 1924, S. 83 und 85 ff.
Reichsminister Dr. Stresemann stimmt dem Reichsminister Schiele dahin zu, daß die Reparationsverpflichtungen nicht zu den vorgenannten internationalen politischen Verpflichtungen zu rechnen sind.
Reichsminister Graf Kanitz: Ich bin auch dafür, daß wir die besprochene Erklärung bei Annahme der Einladung abgeben, bin allerdings in großer Sorge,[573] daß die Entente uns eine unfreundliche Antwort darauf gibt, die eine kritische Situation schafft. Für mich als Ostmärker ist es entscheidend, daß unsere Unterhändler bestimmt und von vornherein ablehnen, in irgendwelche Verbindungen der Ostfrage mit diesen Verhandlungen einzutreten oder irgendwie über die Garantie Frankreichs für Polen zu debattieren. Daran müßte unter allen Umständen der Pakt scheitern. Es ist eigentlich eine Unverschämtheit von Polen, das sich jetzt den Deutschen gegenüber so unglaublich verhält, den Wunsch nach einem Schiedsvertrag mit uns zu äußern. Ich möchte ausdrücklich hier festlegen, daß die einmütige Meinung des Kabinetts dahin geht, es muß von vornherein jede Verbindung von Ostfragen mit den hier schwebenden Fragen abgelehnt werden. Ich bin ferner der Meinung, daß wir auch bei den Wirtschaftsverhandlungen Polen keine Konzessionen machen sollten.
Reichsminister Dr. Krohne bittet, bei den Verhandlungen auch die Luftfahrtfrage mit zu regeln; auch hier müssen wir volle Gleichberechtigung erhalten und von den bisherigen ungerechten Begriffsbestimmungen20 loskommen.
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S. Anm. 14.
Reichsminister Dr. Stresemann stimmt dem zu.
Reichsminister Dr. Geßler: Der ganze Komplex der Ressortfragen muß noch zusammengestellt und sorgfältig beraten werden. Auch die Entwaffnungsfrage muß von der interalliierten Kontrollkommission losgelöst und auf dem diplomatischen Wege erledigt werden. Im übrigen bin ich mit Stresemanns Vorschlägen einig. Jeder Gedanke, daß wir auf deutschen Boden verzichten, muß schroff abgelehnt werden; auch aus dem parteipolitischen Kampf muß die Debatte über diesen Verzicht verschwinden.
Der Herr Reichskanzler schlägt vor, daß die Ausführungen Stresemanns durch einen Ausschuß des Kabinetts, nämlich die Reichsminister Dr. Brauns, Dr. Stresemann und Schiele unter Vorsitz des Reichskanzlers zusammengestellt und formuliert werden, so daß sie in der nächsten Woche als formelle Kabinettsbeschlüsse herausgehen können21.
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Hierzu keine weiteren Hinweise in den Akten ermittelt. Gemeint ist wohl die Formulierung der Richtlinien für die Locarno-Konferenz, die das Kabinett am 2.10.25 annimmt. S. Dok. Nr. 170, P. 4, dort bes. Anm. 24.
Der Herr Reichskanzler sagt auf Anfrage des Herrn Reichspräsidenten ausdrücklich zu, daß bei Veröffentlichung der Verbalnote die scharfe Kundgebung der Regierung Marx vom 30. August 1924 im Zusammenhang mit veröffentlicht wird22.
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S. Anm. 15.
Der Herr Reichspräsident bittet das Kabinett, mit tunlichster Beschleunigung sich erneut mit der Frage der Teuerung zu befassen und kräftig wirksame Maßnahmen zu ergreifen.
Der Herr Reichskanzler begrüßt diese Äußerung des Herrn Reichspräsidenten und erklärt, daß diese Äußerung mit dazu verwandt werden könne, Widerstände, die der Preisabbau überall noch finde, zu überwinden. Die Reichsregierung stehe gegenwärtig in erneuten Beratungen, die morgen nachmittag mit den Landesregierungen weiter fortgesetzt werden23.
Um 1.05 Uhr schließt der Herr Reichspräsident die Sitzung.