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Innenpolitische Entwicklung vom ersten zum zweiten Kabinett Marx
Einen Teil der erforderlichen Gesetzentwürfe hatten die Ressorts schon vorbereitet, doch war ihre Verabschiedung durch die vorangegangene Regierungskrise verhindert worden. Nun drängte vor allem Finanzminister Luther auf eine schnelle Entscheidung. Nach Abwägung aller Möglichkeiten gelangte das Kabinett zu der Überzeugung, daß das Sanierungsprogramm nicht auf dem normalen parlamentarischen Wege durchgeführt werden könne. Man rechnete damit, daß die kompromißunwilligen, um ihre Wahlchancen besorgten Parteien sich scheuen würden, die Mitverantwortung für die unpopulären Regierungsvorlagen zu übernehmen. Außerdem hielt Luther zeitraubende Ausschußberatungen angesichts der sich kritisch zuspitzenden Haushaltslage für unvertretbar. Das Kabinett beschloß daher, ein befristetes Ermächtigungsgesetz zu beantragen, das der Reichsregierung das Recht verlieh, alle von ihr für notwendig erachteten Maßnahmen im Verordnungswege in Kraft zu setzen. Der Verzicht der parlamentarischen Körperschaften auf ihre legislatorischen Befugnisse zugunsten der Regierung war unter den gegebenen Umständen nichts Außergewöhnliches mehr. Schon Stresemanns Kabinett der Großen Koalition hatte, obgleich es noch über eine zahlenmäßig klare Reichstagsmehrheit verfügte, zur Ingangsetzung der Währungsreform am 13. Oktober 1923 ein Ermächtigungsgesetz erhalten; infolge des Ausscheidens der sozialdemokratischen Minister war es am 2. November wieder hinfällig geworden. Nun hing es von der Haltung der Oppositionsparteien, insbesondere von der starken sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ab, ob auch dem Minderheitskabinett Marx ein Ermächtigungsgesetz gewährt würde, das wegen seines verfassungsändernden Charakters vom Reichstag mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden mußte. Die Aussichten hierfür waren zunächst gering. Die SPD erklärte, sie könne dieser Regierung derart weitreichende Vollmachten nicht zugestehen, von denen feststand, daß sie auch zu Einschränkungen auf sozialpolitischem Gebiet benutzt werden sollten. Schließlich stellten die Sozialdemokraten ihre Zustimmung doch in Aussicht, nachdem in den Entwurf des Ermächtigungsgesetzes eine Bestimmung aufgenommen worden war, welche die Reichsregierung verpflichtete, vor dem Erlaß von Verordnungen je einen Ausschuß des Reichsrats und des[XII] Reichstags in vertraulicher Beratung anzuhören. Dieses Zugeständnis blieb hinter dem sozialdemokratischen Wunsch nach einem förmlichen Zustimmungsrecht der Ausschüsse zurück, gewährleistete aber immerhin ein Mindestmaß an parlamentarischer Mitwirkung. Am 8. Dezember 1923 nahm der Reichstag mit den Stimmen der Regierungsparteien und der SPD das bis zum 15. Februar 1924 befristete Ermächtigungsgesetz an und beschloß danach seine Vertagung. Damit wurde eine vorzeitige Auflösung des Reichstags vermieden, die der Reichskanzler für den Fall der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes angekündigt hatte13.
Die Reichsregierung machte von ihren Vollmachten energisch und in ausgiebiger Weise Gebrauch. Nach einer Zusammenstellung des Reichsinnenministeriums wurden auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes etwa siebzig Verordnungen erlassen14. Entsprechend dem Auftrag des Gesetzes, die „Not von Volk und Reich“ abzuwenden, handelte es sich zumeist um unaufschiebbare Maßnahmen zur Sanierung der Währung, der Wirtschaft und der Finanzen15. Freilich benutzte die Regierung das Fehlen parlamentarischer Hemmungen auch zur Verwirklichung von Reformprojekten, welche, wie z. B. die Neuordnung der Gerichtsverfassung und der Strafrechtspflege16, nur in einem entfernten Zusammenhang mit der Beseitigung von Inflationserscheinungen standen.
Die Grundlage für die außerordentliche Machtfülle, über die das Kabinett Marx im Winter 1923/24 verfügte, bildete neben dem Ermächtigungsgesetz der militärische Ausnahmezustand, der am 26. September 1923 über das Reichsgebiet verhängt und dessen Vollzug während des Hitlerputsches in die Hände des Generals v. Seeckt gelegt worden war. Berechtigung und Nutzen des Ausnahmezustandes waren je länger desto mehr umstritten. Vor allem die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften und ein Teil der Landesregierungen verlangten seine Aufhebung. Bei der Erörterung der Frage, ob und in welchem Umfange man diesem Verlangen nachgeben könne, setzte sich im Kabinett die Auffassung derjenigen Minister durch, die entsprechend dem Votum Seeckts und Geßlers für die Aufrechterhaltung des militärischen Ausnahmezustandes eintraten, weil nur er dem Reich die Machtmittel zur Verfügung stelle, mit deren Hilfe eine zentrale und wirksame Bekämpfung radikaler Umsturzbestrebungen möglich sei17. Aus diesem Grunde wurde auch die Beibehaltung des Verbots der KPD, der NSDAP und der Deutschvölkischen Freiheitspartei für notwendig erachtet, das Seeckt als Inhaber der vollziehenden Gewalt im November 1923 erlassen hatte. Freilich wurde dieses Verbot sehr bald nicht unwesentlich abgeschwächt. Auf Anweisung Seeckts hatten die Militärbefehlshaber zunächst eine Betätigung der verbotenen Parteien bei den bevorstehenden Landtags- bzw. Gemeindewahlen in Thüringen, Mecklenburg und Sachsen untersagt. Hiergegen erhoben die Kommunisten beim Reichskanzler Einspruch. Das Kabinett nahm dann[XIII] auch den Standpunkt ein, daß die durch die Verfassung garantierte Wahlfreiheit nicht durch Maßnahmen auf Grund des Artikels 48 eingeschränkt werden dürfe. Die radikalen Parteien blieben zwar als solche verboten, aber ihren Mitgliedern und Anhängern wurde das Recht eingeräumt, Wahlvereine zu gründen, Kandidaten aufzustellen sowie Wahlversammlungen abzuhalten, sofern durch die Versammlungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht gestört würde18.
In Sachsen und Thüringen, wo die Reichswehr im Oktober bzw. im November 1923 zur Wiederherstellung der Ordnung eingerückt war, bildete der Ausnahmezustand eine Quelle beständiger Reibungen zwischen den sozialdemokratischen Landesregierungen und den die vollziehende Gewalt ausübenden Militärbefehlshabern. Der sächsische Ministerpräsident Fellisch und der thüringische Ministerpräsident Frölich führten wiederholt Klage über unzulässige Eingriffe der Reichswehrkommandeure in Angelegenheiten der inneren Landesverwaltung. Andererseits beschwerten sich die Militärbefehlshaber über mangelnde Kooperationsbereitschaft, über Behinderungen und Bespitzelungen von seiten der Zivilbehörden. Auch in Preußen, für dessen Gebiet Seeckt und Severing ein Abkommen über die Handhabung der vollziehenden Gewalt getroffen hatten, war es mehrfach zu Zusammenstößen zwischen militärischen und zivilen Instanzen gekommen, was Seeckt veranlaßte, die angebliche Illoyalität preußischer Provinzialbehörden in einem Brief an Severing scharf zu kritisieren19. Im Kleinkrieg mit den Zivilbehörden drohte sich die Autorität der Reichswehr abzunutzen, und durch die unmittelbare Verstrickung in die innenpolitischen Auseinandersetzungen, die der militärische Ausnahmezustand mit sich brachte, geriet sie leicht in Widerspruch zum selbstgewählten Ideal einer unpolitischen Armee, so daß Seeckt sich genötigt sah, in einem Erlaß an die Militärbefehlshaber strengste Überparteilichkeit bei der Ausübung der vollziehenden Gewalt einzuschärfen20.
Wie sehr sich die Reichswehr innenpolitisch exponierte, zeigte sich besonders deutlich in Thüringen, wo der Konflikt zwischen der sozialdemokratischen Rumpfregierung Frölich und der bürgerlichen Opposition im Landtag Anfang Dezember 1923 seinem Höhepunkt zutrieb. Die bürgerlichen Parteien warfen der Regierung verfassungswidrige Zusammensetzung sowie ungesetzliche, parteiische Amtsführung vor und verlangten ihre Beseitigung durch das Reich. Der Militärbefehlshaber in Thüringen, Generalleutnant Hasse, machte sich die Beschwerden und Wünsche der bürgerlichen Opposition zu eigen und drängte zu sofortigem Eingreifen. Seeckt übermittelte die Berichte Hasses dem Reichskanzler und schlug die Einsetzung eines Reichskommissars mit Regierungsbefugnissen vor21. Das Kabinett scheute sich jedoch, so wie gegen die sächsische Regierung Zeigner Ende Oktober 1923 nun auch gegen das thüringische Ministerium Frölich mit der Reichsexekution auf Grund des Artikels 48 vorzugehen. Es wurden zunächst nur Untersuchungskommissare gemäß Artikel[XIV] 15 der Reichsverfassung nach Weimar entsandt, welche die vorliegenden Beschwerden nachprüften. Die Kommission stellte schwerwiegende Verstöße auf dem Gebiet der Personal-, Finanz- und Schulpolitik fest. Erst als die thüringischen Minister das Untersuchungsergebnis bestritten und sich gegen die von Berlin vorgeschlagene Regelung zur Abstellung der Mißstände sträubten, drohte das Reichskabinett mit der Anwendung des Artikels 48. Daraufhin unterzeichnete die thüringische Regierung am 14. Januar 1924 eine Vereinbarung mit dem Reich, in der sie zwar ihren Rechtsstandpunkt aufrechterhielt, sich aber verpflichtete, personalpolitische Veränderungen nur mit Zustimmung eines paritätischen Ausschusses vorzunehmen und die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen22. Mit der Einsetzung eines rein bürgerlichen Ministeriums nach den thüringischen Landtagswahlen im Februar fand die Krise in Thüringen ein Ende.
In der Ministerbesprechung vom 12. Februar erklärte Seeckt, daß die Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes im Interesse der Reichswehr erwünscht sei, und einen Tag später schlug der Chef der Heeresleitung in einem Schreiben an den Reichspräsidenten unter Hinweis auf die inzwischen eingetretene Festigung der Staatsautorität vor, die Verordnungen, durch die die vollziehende Gewalt auf die Reichswehr übertragen worden war, Anfang März außer Kraft zu setzen. Ebert antwortete zustimmend. Für das Kabinett, das sich noch kurz zuvor in seiner Mehrheit für die Beibehaltung der militärischen Exekutive ausgesprochen hatte, kam der Schritt Seeckts anscheinend überraschend. Die Minister erwogen nun, den Ausnahmezustand in einen zivilen umzugestalten, dabei aber die unter dem militärischen Ausnahmezustand erlassenen Verordnungen und Verbote soweit wie möglich aufrechtzuerhalten. Gegen diese einschränkenden Bedingungen erhob Ebert jedoch Einspruch. Durch Verordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1924 wurde der militärische Ausnahmezustand insgesamt aufgehoben; zugleich wurde der Reichsinnenminister ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen notwendig waren23.
In diesem Zusammenhang verlangte die bayerische Regierung mit allem Nachdruck, daß Bayern von dem neuen zivilen Ausnahmezustand des Reichs ausgenommen werde, da der bereits bestehende bayerische Ausnahmezustand zur Bekämpfung der Kommunistengefahr vollkommen ausreiche und auch im Hinblick auf den Hitlerprozeß beibehalten werden müsse; einem Eingriff in die bayerische Justiz- und Polizeihoheit würde die bayerische Regierung äußersten Widerstand entgegensetzen. Da das Reich es nicht auf eine erneute Kraftprobe mit der Münchener Regierung ankommen lassen wollte, wurde Bayern von der Reichsverordnung über den zivilen Ausnahmezustand ausdrücklich freigestellt24.
Zuvor war der Verfassungskonflikt zwischen dem Reich und Bayern, der sich aus dem sogenannten „Fall Lossow“ entwickelt hatte, beigelegt worden.[XV] Bekanntlich hatte der Reichswehrminister den Befehlshaber der bayerischen Reichswehrdivision, Generalleutnant v. Lossow, im Oktober 1923 wegen Nichtausführung eines Befehls vom Dienst enthoben; die bayerische Regierung hatte ihn wiedereingesetzt und die bayerische Division bis zur Wiederherstellung des Einvernehmens mit dem Reich „in Pflicht“ genommen. Das Kabinett Marx, in dem nun auch die bayerische Volkspartei vertreten war, verzichtete von vornherein auf die an sich mögliche Anwendung der Reichsexekution gegen Bayern und bemühte sich, den Konflikt im Verhandlungswege auszuräumen.
Seit dem Hitlerputsch hatte sich die Lage merklich entspannt, die Stellung Lossows und Kahrs war wegen ihrer unklaren Haltung gegenüber den Putschisten erschüttert. Indessen glaubte das bayerische Ministerium Knilling den Anschein einer Kapitulation vor der Berliner Regierung vermeiden zu müssen und weigerte sich daher, Lossow fallen zu lassen. Lossow selbst bot in einem Schreiben an Seeckt seinen Abschied an, allerdings erst für die Zeit nach dem Hitlerprozeß, damit sein Rücktritt nicht von den Anhängern Ludendorffs und Hitlers propagandistisch ausgewertet werden könne. Seeckt war auch bereit, Lossow diese Anstandsfrist zu gewähren, sofern von der Münchener Regierung die Inpflichtnahme der bayerischen Division vorher aufgehoben würde. Bayern wollte die Verhandlungen über diese Frage jedoch dazu benutzen, um seine Wünsche hinsichtlich einer föderalistischen Revision der Weimarer Verfassung ins Spiel zu bringen und eine Erweiterung seiner Rechte auf militärischem Gebiet durchzusetzen. So verlangte die bayerische Regierung vom Reich das über die Bestimmungen des Wehrgesetzes hinausgehende Zugeständnis, daß die Abberufung des bayerischen Landeskommandanten künftig nur mit Zustimmung der bayerischen Regierung erfolgen solle. Zu einer solchen Konzession, die die Einheitlichkeit des Oberbefehls in Frage gestellt hätte, war die Reichswehrführung nicht bereit. In der Vereinbarung zwischen dem Reich und Bayern, die am 14. Februar 1924 in Berlin ausgehandelt und wenige Tage später unterzeichnet wurde, wurde der bayerischen Regierung lediglich zugesichert, daß man sich bei einer Abberufung des Landeskommandanten mit ihr „ins Benehmen“ setzen und ihren Wünschen möglichst Rechnung tragen werde, desgleichen bei der Verwendung bayerischer Truppen außerhalb des Landes; die Eidesformel der Wehrmacht wurde durch das Treuebekenntnis zur Verfassung des Heimatstaates erweitert. Mit dieser Vereinbarung galt das Einvernehmen zwischen dem Reich und Bayern als wiederhergestellt. Die Verpflichtung der 7. Division auf die bayerische Regierung erlosch, General Lossow und Generalstaatskommissar Kahr traten zurück. Das Reichswehrministerium machte die Beförderungssperre rückgängig, die es über das bayerische Offizierskorps verhängt hatte25. Die Infanterieschule München, die Seeckt wegen ihrer Beteiligung am Hitlerputsch aufgelöst hatte, wurde nach Dresden verlegt26.
Schließlich hob das bayerische Staatsministerium am 12. April auch einen früheren Erlaß Kahrs auf, durch den der Vollzug des Republikschutzgesetzes in Bayern verboten worden war. Die bayerische Regierung sprach aber die[XVI] Erwartung aus, daß sich das Reich bei der Anwendung des Republikschutzgesetzes größte Zurückhaltung auferlegen und daß es die Empfindlichkeiten der „vaterländisch gesinnten Kreise“ Bayerns gegenüber dem Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik berücksichtigen werde; politische Strafsachen, die in Bayern anfielen und die zur Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs gehörten, sollten künftig der bayerischen Justiz überwiesen werden27. Schon während der Verhandlungen über die Beilegung des Lossow-Konflikts hatte Bayern auf die Beseitigung des Staatsgerichtshofs gedrängt28. Das Reichskabinett war damit auch grundsätzlich einverstanden, und das Reichsjustizministerium legte einen Gesetzentwurf vor, der die Kompetenzen des Staatsgerichtshofs zum Schutz der Republik auf die ordentlichen Gerichte übertrug. Doch kamen dem Kabinett am Ende Bedenken, ob die Verabschiedung des Entwurfs politisch zweckmäßig sei, und so verschwand er wieder von der Tagesordnung29.
Ein ähnliches Schicksal erlitt die Denkschrift „Zur Revision der Weimarer Reichsverfassung“, welche die bayerische Staatsregierung Anfang Januar 1924 während der Verhandlungen über den Lossow-Konflikt dem Reichskanzler überreichen ließ. Die Denkschrift rühmte den verständigen Föderalismus der Bismarckschen Reichsverfassung – ohne dabei die preußische Hegemonialstellung zu erwähnen – und kritisierte den überspannten Zentralismus und Unitarismus der Verfassung von Weimar. Dementsprechend entwickelte sie einen umfangreichen Katalog von Vorschlägen und Forderungen, die auf eine Mehrung der Rechte und Einnahmen der Länder, insbesondere Bayerns, abzielten. Anscheinend hat das Reichskabinett nur eine einzige Sitzung auf die Diskussion der bayerischen Denkschrift verwandt. Zwar arbeiteten die Ressorts unter Federführung des Innenministeriums eine detaillierte Stellungnahme aus, diese Gegendenkschrift des Reichs wurde aber nach einiger Zeit zu den Akten gelegt30. Abgesehen von Verhandlungen über einige vordringliche Länderforderungen, die vor allem den Finanzausgleich, die Eisenbahn- und Postverwaltung betrafen, ist es zu ernsthaften Erörterungen über eine durchgreifende Neuordnung des Reich-Länder-Verhältnisses während der Amtszeit des Kabinetts Marx nicht gekommen. Das schwierige Problem der Reichs- und Verfassungsreform wurde von den aktuellen Aufgaben der Finanzsanierung und Reparationsregelung in den Hintergrund gedrängt.
Am 15. Februar 1924 lief das dem Kabinett Marx gewährte Ermächtigungsgesetz ab, ohne daß Aussicht bestand, die Zustimmung des Parlaments für eine Verlängerung zu erhalten. Als der Reichstag am 20. Februar wieder zusammentrat, lagen ihm bereits mehrere Anträge der Oppositionsparteien auf Abänderung oder Aufhebung von Verordnungen vor, welche die Regierung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes erlassen hatte. Weitere Anträge kamen in den nächsten Tagen hinzu. Beanstandet wurden vor allem die 3. Steuernotverordnung mit der Aufwertungsregelung, die Verordnungen über die Arbeitszeit und[XVII] über den Personalabbau. Die Reichsregierung zeigte sich entschlossen, den Kampf mit dem kaum noch arbeitsfähigen Reichstag aufzunehmen und die von ihr mit Hilfe des Ermächtigungsgesetzes durchgeführten Maßnahmen zur Finanz- und Währungsstabilisierung und zur Ingangsetzung der Wirtschaft bis zum äußersten zu verteidigen. Das Kabinett bezeichnete daher die wichtigsten Sanierungsverordnungen als „intangibel“ und beschloß, die Auflösung des Reichstags herbeizuführen, falls der Versuch gemacht werden sollte, eine dieser Verordnungen aufzuheben oder in wesentlichen Punkten abzuändern. Selbst die Beratung von Abänderungsanträgen in den Ausschüssen sollte nicht geduldet werden.
Es gelang dem Reichskanzler jedoch nicht, die Oppositionsparteien zum Verzicht auf die parlamentarische Behandlung ihrer Anträge zu bewegen. Die Deutschnationalen zeigten sich von der Auflösungsdrohung des Kanzlers keineswegs beeindruckt; sie wünschten im Gegenteil eine baldige Auflösung des Reichstags und frühe Neuwahlen, von denen sie sich erhebliche Stimmengewinne versprachen. Die Sozialdemokraten, denen eine vorzeitige Auflösung eher ungelegen kam, warfen dem Kabinett diktatorisches Verhalten vor.
Im Reichstag zog sich die Plenardebatte über die Verordnungstätigkeit der Regierung bis in die erste Märzhälfte hin. Als die allgemeine Aussprache beendet und die sonstige Tagesordnung erschöpft war, kam Marx einer Abstimmung über die Anträge der Opposition zuvor, indem er am 13. März die Auflösung bekanntgab. Sie wurde mit der Weigerung der Reichstagsmehrheit motiviert, die von der Regierung als lebenswichtig bezeichneten Verordnungen unverändert fortbestehen zu lassen31.
Der Versuch, noch vor der Auflösung das Reichstagswahlrecht einer durchgreifenden Reform zu unterziehen, war bereits im Entwurfsstadium steckengeblieben. Innenminister Jarres hatte dem Kabinett eine Wahlgesetznovelle vorgelegt, die darauf abzielte, das Prinzip der Personalwahl im Rahmen des bestehenden Verhältniswahlsystems stärker zur Geltung zu bringen. Durch eine Verminderung der Abgeordnetenzahl, durch Verkleinerung der Wahlkreise und Beschränkung der Listenvorschläge sollte die Stellung des einzelnen Abgeordneten gestärkt, das Verhältnis zwischen Wählern und Abgeordneten persönlicher gestaltet, der Einfluß der Interessenverbände auf die Kandidatenaufstellung zurückgedrängt und die Gefahr der Parteienzersplitterung verringert werden. Dieser Entwurf, auf dessen Verabschiedung der Reichsrat großen Wert legte, wurde dem alten Reichstag jedoch nicht mehr vorgelegt, weil seine Beratung den meisten Parteien unerwünscht war32.
Die Wahl des neuen Reichstags mußte nach der Verfassung innerhalb von sechzig Tagen nach der Auflösung durchgeführt werden. Sehr gründlich wurde im Kabinett und in Besprechungen mit den Parteiführern die Frage des günstigsten Wahltermins erörtert, wobei zunächst nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten auftraten. Gegen einen zu frühen Wahltermin machte vor allem[XVIII] Stresemann außenpolitische Bedenken geltend. Er schlug vor, die Reichstagswahlen nicht vor den französischen Kammerwahlen stattfinden zu lassen, um zu verhindern, daß die zu erwartenden Stimmengewinne der Rechtsparteien einen für die deutsche Außenpolitik nachteiligen Einfluß auf das französische Wahlresultat ausübten. Schließlich einigte man sich auf den 4. Mai als Wahltermin. Zuvor war sichergestellt worden, daß die Wahlen auch im besetzten Gebiet ohne wesentliche Behinderungen durch die Besatzungsmächte durchgeführt werden konnten33.
Hauptthemen des mit außerordentlicher Heftigkeit geführten Wahlkampfes waren die Sanierungsmaßnahmen der Regierung aus der Zeit des Ermächtigungsgesetzes, sodann das Reparationsgutachten des Dawes-Komitees34, das mitten im Wahlkampf am 9. April erstattet wurde. Die Reichsregierung griff in die Auseinandersetzungen mit einem eigenen Wahlaufruf ein, in dem sie auf die Erfolge ihrer Stabilisierungspolitik und auf die positiven Aspekte des Dawes-Plans hinwies35. Dieser Appell an die politische Vernunft hatte nicht den gewünschten Erfolg. Das Wahlergebnis vom 4. Mai 1924 war gekennzeichnet durch eine Schwächung der gemäßigten, staatstragenden Mitte und durch das Abschwenken radikalisierter Wählerschichten zu den extremen Flügeln. Von den Regierungsparteien vermochte sich nur das Zentrum knapp zu behaupten, während die DVP und die DDP empfindliche Einbußen hinnehmen mußten. Die stärksten Verluste erlitt die SPD. Beträchtliche Stimmengewinne erzielten hingegen die Kommunisten und die Deutschvölkischen bzw. Nationalsozialisten. Zu den Gewinnern der Wahl gehörten auch die Deutschnationalen, die zusammen mit den Abgeordneten des Landbundes die stärkste Fraktion im zweiten Reichstag stellten36.
Das ungünstige Abschneiden der Koalitionsparteien stellte das Kabinett vor die Frage der Demission und der Regierungsumbildung. Die DNVP meldete bald ihren Anspruch auf führende Beteiligung an der Reichsregierung an. Bei den Regierungsparteien setzte sich vor allem die DVP für eine Koalition mit den Deutschnationalen ein, die der Regierung eine parlamentarische Mehrheit verschafft hätte. In der ersten Ministerbesprechung nach der Wahl wurde noch keine Entscheidung in dieser Frage getroffen, das Kabinett beschloß lediglich, bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags im Amt zu bleiben, um ein Führungsvakuum zu vermeiden und die Arbeiten zur Durchführung des Dawes-Plans ohne Unterbrechung fortsetzen zu können. Dieser Beschluß löste scharfe Angriffe der DNVP aus, die am 15. Mai die Reichsregierung zum Rücktritt aufforderte. Dieses Ansinnen wurde vom Kabinett in einer öffentlichen Erklärung zurückgewiesen, aber in den internen Beratungen der Minister und der Regierungsparteien zeigten sich jetzt Meinungsverschiedenheiten über den Termin der Demission und das weitere taktische Vorgehen. Der Plan des Zentrums und[XIX] der DDP, durch die Bildung einer Fraktionsgemeinschaft der Mitte die Position der Regierungskoalition zu stärken, wurde von der Volkspartei aus Rücksicht auf die DNVP verworfen. Doch war man sich mit Stresemann darüber einig, daß von den Deutschnationalen vor der Aufnahme in das Kabinett ein klares Bekenntnis zum Dawes-Plan verlangt werden müsse, den sie im Wahlkampf als „zweites Versailles“ kritisiert hatten. Die Mittelparteien vereinbarten daher außenpolitische Richtlinien, die als Grundlage für die Verhandlungen mit der DNVP dienen sollten und die eine programmatische Erklärung zur Ausführung des Dawes-Gutachtens enthielten. In den Koalitionsverhandlungen zwischen den Fraktionen, die am 21. Mai einsetzten, fanden die Richtlinien jedoch nicht die vorbehaltlose Zustimmung der DNVP. Außerdem wünschten ihre Unterhändler zuerst eine Verständigung über die Person des künftigen Kanzlers. Aber die von deutschnationaler Seite präsentierte Kanzlerkandidatur des ehemaligen Großadmirals v. Tirpitz stieß bei Stresemann und den Mittelparteien auf schwere Bedenken, so daß die Besprechungen bald stockten37.
Eine neue Verhandlungsrunde begann, nachdem die DVP am 26. Mai die Demission des Kabinetts erzwungen hatte. Reichskanzler Marx, von Ebert mit der Neubildung der Regierung beauftragt, versuchte vergeblich, die DNVP auf den Entwurf einer Regierungserklärung festzulegen, die wiederum den Dawes-Plan zum Gegenstand hatte. Die deutschnationalen Vertreter verlangten eine Änderung des außenpolitischen Kurses, die Ablösung Stresemanns als Außenminister sowie feste Zusicherungen über eine baldige Umbildung der preußischen Regierung. Eine Einigung hierüber war nicht zu erreichen, obwohl sich insbesondere die DVP bis zuletzt um einen Kompromiß bemühte. Die überspannten deutschnationalen Forderungen ließen die Vermutung aufkommen, daß die Führung der DNVP zu diesem Zeitpunkt nicht ernsthaft den Eintritt in das Reichskabinett anstrebte, daß sie damit vielmehr bis zur Regelung der Reparationsfrage warten wollte, um sich nicht mit der Verantwortung für den Dawes-Plan zu belasten. Am 3. Juni 1924 brach Marx die Verhandlungen ab, und noch am gleichen Tage wurden sämtliche Minister in ihren bisherigen Ämtern bestätigt38. Zentrum, DDP und DVP erklärten sich zur Fortsetzung der Koalition bereit, während die Bayerische Volkspartei sich diesmal nicht an der Regierung beteiligte39. Damit begann die Amtszeit des zweiten Kabinetts Marx.