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2. Finanzlage des Reiches.
Auf Grund der vom Reichsminister der Finanzen überreichten Unterlagen: A. Forderungen des Reichsfinanzministeriums zum Zwecke der Gesundung der Reichsfinanzen1, B. Programm2, wurde die Finanzlage des Reiches eingehend[190] erörtert. Über den Vortrag des Reichsministers der Finanzen3 und das Ergebnis der Beratung wird auf die durch das Wolffsche Telegraphische Büro am 23. September 1920, erste Frühausgabe, veröffentlichten und in der Presse wiedergegebenen Berichte verwiesen4 […]. Ergänzend ist zu bemerken:
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Undatierte, ungezeichnete Anlage A zum Protokoll der Ministerratssitzung. Die Anlage unterschied Forderungen in allgemeiner, in formeller und in sachlicher Hinsicht. Im einzelnen enthielt die Anlage:
1. Forderungen in allgemeiner Hinsicht: einheitliche Politik des Kabinetts in Finanz- und Steuerfragen; alle Mitglieder des Kabinetts stellen sich auf den Boden der Besoldungsordnung.
2. Forderungen in formeller Hinsicht: Stärkung der Stellung des RFM; Maßnahmen mit möglichen finanziellen Folgen für das Reich nicht ohne Zustimmung des RFM; bei Widerspruch des RFM erneute Kabinettssitzung; Überstimmung des RFM nur mit zwei Drittel der Stimmen aller Reichsminister unter Zustimmung des RK.
3. Forderungen in sachlicher Hinsicht: keine Ausgaben im ordentlichen Etat ohne Deckung als oberster Grundsatz der gesamten Finanzgebarung; keine Mehrausgaben gegenüber dem Etat 1920; keine Bewilligung neuer Stellen; auf längere Sicht sogar Stellenabbau; keine Übernahme neuer Ausgaben; Behördenabbau (R 43 I/1359, Bl. 381–382; mit handschriftl. Bleistiftzusätzen von MinR Brecht).
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Undatierte ungezeichnete Anlage B zum Protokoll der Ministerratssitzung. Das Programm sah im einzelnen vor: wahlweise die Änderung des Reichsnotopfergesetzes oder aber eine Zwangsanleihe; Aufnahme von festverzinslichen Reichsanleihen für Entschädigungsleistungen; Beseitigung des Fehlbetrages bei Eisenbahn und Post; sofortige Überprüfung der Kosten der Ernährungspolitik des Reiches; Entscheidung in der Frage der Besoldungsordnung; Stellungnahme des Kabinetts in der Frage der Wiedergutmachung; da Entnahme der Geldmittel für die Wiedergutmachung aus dem Steueraufkommen nicht möglich, Sozialisierung der Kohle und Elektrizitätswirtschaft und Einführung eines nationalen Wirtschafts- und Arbeitsjahres (R 43 I/1359, Bl. 402–403).
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Der RFM hatte die Ministerratssitzung eingeleitet mit längeren Ausführungen über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben im Haushalt 1919 und im vorläufigen Haushalt 1920. Sodann hatte er einen Überblick über die Gesamtforderungen gegeben, die dem Reich aus der Entschädigung an Reichsangehörige für aus dem Kriege entstandene Schäden entstehen würden, und hatte diese mit 131 Mrd. M beziffert. Es folgten Angaben über die Höhe der Wiedergutmachung, die vom RFM für die Jahre 1919 und 1920 auf mindestens 54 Mrd. M angesetzt wurde. Abschließend hatte der RFM Einzelheiten über die Reichsschuld mitgeteilt und hatte diese mit insgesamt 242,7 Mrd. M angegeben. Zusammenfassend hatte er die finanzielle Lage des Reiches als „mehr als ernst“ bezeichnet (WTB-Meldung vom 23.9.1920, R 43 I/1359, Bl. 378).
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Unmittelbar nach der Sitzung war zunächst nur der Wortlaut einer Presseveröffentlichung festgelegt worden; sie wurde am 23.9.1920 durch WTB veröffentlicht (R 43 I/1359, Bl. 379; vgl. auch Schultheß 1920, I, S. 253–254).
Das in den Akten befindliche Protokoll der Ministerratssitzung wurde erst am 28.9.1920 vorgelegt (R 43 I/1359, Bl. 362 u. 377).
a) Der Beschluß, daß für die Besoldungsordnung der Referentenvorschlag5 mit Vorbehalt kleinerer Abänderungen zur Grundlage des Gesetzentwurfs gemacht werden soll, ging im einzelnen dahin, daß, falls sich die beteiligten Minister mit dem Reichsfinanzminister über die von ihnen gewünschten kleineren Änderungen nicht einigen würden, es bei dem Referentenentwurf bewenden solle.
Der Beschluß über die grundsätzliche Annahme des Referentenentwurfs zur Besoldungsordnung wurde einstimmig gegen die Stimme des Reichspostministers gefaßt. Der Entwurf soll im Reichstag und in der Öffentlichkeit einheitlich vertreten werden. Der Reichspostminister und seine Beamten sollen nicht gezwungen sein, selbst den Entwurf aktiv zu verteidigen, aber Auskünfte, die von ihnen erbeten werden, soweit sie die Antwort nicht dem Reichsminister der Finanzen überlassen, entsprechend dem Beschluß des Kabinetts ohne Bekundung einer abweichenden Stellungnahme erteilen.
b) Grundsätzlich war das Kabinett damit einverstanden, daß die Stellung des Reichsministers der Finanzen dadurch gestärkt werden soll, daß in finanziellen Angelegenheiten künftig der Reichsminister der Finanzen nicht mehr ohne weiteres mit einfacher Mehrheit überstimmt werden darf. In welcher Weise die Stärkung der Stellung im Kabinett in dieser Hinsicht im einzelnen erreicht werden soll, bleibt auf der Grundlage der Vorschläge des Reichsministers der Finanzen (Anl. A II) noch näherer Vereinbarung vorbehalten6.
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Vgl. o. Anm. 1.
c) Der Gedanke der Abstandnahme von jeder behördlichen Neuorganisation[191] (Anl. A III 3)7 fand im allgemeinen Zustimmung, doch wurde eine vollständige Bindung in dieser Hinsicht nicht für möglich gehalten.
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Diese Forderung des RFM aus der Anlage A lautete: „Keine behördliche Neuorganisation, da bereits überorganisiert.“ (R 43 I/1359, Bl. 382).
Der Reichsminister des Innern erklärte sich grundsätzlich einverstanden, wies aber auf die Notwendigkeit der Schaffung des Reichsverwaltungsgerichts hin. Auch die folgenden Vorschläge sollen im einzelnen auf der Grundlage der Vorlage des Reichsministers der Finanzen, soweit darauf noch Wert gelegt wird, durch besondere Vereinbarung näher formuliert werden.
Im Grundgedanken wurde Einverständnis dahin erzielt, daß der Reichsminister der Finanzen in dem in diesen Sätzen niedergelegten Bestreben unterstützt werden soll.
d) Durch die Forderung des Abbaues der bisher genehmigten Stellen und der erneuten Nachprüfung des Ressortsbedarfs (Anl. A III 9)8 soll das Reichsministerium des Innern an der Fortsetzung der in dieser Hinsicht von ihm eingeleiteten Arbeiten in der Frage der Reform der Verwaltung nicht gehindert sein. Dem Reichsfinanzministerium soll es jedoch zustehen, sich an diesen Arbeiten im Interesse der Reichsfinanzen zu beteiligen.
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Diese Forderung aus der Anlage A lautete: „Fortschreitender Abbau der bisher genehmigten Stellen, erneute Nachprüfung des Bedarfs in einzelnen Ressorts unter Beteiligung des Reichsministers der Finanzen“ (R 43 I/1359, Bl. 382).
e) Zu der Frage, in welcher Weise dem Reich größere Barbeträge beschleunigt zugeführt werden können, äußerten sich einige Minister in dem Sinne, daß sie die sofortige Einziehung eines größeren Teiles des Reichsnotopfers dem Wege der Zwangsanleihe vorziehen. Die Entscheidung soll auf Grund der vom Reichsminister der Finanzen angekündigten Entwürfe gefällt werden9.
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Vgl. o. Anm. 2. Beigegeben waren in den Anlagen zum Protokoll ein vertrauliches Gutachten über die innen- und steuerpolitischen Auswirkungen des Reichsnotopfers bzw. einer Zwangsanleihe sowie vorläufige Leitsätze über eine unter Umständen vorzunehmende Zwangsanleihe. Das Gutachten kam jedoch zu dem Ergebnis, daß die sofortige Einziehung des Reichsnotopfers einer Zwangsanleihe vorzuziehen sei (R 43 I/1359, Bl. 392–401). Zum Reichsnotopfer vgl. Dok. Nr. 103. Anm. 1.
f) Es wurde grundsätzlich gebilligt, daß die Entschädigungen für Leistungen des Reiches aus Anlaß des Friedensvertrages an Reichsangehörige in einem noch zu bestimmenden Teil durch festverzinsliche Reichsanleihen gezahlt wird (Anl. B III)10.
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Der Vorschlag des RFM aus der Anlage B lautete: „Entschädigung für Leistungen des Reiches aus Anlaß des Friedensvertrages an Reichsangehörige zu einem bestimmenden Teil durch festverzinsliche Reichsanleihen. (Aufnahme entsprechender Bestimmungen in die zu erlassenden Entschädigungsgesetze).“ (R 43 I/1359, Bl. 402).
g) Hinsichtlich der Beseitigung des Fehlbetrags bei Post und Eisenbahn bemerkte der Reichsverkehrsminister, daß er in dieser Hinsicht Vorarbeiten treffe. Die Durchführung der Akkordarbeit könne nicht mit einem Schlage geschehen. Auch für die Verringerung des Personals ließen sich nur Richtlinien aufstellen. Die Nachprüfung der Tarife sei in Angriff genommen11.
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Der Fehlbetrag der Eisenbahn und Post betrug im Haushaltsvoranschlag für das Jahr 1920 mehr als 18 Mrd. M (Der RFM in seinen Ausführungen über den Haushalt 1920, s. o. Anm. 3). Zur Beseitigung dieses Fehlbetrages hatte der RFM verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, so u. a. die sofortige Durchführung der Akkordarbeit, die Verringerung des Personals und die Nachprüfung der Tarife (R 43 I/1359, Bl. 402).
[192] h) Mit Rücksicht auf die vom Reichsminister der Finanzen angeführten Gründe war das Kabinett einverstanden, daß Forderungen der Beamten und Angestellten auf Erhöhung der Teuerungsbeihilfe oder einmalige Entschädigung grundsätzlich abgelehnt werden müßten, insbesondere auch der letzte Antrag des Deutschen Beamtenbundes auf Erhöhung des Teuerungszuschlags und Zahlung eines Vorschusses darauf12.
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Nach Angaben des RFM hatten die Beamten und Angestellten eine Erhöhung der Teuerungszuschläge von 50 auf 120% sowie die Zahlung einmaliger Beihilfe- und Entschuldungssummen gefordert (Der RFM in seinen Ausführungen über den Haushalt 1920, s. o. Anm. 3).
i) Dem Erlaß eines Sperrgesetzes und seiner Ausdehnung auch auf die Gemeinden wurde grundsätzlich zugestimmt. Zunächst soll die Frage kommissarisch erörtert werden13.
k) Wie in der Veröffentlichung14 mitgeteilt, wurde der Reichswirtschaftsminister einstimmig beauftragt, auf der Grundlage der vorliegenden Berichte der Sozialisierungskommission einen Entwurf über die Sozialisierung des Kohlenbergbaues vorzulegen15. Die Mehrheit des Kabinetts hielt es nicht für richtig, zunächst die Durcharbeitung der Entwürfe durch den Reichswirtschaftsrat abzuwarten16.
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WTB-Meldung vom 23.9.1920, s. o. Anm. 4. In der WTB-Meldung hieß es dazu: „Schließlich trat das Kabinett in eine Erörterung der Sozialisierungsfrage ein und beschloß einstimmig, den Reichswirtschaftsminister zu beauftragen, auf der nun vorliegenden Grundlage des Berichts der Sozialisierungskommission umgehend den Entwurf eines Gesetzes über die Sozialisierung des Bergbaues vorzulegen.“
Die WTB-Meldung hatte der Protokollführer, MinR Brecht, sinngemäß in das Protokoll der Ministerratssitzung übernommen.
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Zur Sozialisierungskommission vgl. Dok. Nr. 42, Anm. 8.
Die Sozialisierungskommission hatte zwei Vorschläge ausgearbeitet. Der Vorschlag I (Lederer) empfahl die sofortige Vollsozialisierung des Kohlenbergbaues unter gleichzeitiger Überführung der Kohlengruben in das Eigentum der Allgemeinheit, während der Vorschlag II (Rathenau) eine allmähliche Sozialisierung unter vorläufiger Beibehaltung des privaten Betriebskapitals, aber unter Ausschaltung kapitalistischer Gewinne vorzog (R 43 I/2114, Bl. 108 ff.).
Siehe dazu weiter Dok. Nr. 82.
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In einer Entschließung vom 24.7.1920 hatte der RWiR beschlossen, zu den Vorschlägen der Sozialisierungskommission umgehend Stellung zu nehmen, sobald deren Bericht erschienen sei. Vgl. dazu Dok. Nr. 42, Anm. 9.
Der Reichswirtschaftsminister nahm zunächst einen anderen Standpunkt ein, trat aber mit Rücksicht auf die einstimmige Ansicht der übrigen Mitglieder des Kabinetts dem Kabinettsbeschluß bei.
Gegen die vom Reichsminister der Finanzen vorgeschlagene Betrachtung der Sozialisierungsfragen unter dem Gesichtspunkt der Wiedergutmachung wurden, mindestens für die Verwendung in der Öffentlichkeit, innen- und außenpolitische Bedenken erhoben17.
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Die Wiedergutmachung gehörte zu den Bestimmungen des VV (Teil VIII, Art. 231 f.). Dtld. und seine Verbündeten erklärten sich darin für alle Schäden und Verluste der all. und ass. Regg. und ihrer Staatsangehörigen verantwortlich und verpflichteten sich, Wiedergutmachung zu leisten. Nach Art. 248 VV haftete das Dt. Reich und die dt. Staaten mit ihrem gesamten Besitz und allen Einnahmequellen für die Bezahlung der Kosten der Wiedergutmachung. Ging nun der Kohlenbergbau im Zuge der Sozialisierung in das öffentliche Eigentum über, so ergab sich daraus die Frage, inwieweit der sozialisierte Kohlenbergbau zu dieser Haftung heranzuziehen war. Siehe dazu auch Dok. Nr. 168, Anm. 4.
[193] l) Die Frage der Einführung eines nationalen Wirtschafts- und Arbeitsdienstes18 bedarf noch weiterer Vorbereitung, bevor das Kabinett zu ihr Stellung nimmt. Der Wirtschaftsausschuß des Kabinetts wird sich damit weiter befassen19.
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Dem Protokoll der Ministerratssitzung war eine undatierte, ungezeichnete Denkschrift mit dem Titel „Allgemeine Arbeitspflicht“ beigegeben. In dieser Denkschrift wurden Vorschläge gemacht über die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen und über die Möglichkeiten der Durchführung der Arbeitspflicht (R 43 I/1359, Bl. 387–391).
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Der wirtschaftliche Ausschuß des Kabinetts befaßte sich auf seiner Sitzung vom 29. 9. mit dieser Frage. Die beteiligten Ministerien (RWiMin., RVMin., RSchMin., RFMin. und RArbMin.) kamen überein, daß mit der Einführung eines wirtschaftlichen Dienstjahres wohl erst später begonnen werden könne (R 43 I/1480, Bl. 24).
Siehe dazu weiter Dok. Nr. 85, P. 1 und die Anlage zu Dok. Nr. 85.