Text
1. Gesetzentwurf über die Aufwertung und Ablösung älterer Staatsrenten und ähnlicher Renten1.
- 1
Der GesEntw. zur Ablösung der Renten der ehemaligen Standesherren, der vom RJMin. nach den Richtlinien der RReg. ausgearbeitet worden war, hatte nicht die Zustimmung Preußens erhalten (vgl. Dok. Nr. 279, Anm. 8). Die RReg. stand nun vor der Frage, ob sie den gesetzgebenden Körperschaften trotz der Meinungsverschiedenheiten mit Preußen einen eigenen GesEntw. zur Regelung der Standesherrenrenten vorlegen solle. Die Regierungsparteien waren in dieser Frage nicht einig.
Der Reichsminister der Justiz trug den Sachverhalt vor. Er führte aus, daß die Auffassung des Zentrums dahin gehe, die Reichsregierung solle ihrerseits die Initiative ergreifen und einen Gesetzentwurf den gesetzgebenden Körperschaften zuleiten. Die anderen drei Regierungsparteien seien jedoch gegenteiliger Auffassung. Sie seien der Ansicht, man solle erst die Verhandlungen im Rechtsausschuß des Reichstags abwarten2.
- 2
Siehe die Protokolle Wiensteins über die Besprechungen mit Vertretern der Regierungsparteien am 10. 11. und 16.12.27 (R 43 I/2208, Bl. 293–294, 320–321).
Preußen habe die Einbringung einer eigenen Vorlage im Reichsrat angekündigt. Er (der Reichsminister der Justiz) sei gegen die Einbringung einer Vorlage durch die Reichsregierung in Anbetracht der Gespaltenheit der Fraktionen und mit Rücksicht darauf, daß der Reichsrat sicherlich erhebliche Abänderungen an einem Entwurf der Reichsregierung beschließen werde. Für Preußen sei die Sache praktisch in den meisten Fällen schon erledigt, da es zahlreiche Schiedsverträge abgeschlossen habe. Wenn die Reichsregierung ihrerseits keine Vorlage einbringe, so müsse sie doch andererseits natürlich ihre Stellungnahme im Rechtsausschuß bekanntgeben. Durch Artikel in der Presse sei der Standpunkt der Reichsregierung bekannt zu machen, und es sei besonders zu betonen, weshalb die Reichsregierung von der Einbringung eines Entwurfs Abstand genommen habe und daß eine Einigung mit Preußen nicht zu erzielen gewesen sei.
Der Reichskanzler befürchtete, daß die vom Reichsminister der Justiz als notwendig bezeichnete Agitation durch die Entwicklung der Dinge überholt werden würde. Wenn die Reichsregierung nicht die Initiative ergreife, sei eine völlige Enteignung der Rentenberechtigten sehr wahrscheinlich. Es handele sich hier um eine hochpolitische Frage, die sicherlich von der Opposition auch mit der Besoldungsvorlage in Verbindung gebracht werden könne, indem darauf hingewiesen werde, daß die Reichsregierung bei der Besoldungsvorlage nicht[1192] genügend Mittel besonders für die unteren Klassen zur Verfügung gehabt habe, daß dagegen die Standesherren nach Ansicht der Reichsregierung gut bedacht werden müßten. Wenn die Reichsregierung mit Energie die Führung übernehme, sei es vielleicht doch möglich, ihren Entwurf in den gesetzgebenden Körperschaften durchzubringen.
Auch der Reichsminister der Finanzen betonte, daß ohne eigene Initiative der Reichsregierung das Schlimmste zu befürchten sei. Wenn man die Dinge laufen lasse, dann werde eine äußerst unangenehme Agitation der Opposition einsetzen. Die Stimmung im Zentrum sei sehr erregt und werde nur verschlechtert werden, wenn die Reichsregierung nicht die Führung übernehme.
Der Reichswehrminister vertrat die Auffassung, daß die Standesherren nicht schlechter, aber vor allem auch nicht besser gestellt werden dürften als die anderen Schichten der Bevölkerung.
Der Reichsminister der Justiz wandte sich gegen die Auffassung, als habe die Reichsregierung die Angelegenheit verschleppt. Wenn der Berichterstatter, Abgeordneter Dr. Pfleger, im Rechtsausschuß seinen Bericht erstattet habe, liege eine neue Situation vor, es müsse dann sofort nochmals mit den Regierungsparteien Fühlung genommen werden.
Der Reichsminister des Auswärtigen glaubte sagen zu können, daß ein Teil seiner Fraktion für den im Rechtsausschuß liegenden demokratischen Antrag3 stimmen werde. Die Agitation der Opposition sei äußerst gefährlich, wenn die Reichsregierung nicht einen Entwurf einbringe. Er könne sich sogar. denken, daß z. B. die Sozialdemokraten aus der Angelegenheit eine Wahlparole machen würden.
Bei der Endabstimmung beschloß das Reichskabinett mit 5 gegen 5 Stimmen, einen Entwurf mit dem vom Reichsminister der Justiz dargelegten grundsätzlichen, vom Reichskabinett gebilligten Inhalt den gesetzgebenden Körperschaften beschleunigt zuzuleiten.
Der Reichskanzler stimmte für die Einbringung des Gesetzentwurfs.
Der Reichswirtschaftsminister der vor der Abstimmung die Sitzung verlassen hatte, hatte dem Staatssekretär in der Reichskanzlei erklärt, er werde seine Stimme in dem gleichen Sinne wie der Reichsminister des Auswärtigen abgeben, der sich gleichfalls für die Einbringung des Gesetzentwurfs durch die Reichsregierung ausgesprochen hatte4.
- 4
Am 9.1.28 leitete RJM Hergt dem RR den „Entwurf eines Gesetzes über die Aufwertung und Ablösung älterer Staatsrenten und ähnlicher Renten“ mit Begründung zu (RR-Drucks. 1928, Nr. 4; auch in R 43 I/2208, Bl. 340–342); Preußen unterbreitete dem RR einen Gegenentwurf; Bayern, Sachsen, Württemberg, Thüringen und Oldenburg stellten Abänderungsanträge (R 43 I/2208, Bl. 377–406). Auf Grund der Beratungen im RR legte das Kabinett Müller II den parlamentarischen Körperschaften einen neugefaßten GesEntw. „zur Regelung älterer staatlicher Renten“ vor, der den Wünschen Preußens weitgehend Rechnung trug (RT-Bd. 434, Drucks. Nr. 886). Der RT nahm den GesEntw. in der vom Rechtsausschuß abgeänderten Fassung am 11.12.29 mit Zweidrittelmehrheit an (RT-Bd. 426, S. 3521 ff.). Die Ausfertigung des Gesetzes erfolgte am 16.12.29 (RGBl. I, S. 221).