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1. Vorbereitung der Besprechung mit den Staats- und Ministerpräsidenten über Reich und Länder1.
Vor Eintritt in die eigentlichen Erörterungen wies Staatssekretär Dr. v. Schubert darauf hin, daß aus außenpolitischen Gründen eine gewisse Vorsicht bei den Verhandlungen, insbesondere in den etwa zu fassenden Entschließungen nötig sei.
Staatssekretär Dr. Popitz betonte, daß auch die reparationspolitische Seite der zur Verhandlungen stehenden Fragen beachtet werden müsse.
Der Reichskanzler legte kurz dar, um welche großen staatspolitischen Fragen es sich handle. Er führte aus, daß das Ziel aller Bestrebungen seines Erachtens in dem dezentralisierten Einheitsstaat zu erblicken sei. Die Provinzen bzw. Länder müßten mit weitgehender Selbstverwaltung ausgestattet werden und entweder ihr Parlament verlieren oder eine Vertretung nach Art des Provinziallandtages erhalten. Den wirklichen Sinn des Föderalismus sehe er in einer Zusammenfassung der Stammeseigentümlichkeiten und in ihrer Erhaltung.
Im übrigen solle man aber eine Entwicklung zum dezentralisierten Einheitsstaat im wesentlichen von selbst sich gestalten lassen.
Der Stellvertreter des Reichskanzlers führte aus, daß nach seiner Auffassung zweierlei nötig sei und auch erreicht werden könne,
a) die Länder müßten im Wege des Ausgleichs zu Vereinbarungen z. B. über die einheitliche Ausbildung der Juristen und über ähnliche Fragen kommen,
b) das Reich müsse den Ländern einen Teil ihrer Hoheit abnehmen, wenn die Länder auf Teile der Hoheit verzichten wollten.
Im übrigen müsse man sehr vorsichtig vorgehen, insbesondere müsse auch die Frage einer etwaigen Einschränkung der Etatsrechte der Länder durch das Reich mit äußerster Vorsicht behandelt werden.
Der Reichspostminister wies darauf hin, daß am brennendsten die Frage einer Behebung der Finanznot der Länder sei. Eine Lösung erblicke er darin,[1218] daß das Reich den notleidenden Ländern helfe, dafür aber gewisse Aufsichtsbefugnisse über diese Länder erhalte, und zwar nach österreichischem Schema. Im übrigen stimme er mit dem Reichskanzler darin überein, daß möglichste Dezentralisation anzustreben sei.
Der Reichsarbeitsminister erklärte, daß man Gegenwarts- und Zukunftsfragen unterscheiden müsse. Bei letzteren müsse man vorbeugend wirken, damit nicht Wege eingeschlagen würden, die verhängnisvoll sein könnten.
Man könne nicht sogleich den dezentralisierten Einheitsstaat durchführen, aber auch nicht wieder zum Aufbau des Reichs gemäß der Bismarckschen Reichsverfassung zurückkehren. Gegen dieses letztgenannte Ziel sprächen vor allem folgende beiden Gründe:
a) die Länder hätten jetzt ganz andere Aufgaben als früher;
b) das Reich sei heute nicht mehr ein verlängertes Preußen.
Ein Anschluß Österreichs werde dann leichter möglich sein, wenn die Länder sich möglichst gleichberechtigt gegenüberständen. Er sei gegen die Hegemonie irgend eines Landes. Die Aufteilung Deutschlands in drei große Länder, die Bildung einer Trias, sei gefährlich. Vermeiden müsse man den Begriff der Souveränität der Länder. Das Wort „Provinz“ in Bezug auf die Länder solle man nicht einmal bildlich gebrauchen, sondern vielmehr auch mit Rücksicht auf die künftige Entwicklung an der Bezeichnung „Länder“ festhalten.
Auch er halte es für zweckmäßig, den notleidenden Ländern einen Teil ihrer Aufgaben abzunehmen und würde es begrüßen, wenn eine einheitliche Reichsjustizverwaltung geschaffen würde.
Der Reichswirtschaftsminister führte aus, er halte es für die Pflicht gerade der jetzigen Regierung, die deutsche Frage zu lösen oder ihre Lösung entscheidend vorzubereiten. Die Lösung erblicke er in einem dezentralisierten Einheitsstaat. Er wisse nicht, ob es nicht möglich sein könnte, diesen Gedanken als Auffassung des Reichskabinetts auszusprechen. Vielleicht könne man sich Schritte überlegen, ob und inwieweit der Artikel der Reichsverfassung, der den Zusammenschluß von Ländern vorsehe2, abgeändert werden könne. Die Grundlage für den dezentralisierten Einheitsstaat solle man zum mindesten schon jetzt sorgfältig vorbereiten. Auch müsse man sich sehr überlegen, ob man nicht dieses Problem in der Länderkonferenz in den Vordergrund stellen solle.
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Art. 18 RV.
Der Reichsminister des Innern erklärte, daß er hier große Schwierigkeiten sehe. Es müsse besonders beachtet werden, daß man kurz vor den Neuwahlen stehe und daß infolgedessen viele Rücksichten nehmen zu müssen glaubten, die sie sonst vielleicht nicht nehmen würden. Im übrigen wolle er nur erwähnen, daß er mit den deutschnationalen Richtlinien über die Verfassungsreform3 nicht übereinstimme.
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Gemeint ist eine Entschließung der DNVP zur Verfassungsreform, die von der deutschnationalen Parteivertretung am 9.12.27 angenommen worden war. In dieser Entschließung wird der „unitarische Einheitsstaat“ abgelehnt, desgleichen die Umwandlung von Ländern zu Reichsländern oder Reichsprovinzen. Die DNVP wolle „unbeschadet ihrer monarchischen Gesinnung zur Gesundung der Staatswirtschaft die geltenden deutschen Verfassungen durch Weiterentwicklung zu konstitutionellen Regierungsformen, wie sie auch in anderen Republiken bestehen, verbessern. Sie fordert zu diesem Zwecke: a) Die Alleinherrschaft der Parlamente ist durch Ausbau der verfassungsmäßigen Rechte des Reichspräsidenten und der Staatspräsidenten einzuschränken (Berufung und Entlassung der Minister unabhängig von der Parlamentsmehrheit, Einspruchsrecht gegen Parlamentsbeschlüsse). b) Unter dieser Voraussetzung ist der Dualismus von Reich und Preußen dadurch zu überwinden, daß der Reichspräsident zugleich preußischer Staatspräsident wird. Dann können die Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten in einer Hand vereinigt werden. […] Die besondere Stellung der süddeutschen Länder ist zu sichern. c) Die gesetzgeberischen Rechte des Reichsrats sind zu stärken.“ Gefordert wird ferner: eine bindende Vorschrift, die über Regierungsvorlagen hinausgehende Ausgabenbewilligungen verhindert; eine Erweiterung der Befugnisse des RSparkom.; eine scharfe Abgrenzung der Aufgabenkreise des Reichs, der Länder und der Selbstverwaltungskörper; eine Beschränkung der Staatstätigkeit auf wirtschaftlichem Gebiet; ein Finanzausgleich, der den Ländern und Selbstverwaltungskörpern ausreichende eigene Steuereinnahmen beläßt. Text der Entschließung in: Ursachen und Folgen, Bd. VII, S. 113 f.
[1219] Wenn man das Ziel des dezentralisierten Einheitsstaats in der Länderkonferenz aufstelle, so sei sehr stark eine Zurückweisung durch die süddeutschen Länder Bayern, Baden und Württemberg zu besorgen4. Gewiß bestehe auch die Gefahr des Zusammenschlusses der Länder in einer Weise, daß das Deutsche Reich in die 3 großen Länderkomplexe Nord-, Mittel- und Süddeutschland zerfalle. Diese Gefahr müsse tunlichst vermieden werden. Gegen den Anschluß Waldecks, Schaumburg-Lippes und Lippes an Preußen habe er keine Bedenken. Was das Übergewicht Preußens anlange, so sei dieses geschichtlich gegeben und könne deshalb schwer geändert werden. Vielleicht könne man aber eine Bestimmung analog dem Art. 70 der alten Reichsverfassung erwägen, wonach Verfassungsänderungen gegen eine bestimmte Stimmenzahl im Bundesrat als abgelehnt galten5, und etwas ähnliches als Sicherung der süddeutschen Länder gegen ein zu großes Überwiegen des preußischen Einflusses einzuführen suchen6.
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Zahlreiche Berichte der Reichsvertretung in München über bayer. Stellungnahmen zum Reich-Länder-Problem aus der Zeit vor der Länderkonferenz in R 43 I/2248 und 2249.
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Gemeint ist Art. 78 der RV von 1871: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich haben. Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.“
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Im Hinblick auf die bevorstehende Länderkonferenz unterbreitete RIM v. Keudell in einem Schreiben an den RK vom 14.1.28 den „vertraulichen Vorschlag“, der RK möge bei den ihm „nahestehenden Herren des Preußischen Staatsministeriums inzwischen sich erkundigen, ob und was für Vorschläge etwa seitens des Preußischen Staatsministeriums am 1. Tage [der Länderkonferenz, d. h. am 16. 1.] hinsichtlich der Verfassungsreform in Aussicht genommen sind. Ich [Keudell] könnte mir z. B. denken, daß eventuell Herr Ministerpräsident Braun plötzlich das Angebot macht, Süddeutschland völlig sich selbst zu überlassen, im übrigen aber Preußen als Reichsland in einem einheitlichen großen Norddeutschland aufgehen zu lassen. Vom Standpunkt der Reichsregierung wäre es naturgemäß erwünscht, über etwaige überraschende Vorschläge in der Konferenz, wenn es möglich erscheint, vorher orientiert zu sein […].“ Auf dem Rand dieses Schreibens vermerkte StS Pünder: „Es erscheint mir recht bemerkenswert, daß dem federführenden Ressort 1½ Tage vor Beginn der Konferenz solche Ideen kommen und [es] die Erledigung dann noch an den Herrn Reichskanzler abschieben möchte. Im übrigen sind die Bedenken nach meiner genauen Kenntnis gänzlich unbegründet; zu veranlassen ist daher nichts. Der Herr Reichskanzler hat Kenntnis.“ (R 43 I/1875, Bl. 16–17).
Hinsichtlich der positiven Stellungnahme zu den einzelnen Problemen solle man von seiten der Reichsregierung nach seiner Auffassung nicht weiter gehen, als Exzellenz Hergt es angedeutet habe.
[1220] Der Reichspostminister betonte, daß als Programm der Reichsregierung unmöglich der dezentralisierte Einheitsstaat ausgesprochen werden könne. Vielleicht werde man ihn einmal anzustreben haben, man setze sich aber sicherlich der Gefahr einer schweren Zurückweisung durch die süddeutschen Länder aus, wenn man dieses Ziel in der Besprechung mit den Ländern verkünde.
Staatssekretär Dr. Popitz wies darauf hin, daß die Länder nach den Bestimmungen der Reichsverfassung das Recht hätten, sich Preußen anzuschließen. Die Tatsache, daß Preußen in Provinzen eingeteilt sei, die weitgehende Selbstverwaltungsbefugnisse besäßen, bilde eine große Anziehungskraft für die anderen Länder. Es komme hinzu, daß Preußen ein sehr großes Wirtschaftsgebiet darstelle, welches in sich selber einen Ausgleich schaffen könne. Nicht nur in Hessen, sondern auch in Sachsen seien Wünsche auf Anschluß an Preußen geäußert worden.
Es entstehe nun die Frage, was das Reich seinerseits bieten könne. Nach seiner Ansicht könne das Reich insofern etwas bieten, als es große Verwaltungszweige der Länder übernehmen könne.
Der Stellvertreter des Reichskanzlers erklärte, daß der preußische Justizminister7 sich ihm gegenüber kürzlich völlig ablehnend gegen den Gedanken einer Abgabe der preußischen Justizverwaltung an das Reich ausgesprochen habe. Man solle nicht zu viele Forderungen aufstellen.
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Schmidt.
Der Reichskanzler erklärte, daß man jedenfalls heute wohl kaum zu einem festen Programm kommen könne. Vielleicht könne man sich negativ im wesentlichen auf Folgendes einigen:
a) das Reichskabinett spreche sich gegen die Bildung von Reichsländern aus;
b) das Reichskabinett habe große Bedenken gegen die Aufteilung Deutschlands in 3 oder 4 große Reichsländer oder Länder;
c) die Reichsregierung biete den in Not befindlichen Ländern an, große Verwaltungszweige auf das Reich zu übernehmen.
Der Reichswehrminister erklärte, daß er die Entstehung eines „Groß-Preußen“ nicht befürchte. Die sogenannte Mainlinie sei immer noch gefühlsmäßig vorhanden, aber man habe doch schließlich die Freizügigkeit im Deutschen Reiche. Träger des Gedankens der Eigenstaatlichkeit sei hauptsächlich die hohe Bureaukratie in den Ländern.
Die Aussprache wurde sodann geschlossen.
Der Reichskanzler stellte fest, daß die Besprechung am 13. Januar 1928 nachmittags 4 Uhr fortgesetzt werde8, und daß am Vormittag das Gesetz über das Reichsverwaltungsgericht beraten werden müsse9.
[Die übrigen Beratungsgegenstände wurden von der Tagesordnung abgesetzt.]