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Erhöhung der Löhne der Eisenbahnarbeiter.
Ministerialdirektor Hitzler trug den Inhalt der Vorlage des Reichsverkehrsministeriums vom 4. d. Mts. vor1 und schilderte die Schwierigkeiten, in denen[533] sich zur Zeit die Reichsbahn befinde. Mit der Erhöhung der Löhne der Reichsbahnarbeiter gehe Hand in Hand ein starker Abbau der Sozialleistungen des Tarifs. Dieser Umstand sei für die Stellungnahme des Reichsverkehrsministeriums von entscheidender Bedeutung.
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In der Vorlage des RVM vom 4. 4. heißt es: Im Anschluß an die Lohnbewegung der Postarbeiter (vgl. Dok. Nr. 161), die diesen Arbeitern die Bezahlung der 9. Arbeitsstunde auf der Basis der Löhne vom November 1923, eine Alterszulage von 2 und 4 Pfg. pro Stunde und eine Sonderzulage für Telegrafenbauarbeiter gebracht habe, verhandle das RVMin. mit den Gewerkschaften über einen neuen Manteltarif für die Eisenbahnarbeiter in Verbindung mit einer neuen Lohntabelle. Es sei beabsichtigt, eine Erhöhung der Löhne zuzugestehen, gleichzeitig jedoch einen Abbau der Sozialleistungen im Manteltarif durchzusetzen. Mit dem RFM, dem RWiM und dem RArbM sei vereinbart worden, daß das RVMin. über eine Lohnerhöhung von höchstens 15% nicht hinausgehen werde, um eine allgemeine Lohnbewegung bei der Privatindustrie zu vermeiden. „Eine strenge Prüfung der Lohnsätze der unteren Gruppen hat nun aber ergeben, daß die einfache Anwendung einer 15%igen Aufbesserung diesen unteren Gruppen noch nicht die Lohnsätze bringen könnte, deren die Leute bedürfen, um das nackte Leben zu fristen. Angesichts dieser unbestreitbaren Tatsache sehe ich mich genötigt, vorübergehend von der Aufrechterhaltung der inneren Spannung zwischen den einzelnen Lohngruppen eine kleine Abweichung zuzugestehen in der Art, daß sämtlichen Lohngruppen je 6 Pfg. Stundenlohn zugelegt wird. Hiermit wären die Eisenbahner-Gewerkschaften einverstanden, und ich kann als deren Gegenleistung in bestimmte Aussicht stellen eine Einigung über die verlängerte Arbeitszeit, den Wegfall des Krankengeldzuschusses, Kürzung des Urlaubs um durchschnittlich 6 Tage pro Mann und Jahr, Kürzung der Kinderzuschläge, die künftig nur bis zum 16. Lebensjahr gewährt werden sollen, Kürzung der bezahlten Wochenfeiertage von 9 auf 6 und eine Reihe kleinerer, in der Summe nicht unbeträchtlicher sonstiger Zugeständnisse der anderen Seite.“ Bei einer gleichmäßigen Erhöhung des Stundenlohns um 6 Pfg. würde das Gesamtlohnzugeständnis allerdings nicht 15%, sondern annähernd 16% betragen. Die Entscheidung dieser Frage dulde keinen Aufschub; gegenwärtig stünden 8 bis 9000 Eisenbahnarbeiter im Streik (R 43 I/2071, Bl. 90 f.).
Ministerialdirektor v. Schlieben erklärte die vom Reichsverkehrsministerium vorgeschlagene Regelung für nicht tragbar. Die gleichmäßige Erhöhung des Lohnes um 6 Pfg. pro Stunde bringe eine Verringerung der Spannung mit sich. Das Reichsfinanzministerium sei in letzter Zeit mit Erfolg bemüht gewesen, die Spannung in den einzelnen Beamtenkategorien zu vergrößern. Das gleiche Prinzip müsse auch bei den Arbeitern befolgt werden. In einer Besprechung, die kürzlich zwischen dem Herrn Reichsminister der Finanzen, dem Herrn Reichswirtschaftsminister, dem Herrn Staatssekretär Trendelenburg sowie Vertretern des Reichsverkehrsministeriums stattgefunden habe, habe sich der Herr Reichsminister der Finanzen schließlich dahin geäußert, daß er sich allerhöchstens mit einer allgemeinen Erhöhung des Lohnes um 15% einverstanden erklären könne. Nunmehr gehe das Reichsverkehrsministerium weit darüber hinaus. Man müsse nach seiner Ansicht an den 15% festhalten und die Verteilung etwas anders regeln.
Oberregierungsrat Schilling machte hierauf entsprechende Vorschläge.
Der Reichsarbeitsminister betonte, daß der Handwerker in Mitteldeutschland bei zehnstündiger Arbeitszeit etwa 4,70 Mark pro Tag verdiene. Dieser Betrag setze sich wie folgt zusammen: Stundenlohn 43 Pfg., Deputat 2 Pfg., für Frau und Kind 2 Pfg., ergibt: 47 Pfg. pro Stunde.
Der Eisenbahner erhalte etwa 4,59 Mark pro Tag bei geringerer Arbeitszeit. Ein Reparaturhauer an der Ruhr erhalte ebenfalls nur 4,70 Mark. Im Frieden hätten sich die Löhne der Eisenbahner durchweg unter dem Niveau der Privatindustrie bewegt. Nunmehr würden sie der Privatindustrie nicht nur angeglichen, sondern sie gingen sogar zum Teil darüber hinaus. Die Gefahr einer allgemeinen Lohnbewegung in der Industrie sei daher nicht von der Hand zu weisen. Selbstverständlich müsse mit allen Mitteln versucht werden, die Nivellierung zu beseitigen, d. h. qualifizierte Arbeiter müßten erheblich besser entlohnt werden als die ungelernten.
Der Reichsverkehrsminister bedauerte, daß der Herr Reichsminister der Finanzen am Erscheinen verhindert sei. Er sei der Auffassung, daß sonst eine glatte Verständigung möglich gewesen wäre. Die Zugeständnisse der Gewerkschaften auf sozialem Gebiet seien sehr erheblich. Was die Verringerung der Spannung anbelange, so sei das nur als vorübergehende Maßnahme gedacht. Er behalte sich ausdrücklich vor, den früheren Zustand bei einer neuen Lohnregelung wieder herzustellen.
[534] Im übrigen müsse er darauf hinweisen, daß ein Streik, und ein solcher sei durchaus nicht ausgeschlossen, vor den Wahlen verhängnisvoll sein würde. Die unteren Beamten der Eisenbahn hätten sich bisher den Teilstreiks ferngehalten, sie hätten sogar den Dienst der fehlenden Arbeiter übernommen und sich daher in den Ruf von Streikbrechern gebracht. Es bestehe die Gefahr, daß diese Beamten sich mit den Arbeitern solidarisch erklärten, was unabsehbare Folgen nach sich ziehen würde.
Was die Löhne der Privatindustrie betreffe, so wisse man doch, daß die Industrie nicht tariftreu sei, d. h. bei steigender Konjunktur nehme die Industrie keinen Anstoß daran, höhere Löhne zu zahlen als im Tarif vorgesehen seien.
Staatssekretär Trendelenburg wies auf die schweren wirtschaftlichen Bedenken der geplanten Lohnerhöhung hin. Eine allgemeine Lohnbewegung würde geeignet sein, die Währung zu erschüttern.
Der Reichskanzler betonte, daß es sich empfehlen würde, in Zukunft bei Verhandlungen mit Gewerkschaften nicht eher fest abzuschließen, bevor die Zustimmung des Reichsministers der Finanzen eingeholt sei.
Der Reichsarbeitsminister trat für den Vermittlungsvorschlag des Reichsfinanzministeriums ein, glaubt jedoch, daß dann das Reichsverkehrsministerium auf Grund neuer Verhandlungen nicht zu einem Ergebnis komme und das Kabinett sich wieder mit der Frage beschäftigen müsse.
Ministerialdirektor v. Schlieben ist der Auffassung, daß die Organisationen nicht länger warten könnten und sich daher wohl bei Ablehnung des Vorschlages des Reichsverkehrsministers durch das Kabinett mit dem Vermittlungsvorschlag des Reichsfinanzministeriums abfinden würden.
Der Reichskanzler faßte die Auffassung des Kabinetts dahin zusammen, daß das Reichsverkehrsministerium zunächst auf Grund des Vorschlages des Reichsfinanzministeriums mit den Organisationen in neue Verhandlungen eintreten solle2.