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[1161]1. Rheinlandfrage.
Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung. Er teilte mit, daß er gestern (21. 11.) eine Besprechung mit Herren des Bergbaulichen Vereins über die von ihnen mit der Micum geführten Verhandlungen gehabt habe und daß Poincaré verlangt habe, daß alle Leistungen auf die Pfänderkasse angerechnet würden2.
Der Reichskanzler teilte ferner mit, daß Vertreter der Koalitionsparteien gestern bei ihm gewesen seien3 und entscheidendes Gewicht darauf gelegt hätten, daß die Reichsregierung sich klar über die Rheinlandfrage äußere und daß es eine unterschiedliche Behandlung des besetzten und des unbesetzten Gebietes in der Frage der Erwerbslosenfürsorge nicht geben dürfe4. Der Abgeordnete von Guérard habe besondere Bedeutung der Frage der Erstattung der Quartierlasten im besetzten Gebiet beigemessen.
Der Reichskanzler beabsichtige, in der heutigen Reichstagssitzung ungefähr folgende Worte über die Rheinlandfrage zu sagen: Die Bemühungen der Reichsregierung seien vor allem darauf gerichtet gewesen und zielten auch jetzt noch darauf hin, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Soweit es sich im besetzten Gebiet lediglich um die normale Erwerbslosigkeit handle, wolle und könne die Reichsregierung helfen; die Unkosten für die künstliche Erwerbslosigkeit werde die Reichsregierung nicht tragen können.
Der Reichsarbeitsminister hielt diese Formulierung des Reichskanzlers für annehmbar, äußerte nur Bedenken in der Richtung, daß der Reichstag diese Stellungnahme nicht für klar und bedingungslos genug ansehen werde. Er bat den Reichskanzler, noch besonders in seiner Rede zum Ausdruck zu bringen, daß auch die Preußische Staatsregierung den Standpunkt der Reichsregierung in der Frage der Erwerbslosenfürsorge für das besetzte Gebiet teile5.
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Zu den entsprechenden Ausführungen des RK am 22.11.23 s. RT-Bd. 361, S. 12186 ff.
Nachdem der Reichsminister der Finanzen bezüglich der Frage der Erstattung der Quartierlasten ausgeführt hatte, daß auch hier einmal der Zeitpunkt kommen müsse, in dem die Reichsregierung nicht mehr zahlen könne, da sie aus dem besetzten Gebiet auch Einnahmen erzielen müsse und nicht bloß Ausgaben für dasselbe aufwenden dürfe, kam er auf die Verhandlungen des Bergbaulichen Vereins mit der Micum zu sprechen. Er führte aus, daß in dem § 17 des Vertragsentwurfes die strittigen Vorschriften über die Anrechnung der Reparationskohlen und der Kohlensteuer enthalten seien und stellte die Anfrage Vöglers zur Debatte, ob ohne den § 17 der Vertrag unterzeichnet werden könne.
Gesandter Dr. Ritter vertrat die Auffassung, es sei jetzt eine günstige Gelegenheit, die ganze Sache vor die Reparationskommission zu bringen. Er schlug vor, die Ermächtigung zur Unterzeichnung des Vertrages ohne den[1162] § 17 zu geben und gleichzeitig der Reparationskommission von dem ganzen Sachverhalt Mitteilung zu machen.
Staatssekretär Dr. Müller stimmte diesen Darlegungen in der Hauptsache zu.
Nachdem der Reichswirtschaftsminister vorgeschlagen hatte, die Ermächtigung zur Unterzeichnung des Vertrages einschließlich des § 17 zu geben und gleichzeitig der Reparationskommission den Sachverhalt mitzuteilen, wies der Staatssekretär Frh. v. Maltzan noch besonders darauf hin, daß der von dem Gesandten Ritter vorgeschlagene Weg auch aus außenpolitischen Gründen gut sei.
Auch der Reichskanzler hielt den von dem Gesandten Ritter vorgeschlagenen Weg für den zweckmäßigsten6.
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Ritter forderte Dr. Freundt, Vöglers Privatsekretär, auf, diesem sofort telefonisch mitzuteilen, daß die RReg. damit einverstanden sei, wenn § 17 und die Frage der Anrechnung nicht im Vertrag behandelt würden. Am Rechtsstandpunkt werde festgehalten und es werde erwartet, daß er der Gegenseite schriftlich dargelegt werde. „Die im gestrigen Schreiben hinsichtlich der künftigen Erstattung der an die Pfänderkasse abgeführten Abgaben gegebene Zusage wird auf die Kohlenlieferungen ausgedehnt“ (R 43 I/453, Bl. 281). Zum Fortgang s. Dok. Nr. 281.
In der Frage der Erstattung der Quartierlasten wies der Reichsminister des Innern darauf hin, daß es sich empfehle, keine allgemeine Regelung zu treffen, sondern von Fall zu Fall zu entscheiden.
Der Reichsminister der Finanzen und der Reichsminister für die besetzten Gebiete waren übereinstimmend und ohne Widerspruch der übrigen Mitglieder des Kabinetts der Auffassung, daß die gesamten Fragen des besetzten Gebietes, namentlich die finanziellen Fragen, noch einmal eingehend im Kabinett erörtert werden müßten7.