Text
[520] Nr. 172
Aufzeichnung einer nichtöffentlichen Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig. 29. Mai 19231
- 1
Die Aufzeichnung ist von Dr. Conrad, dem Vertreter des RIMin. beim Staatsgerichtshof, unterzeichnet und datiert. Das Datum der Aufzeichnung läßt auf einen Zusammenhang mit der am 29. 5. stattfindenden Besprechung des RK mit den Pr., Sächs. und Thüring. MinPräs. und IM schließen. Diese Besprechung war durch ein Schreiben Frölichs vom 5. 5. angeregt worden: „In der Besprechung der LandesMinPräs. mit der RReg. haben der Herr Sächs.MinPräs. und der Unterzeichnete auf die Behauptungen, die der Reichstagsabgeordnete v. Graefe in der geheimen Sitzung des Staatsgerichtshofes am 26. und 27.4.1923 aufgestellt hat, hingewiesen. Der Unterzeichnete hat anschließend an den Herrn RK die Bitte gerichtet, den Länderregierungen, die in jener Sitzung des Staatsgerichtshofs vertreten waren, eine Aussprache zu gewähren. […] Zweck der Aussprache soll sein, die Gefahr, die nach den Angaben des Herrn v. Graefe für Reich und Länder besteht, zu beseitigen.“ (R 43 I/2730, Bl. 81). Nach einigen Terminschwierigkeiten kommt die Aussprache am 29. 5. zustande, Aufzeichnungen darüber fehlen. Das hier vorliegende Dokument hat möglicherweise dem RK für die Besprechung als Material vorgelegen. S. auch Anm. 4 zu Dok. Nr. 241.
Die von der Deutschvölkischen Freiheitspartei gestellten Beweisanträge waren dem Sinne nach folgende:
1. Rechtsanwalt Herold: Die Organisation der Turnerschaften sei unter ausdrücklicher Billigung und Zustimmung und eingehender Kenntnis der Reichsregierung erfolgt. Teile der Turnerschaften seien bereits der Reichswehr eingegliedert; andere sollten ihr eingegliedert werden. Rossbach habe persönlich mit dem Reichskanzler über die Organisation der Turnerschaften und die Angliederung an die Reichswehr gesprochen. Der Reichskanzler habe die Pläne gebilligt2.
- 2
In ähnlicher Weise hatte v. Graefe die RReg. am 14. 5. vor dem RT angesprochen: „Ich stelle fest, Herr RM Oeser, daß Sie, daß der Herr RK Cuno, daß überhaupt die amtlichen Stellen der RReg. – und das behaupte ich hiermit ausdrücklich vor der ganzen Öffentlichkeit – längst, ehe der Herr Minister Severing es wagte, in Preußen diesen ungeheuerlichen Erlaß [vom 23. 3.] gegen uns herauszugeben, genau darüber informiert waren, daß unsere sämtlichen Formationen einen absolut legalen Charakter hatten, daß die sämtlichen Ziele und Zwecke, die wir verfolgten, durchaus loyal waren, ja im Interesse der RReg lagen. Ich frage Sie, Herr Minister Oeser, ich frage auch den abwesenden Herrn RK Cuno, ob es etwa nicht wahr ist, daß wir mit Ihnen darüber in aller Aufrichtigkeit gesprochen haben. Ich frage die RReg., ob es nicht wahr ist, daß sie über alle unsere Organisationen genau Bescheid wußte.“ (RT-Bd. 360, S. 11043). Oeser verwies demgegenüber auf die Äußerung Rossbachs anläßlich der Wannsee-Konferenz: „Mit der Offenheit, mit der ich Ihnen unsere Pläne mitgeteilt habe, ist der RK Cuno von diesen unterrichtet worden, desgleichen General v. Seeckt. Beide Herren verhielten sich unseren Plänen gegenüber kühl und interesselos.“ (RT-Bd. 360, S. 11045). Nach der RT-Debatte vom 14. 5. verstärkten sich in der deutsch-völkischen Presse die Vorwürfe gegen die RReg. und insbesondere den RK, mit den Deutsch-völkischen ein doppeltes Spiel getrieben zu haben (Belege in R 43 I/2678, Bl. 432). Auf Drängen Oesers kommt es schließlich am 29. 5. zu einer offiziellen Richtigstellung durch die Rkei, von StS Hamm entworfen. Darin heißt es: „Durch die deutschvölkische Presse gehen Mitteilungen, daß die RReg. über die Organisation der DVF Bescheid wußte und sie wohlwollend duldete. Herr Henning behauptete, daß im Vertrauen auf die RReg. die deutschen Männer, die bis heute noch hinter Schloß und Riegel sitzen, geschwiegen haben und die Haft über sich ergehen lassen, obgleich sie wüßten, daß eine freimütige Aussage sie sofort aus der Haft befreien könnte. Diese Meldungen sind unwahr. Wohl hat der Herr RK mehrmals Herrn v. Graefe empfangen. Bei diesen Besprechungen war aber niemals die Rede von der Organisation der DVF, von Kampftruppen oder ähnlichem. Die Auffassung des Herrn v. Graefe, daß es zunächst einmal zu einer inneren Auseinandersetzung kommen müßte, kam allerdings zum Ausdruck. Sie fand beim RK eine so scharfe Zurückweisung, daß die Mitteilung von Organisationsabsichten u. a. danach überhaupt sinnlos gewesen wäre.“ (R 43 I/2678, Bl. 435).
[521] Ludendorff habe über die Turnerschaften und die völkischen Kampfkorps mit Herrn von Seeckt gesprochen und habe mit ihm vereinbart, daß diese Formationen der Reichswehr eingegliedert werden sollten. In Hannover sei dies bereits geschehen.
2. Ich trat dieser Darstellung sofort entgegen und erklärte: Allerdings sei Rossbach von dem Herrn Reichskanzler empfangen worden und habe ihm seine Pläne über Ertüchtigung der Jugend in Turnerschaften dargelegt. Der Herr Reichskanzler hätte diese Mitteilungen entgegengenommen, sich aber seinerseits einer Stellungnahme zu den Ausführungen Rossbachs enthalten. Es komme doch wohl nicht darauf an, was einer von den vielen Besuchern, die den Herrn Reichskanzler in den ersten Tagen nach Übernahme der Kanzlerschaft aufgesucht hätten, vor dem Herrn Reichskanzler an Plänen entwickle, sondern entscheidend sei allein, wie der Herr Reichskanzler seinerseits dazu Stellung nehme3.
- 3
Der Besuch Rossbachs bei Cuno war auch vor dem RT angesprochen worden und hatte am 14. 4. zu einer Erklärung Oesers geführt, der dazu vom RK ermächtigt worden war: „Rossbach ist es allerdings gelungen, einmal bis zum Herrn RK vorzudringen. Er hat dem Herrn RK Mitteilungen unterbreitet über die Ertüchtigung der Jugend durch Turnerschaften. Diese Mitteilungen haben dem RK, der weder den Namen noch die politische Sonderheit des Herrn Rossbach damals gekannt hat, Anlaß gegeben, das Gespräch abzubrechen und zunächst Erkundigungen einzuziehen. Nach dem Ergebnis dieser Erkundigungen hat der Herr RK es abgelehnt, Rossbach noch einmal zu empfangen.“ (RT-Bd. 360, S. 11056). Darstellung Rossbachs in seinen Memoiren ‚Mein Weg durch die Zeit‘, 1950, S. 77 f. In der Richtigstellung der Rkei vom 29. 5. heißt es über diese Besprechung: „Richtig ist ferner, daß der RK einmal Herrn Rossbach empfing. Daß der RK weder Art noch Namen Rossbachs kannte, ist gewiß nicht verwunderlich, da der jetzige RK als Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie in den letzten Jahren sich der großen Aufgabe des Wiederaufbaus der deutschen Handelsflotte und wichtigen wirtschaftlichen Verhandlungen der deutschen Schiffahrt im Inland und insbesondere im Ausland widmen mußte. Auch Herr v. Graefe, der den RK Herrn Rossbach zu empfangen gebeten hatte, hatte dabei nichts Näheres über die Person des Herrn Rossbach gesagt. Die Unterredung mit Rossbach brach der RK, wie im RT bereits in seinem Auftrage erklärt wurde, rasch ab, als Rossbach auf einen bevorstehenden Besuch bei Hitler zu sprechen kam. Ein späterer Empfang wurde vom RK abgelehnt.“ (R 43 I/2678, Bl. 435). Ein Schreiben Rossbachs an den RK vom 15. 6. ist abgedruckt als Dok. Nr. 190.
Ich bestritt ferner die Darstellung des Verteidigers über die Eingliederung der Turnerschaften in die Reichswehr und beantragte, hierüber sofort den vor dem Saale wartenden auf meine Bitte nach Leipzig entsandten Vertreter des Reichswehrministeriums zu vernehmen.
3. Herr von Graefe erklärte darauf, der Reichskanzler habe mit ihm, v. Gr., eine Besprechung gehabt. Dabei sei über die Behandlung der Partei durch einzelne Landesregierungen gesprochen worden. Es sei der Befürchtung Ausdruck gegeben worden, daß durch das einseitige Vorgehen gegen rechts in den vaterländisch gesinnten Kreisen Erbitterung hervorgerufen werde4. Der Reichskanzler habe erklärt, daß er diese Mitteilungen sehr ernst nehme. (Diese Äußerung fiel, nachdem der Vorsitzende, Präsident Schmidt, und ebenfalls Reichsgerichtsrat Michaelis von Herrn von Graefe Auskunft über die Stellungnahme des[522] Herrn Reichskanzlers verlangt hatten.) Auch von der schwarzen Reichswehr sei gesprochen worden. In demselben Sinne habe Rossbach mit dem Reichskanzler gesprochen. Es seien nicht nur die Turnerschaften, sondern die ganzen völkischen Kampfkorps erwähnt worden, und es sei von der Bekämpfung des inneren und äußeren Feindes die Rede gewesen. Auch Herr von Graefe betonte, Ludendorff habe mit Herrn von Seeckt über die Eingliederung der Turnerschaften in die schwarze Reichswehr gesprochen; Herr von Seeckt habe das Angebot angenommen5.
- 4
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um die Besprechung vom 16. 2., über die sich in den Akten lediglich eine Visitenkarte v. Graefes findet mit dem Vermerk „in aufrichtiger Verehrung überreicht“ (R 43 I/2678, Bl. 91). In dieser Zeit häufen sich die Klagen der Deutsch-völkischen über Maßnahmen einzelner Landesregierungen (s. Dok. Nr. 77).
- 5
Über die Besprechungen Ludendorffs mit v. Seeckt fehlen Hinweise in R 43 I. Rabenau berichtet in seiner Seeckt-Biographie kurz darüber, hält es aber für ausgeschlossen, daß Seeckt bereit gewesen wäre, größere Konzessionen zu machen, wie v. Stülpnagel es in seinem Tagebuch darstellt (v. Rabenau: Seeckt – Aus seinem Leben, II, S. 331). Nach Ludendorff kam es durch Vermittlung Stinnes‘ zu einer Besprechung Ludendorffs mit Cuno und v. Seeckt im Hause Minouxs: „Ich hatte keine erfreulichen Eindrücke. Klarheit über die Lage und des Wollens erkannte ich nicht, aber ich sagte General v. Seeckt doch zu, ich würde versuchen, die Verbände, die für eine tätige Mitwirkung an der Abwehr Frankreichs in Betracht kämen, hinter ihn zu stellen, soweit wie ich es vermöchte, da ich nur hierdurch ein einheitliches Handeln der Wehrmacht und der Verbände gesichert halten könne und dies für eine erfolgreiche Abwehr als Grundbedingung ansähe. Wie General v. Seeckt eintretendenfalls sich den Einsatz der Macht dachte, erfuhr ich nicht, ebensowenig, wie weit im Rahmen des ‚passiven Widerstandes‘ das Handeln einheitlich vom Reich geleitet werden sollte. Es war natürlich, daß die leitenden Stellen Berlins nicht zu früh zu stark hervortreten durften.“ (Ludendorff: Meine Lebenserinnerungen, I, S. 220 f.). Geßler berichtet über Ludendorffs Kontakt zu v. Seeckt: „Bald nach dem Einmarsch der Franzosen in die Ruhr erschien er in Berlin bei Seeckt, um die ‚Kampfverbände‘, deren tatsächlicher Führer er war, für den von ihm erwarteten Krieg zur Verfügung zu stellen, wohl unter seinem Kommando. Aber Seeckt eröffnete ihm kühl, daß er der militärische Führer sei und daß sich ihm gegebenenfalls alle unterzuordnen haben; besondere Organisationen würden nicht geduldet. Ludendorff ist in tiefer Verstimmung abgezogen, wie mir Seeckt mit unverhohlener Genugtuung erzählte.“ (Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, 1953, S. 265 f. Vgl. dazu auch Meier-Welcker: Seeckt, 1967, S. 359 f.). Die von Rossbach beantragte Vernehmung v. Seeckts vor dem Staatsgerichtshof kommt nach langem Hin und Her schließlich doch nicht zustande, so daß keine völlige Klarheit über die Abmachungen Seeckts mit Ludendorff u. a. Deutschvölkischen zu gewinnen ist. S. dazu auch die Darstellung von Caro und Oehme: Schleichers Aufstieg, 1932, in der aus den Verhandlungen vor dem Staatsgerichtshof und vor dem Feme-Untersuchungsausschuß des RT ausgiebig zitiert wird.
Der Vorsitzende brach hier ohne weiteres die Erörterung ab und ließ die Öffentlichkeit wiederherstellen. Während das Publikum wieder den Saal betrat, erhob sich Rechtsanwalt Herold nochmals und sagte, er hoffe von dem Staatsgerichtshof richtig im Sinne der von ihm gestellten Beweisanträge verstanden zu sein. (Möglicherweise hatte auch Herr Herold den Eindruck, daß seine anfänglichen Ausführungen und Anträge durch die Darstellung des Herrn von Graefe wesentlich abgeschwächt worden waren.)
Der Vorsitzende erklärte darauf (halb ironisch), soviel in den schwachen Kräften des Gerichtshofs liege, sei der Herr Verteidiger richtig verstanden worden.
Dr. Conrad