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4. Von der Nationalversammlung noch zu erledigende Gesetze9.
Reichsminister Koch führt aus, daß die gesamte Bevölkerung zu wissen wünsche, wie es mit den Neuwahlen steht10. Es müsse daher bekanntgegeben[649] werden, aus welchen Gründen sofortige Neuwahlen nicht erfolgen können. Es seien in der Tat noch eine ganze Reihe dringender Reichsgesetze zu verabschieden, u. a. die Steuergesetze, die Wahlgesetze, das Haushaltsgesetz, die Kriegsfürsorgegesetze usw. Ferner stände das Reich vor wichtigen außenpolitischen Entscheidungen; auch deshalb sei eine Neuwahl zur Zeit nicht erwünscht.
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Vor allem die Rechtsparteien drangen „mit allen zulässigen Mitteln fortgesetzt auf Neuwahlen“, um die NatVers. durch den ersten ordentlichen RT nach Inkrafttreten der RV zu ersetzen. Sie warfen den bisherigen Mehrheitsparteien vor, „aus bloßer Angst“ vor einem „Strafgericht“ des Volkes „auf verfassungswidrige und undemokratische Weise“ den Wahltermin hinauszuschieben (aus einer an die RReg. gerichteten Resolution des Landesverbandsausschusses Frankfurt/Oder der DNVP vom 9.12.19; R 43 I/565, Bl. 287; weitere Materialien ebd.). Am 3.3.20 beantragten die NatVers.-Fraktionen der DVP und DNVP, die NatVers. „vom 1. Mai 1920 ab für aufgelöst zu erklären“; außerdem solle die RReg. die noch ausstehenden Wahlgesetze „mit größter Beschleunigung“ vorlegen und bekanntgeben, welche Gesetzesvorhaben bis zum Auflösungstermin noch unbedingt erledigt werden müßten (NatVers.-Bd. 341, Drucks. Nr. 2286). RIM Koch hatte in einem Brief an seinen Parteifreund Erkelenz am 24. 2. erklärt, er sei „kein Fanatiker für die Neuwahlen“ und halte es sachlich für gerechtfertigt, wenn die Reg. Bauer „die große Reformarbeit, die in Gang gebracht ist“, abschließe. Gleichzeitig müsse man sich aber fragen, „ob die Regierung, wenn wir tatsächlich in den letzten Monaten vor der neuen Ernte in die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten geraten, noch hinreichende Autorität gegenüber dem Ansturm von links und rechts haben“ werde, um sich zu behaupten. RJM Schiffer bezweifele das; er selbst sei in dieser Hinsicht völlig frei „von einer Nervosität“ (Nachl. Erkelenz, Nr. 14, Bl. 65).
Er sei sich klar darüber, daß alle diese Argumente als voll durchschlagend nicht angesehen werden würden; wohl aber würde das Argument durchschlagen, daß man Wahlen in den Abstimmungsgebieten aus naheliegenden Gründen vermeiden müsse, solange die Abstimmung nicht tatsächlich erfolgt sei. Es sei zu erwarten, daß die Abstimmungen bis zum Herbst durchgeführt seien, vielleicht mit der Ausnahme von Oberschlesien. Hier aber sei es möglich, die Wahlen zum Reichstag nachträglich stattfinden zu lassen, weil man die Wahlkreise hier so bilden könnte, daß sie mit den Abstimmungsgrenzen übereinstimmten.
Der Reichsminister des Innern schlägt vor zu erklären, die Regierung werde die Wahlen im Oktober vornehmen lassen.
Reichswehrminister Noske hält es für untunlich, eine feste Zusicherung über den Wahltermin abzugeben. Er betont die Notwendigkeit der Fertigstellung des Wehrgesetzes. Die Ausführungen des Reichsministers des Innern über die Abstimmungsgebiete seien zwingend.
Reichsminister des Auswärtigen Müller hält es gleichfalls für unzweckmäßig, die Wahlen in den nächsten Monaten vorzunehmen.
Reichsminister der Justiz Schiffer ist der Ansicht, daß die Wahlen schon im Mai-Juni stattfinden könnten, wünscht aber ebenfalls, daß in der Öffentlichkeit ein fester Termin bekannt gegeben wird.
Ministerialdirektor Maeder betont, daß der Reichsrat das Haushaltsgesetz nicht durchpeitschen wolle. Der Haushalt könne daher kaum vor Juni fertiggestellt werden.
Reichskanzler Bauer sieht keinen zwingenden Grund, jetzt zu Neuwahlen zu schreiten. Wenn eine Nationalversammlung nach einer Tätigkeit von 1¾ Jahren ihre Mandate in die Hände des Volkes zurücklege, so könne ihr nicht der Vorwurf gemacht werden, daß sie ihre Befugnisse überschritten habe. Er befürchte auch, daß durch die Wahlaufregung der Arbeitswille wieder erschüttert werde. Dieses Risiko könne man aber erst auf sich nehmen, wenn die Verhältnisse im Kohlenbergbau und bei den Eisenbahnen stabiler geworden seien. Auch das Argument der Abstimmungsgebiete halte er für durchschlagend. Die Festlegung auf einen ganz bestimmten Termin halte er für untunlich.
[650] Reichsminister Dr. Geßler kann ein Bedürfnis der Bevölkerung, jetzt zu wählen, nicht erkennen. In Süddeutschland wünsche man zur Zeit keine Wahlen.
Reichsminister Dr. David hebt hervor, daß der Belagerungszustand noch in Geltung sei11, der für die Wahlen aufgehoben werden müßte. Solange man das nicht tun könnte, könne man auch keine Wahlen ansetzen. Es sei auch zweckmäßig, mit den Wahlen zu warten, bis die Kriegslasten fixiert seien. Erreichten wir dann noch eine Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen, dann seien günstige Wahlen zu erwarten.
Reichsverkehrsminister Dr. Bell hält Wahlen im Herbst für zweckmäßig.
Reichskanzler Bauer stellt fest, daß die überwiegende Anschauung dahin geht, die Wahlen erst im Herbst stattfinden zu lassen. Dem Reichsminister des Innern Koch wird die Beantwortung der Anfrage der rechten Parteien überwiesen12. Vorher soll die Liste der bei der Beantwortung anzuführenden, noch fertigzustellenden Gesetze nochmals vom Reichskanzler mit dem Reichsminister des Innern geprüft werden13.