1.102 (lut2p): Nr. 271 Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem französischen Botschafter zur Besatzungsstärke im Rheinland am 26. Januar 1926, 17 Uhr

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Nr. 271
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem französischen Botschafter zur Besatzungsstärke im Rheinland am 26. Januar 1926, 17 Uhr1

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Die vom 26. 1. datierte Aufzeichnung ist nicht unterschrieben, aus dem Inhalt geht jedoch zweifelsfrei hervor, daß sie vom RK verfaßt wurde.

Nachlaß Luther 362

Heute nachmittag 5 Uhr kam auf meine Bitte der französische Botschafter Herr de Margerie zu mir. Ich habe zur Einleitung des Gesprächs ihm gesagt, daß ich das Bedürfnis hätte, ihm gegenüber persönlich zu bestätigen, was Herr Stresemann und Herr v.Schubert ihm bereits über unsere Auffassung in der Frage der Besatzungsstärke der zweiten und dritten Zone mitgeteilt hätten2.[1059] Um den Ausgang des annähernd eine Stunde dauernden Gesprächs vorwegzunehmen, sei festgehalten, daß der Botschafter seinerseits damit schloß, er werde Herrn Briand gegenüber präzisieren, daß ich mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen hätte, daß unsere Auffassung über die Herabsetzung der Besatzungsstärke nicht nur auf den Besprechungen in Locarno3 beruhe, sondern einen Spezialtitel durch die Note der Botschafterkonferenz4 bekommen hätte. Ich hatte darauf hingewiesen, daß diese Note einen politischen oder sogar juristischen Spezialtitel gewähre und daß in ihr drei Begriffe vorhanden seien, die jeder auch für sich allein eine Richtung angeben, die dem bekannten Beschluß oder Gutachten der Unterkommission5 entgegengesetzt sei, nämlich

2

Vgl. dazu ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 59, dort auch Anm. 1 Zur Frage der Truppenreduzierung im besetzten Gebiet telegrafierte Stresemann am 26. 1. (Telegramm Nr. 109, ab Berlin 15.40 Uhr) an Botschafter v. Hoesch: „Haltung der Besatzungsmächte in Frage Besatzungsstärke hat für neues Kabinett, insbesondere für Reichskanzler und mich, außerordentlich ernste Situation geschaffen. Gleichviel, wie hoch man die rein sachliche Bedeutung einer Verminderung der Truppen veranschlagen will, stehen wir vor der Tatsache, daß klare Zusage der Botschafterkonferenz unerfüllt geblieben ist. Reichskanzler und ich können unmöglich vor Parlament treten, um die These zu verteidigen, daß wir über diese Tatsache aus diesen oder jenen Gründen hinwegsehen und jetzt Antrag auf Zulassung zum Völkerbund stellen müßten. Für diesen Standpunkt würden wir, ganz abgesehen von Opposition, auch bei Regierungsparteien keinen Rückhalt finden.“ Er habe daher die Botschafter D’Abernon und de Margerie sowie den belg. Gesandten Everts in Privatschreiben dringend ersucht, ihm unverzüglich die Ermächtigung zu erwirken, vor den RT folgende Erklärung abzugeben: „1. Die Regierungen der Besatzungsmächte haben, entgegen gewissen Pressemeldungen, bisher keine Entschließung in dem Sinne gefaßt, daß die Stärke Besatzungstruppen in zweiter und dritter Zone 75 000 Mann oder annähernd gleiche Zahl betragen soll. 2) Besatzungsmächte halten an der in der Note Botschafterkonferenz 14. November gegebenen allgemeinen Zusicherung fest, daß sie eine ‚réduction des effectifs se rapprochant des chiffres normaux‘ vornehmen werden. Sie werden dementsprechend Stand Besatzungstruppen in zweiter und dritter Zone weiter vermindern, und zwar mit dem Ziel, diesen Stand, sobald die Verträge von Locarno in Kraft getreten sind, der Stärke der deutschen Truppen anzunähern, die dort im Jahre 1914 vor Ausbruch des Krieges in Garnison standen.“ Stresemann ersucht Botschafter v. Hoesch abschließend, Briand auf die Dringlichkeit dieser Ermächtigung hinzuweisen (ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 60). S. auch unten Anm. 7.

3

S. Anm. 1 zu Dok. Nr. 184.

4

S. Anm. 1 zu Dok. Nr. 223.

5

Luther bezieht sich hierbei wohl auf einen Bericht des „Daily Telegraph“ vom 13. 1., in dem mitgeteilt wurde: Die Unterkommission der Botschafterkonferenz habe beschlossen, die all. Truppenstärke im bes. Gebiet wie folgt zu bemessen: Frankreich 60 000, Großbritannien 8000, Belgien 7000 Mann. Der Beschluß bedürfe noch der Bestätigung durch die Botschafterkonferenz. Die Zeitung fügte noch hinzu, daß der Beschluß geeignet sei, in Dtld. große Enttäuschung hervorzurufen. Er lasse erkennen, daß es Briand nicht gelungen sei, eine weitere Herabsetzung der Truppenstärke durchzusetzen (nach „Tägliche Rundschau“ vom 13. 1.).

1.

fühlbare Ermäßigung,

2.

Annäherung an Normalziffern,

3.

Wiederzurverfügungstellung von öffentlichen Gebäuden usw. an Deutschland.

Ich habe dabei besonders betont, daß, selbst wenn die deutsche Auslegung des Begriffs „Normalziffern“ unrichtig sei, was ich nur für Zwecke der Diskussion als möglich anerkennen könne, die beiden anderen Begriffe die deutsche Auffassung von der Unrichtigkeit des Unterkommissionsbeschlusses begründeten. Es könne aber auch kein Zweifel an der Richtigkeit der Auslegung des Begriffs „Normalziffern“ sein, da ja Herr Berthelot diese Auffassung vorher gekannt und ihr nicht widersprochen habe, wenn er ihr auch nicht ausdrücklich zugestimmt habe6, und da ich gar nicht wüßte, was der Begriff „Normalziffern“ sonst bedeuten solle. Der Botschafter gab mir zu, daß auch er nicht wisse, was die Botschafterkonferenz sich bei dem Begriff „Normalziffern“ gedacht habe. Er versuchte, von sich aus einige Auslegungsmöglichkeiten wie Ziffern, die den Bedürfnissen angepaßt wären, oder Ziffern, die allgemein als normal befunden[1060] würden, ließ aber diesen Versuch sofort wieder fallen. Das Hauptgewicht legte der Botschafter darauf, daß eine Entscheidung ja überhaupt noch nicht getroffen sei, und versuchte, mich immer wieder darauf hinzulenken, ich müßte dem Reichstag gegenüber erklären, daß von den Wünschen, die wir in Locarno geäußert hätten, etwa dreiviertel erfüllt seien und nur diese Frage der Besatzungsstärke in der zweiten und dritten Zone noch offen sei. Im Zusammenhang betonte er, daß Herr Briand über die Erregung, die die Angelegenheit in Deutschland hervorgerufen habe, überracht sei und daß auch er die Erregung übertrieben fände, zumal angesichts des Umstandes, daß doch viele deutsche Wünsche in Erfüllung gegangen seien, was die deutsche Öffentlichkeit vergessen zu haben scheine. Ich habe erwidert, daß ich es bedauerte, daß ein Teil der deutschen Öffentlichkeit, der aber kein zu großer Teil sei, das bereits Erreichte zu vergessen scheine, da auch ich in meiner Regierungstätigkeit unter diesen Umständen litte. Ich litte umsomehr darunter persönlich, als ich ja, anders wie z. B. Herr Stresemann, keine Partei hinter mir hätte und infolgedessen ausschließlich auf die Darbietung von Tatsachen angewiesen sei. Auf der anderen Seite könnte ich aber nicht unbeachtet lassen, daß das, was durch den „Daily Telegraph“ bekanntgeworden sei, nicht etwa nur die Tatsache des Offenstehens der fraglichen Angelegenheit bedeute, sondern umgekehrt eine Auslegung der Note der Botschafterkonferenz, die der unzweifelhaft richtigen Auslegung durchaus entgegengesetzt sei. Der Botschafter gab mir zu, daß alle meine Einwendungen berechtigt sein würden und, wie er sich ausdrückte, sogar Vorwürfe berechtigt sein würden, wenn eine Entscheidung bereits getroffen sei. Aber das sei eben nicht der Fall. Es handle sich ja nur um einen sachverständigen Kreis. Überdies müsse sich ja doch das französische Außenministerium über diese Frage mit den Militärs und auch den Alliierten in Verbindung setzen, wobei er übrigens bemerkte, daß er den Ausdruck „Alliierte“ nur der Einfachheit halber brauche, da er nicht mehr zeitgemäß sei. Ich erwiderte, daß die Verbindung mit den Militärs und mit den anderen Mächten doch sicherlich schon vor der Note der Botschafterkonferenz stattgefunden habe und daß die Note ja die Entscheidung im Prinzip bereits treffe. Nicht gesprochen hat der Botschafter mir gegenüber davon, daß die Note irgendeinen Zeitpunkt für die Ausführung der Truppenherabsetzung nicht enthalte. Er hat mir auch keine Mitteilung von der heute Herrn von Schubert durch ihn übermittelten Antwort Briands auf den Brief des Herrn Stresemann gemacht7. Wohl aber hat der Botschafter davon gesprochen,[1061] daß das ganze Vertragswerk von Locarno ja noch nicht in die Wirklichkeit überführt sei, da Deutschlands Aufnahmeantrag in den Völkerbund noch ausstehe, und daß auch die Franzosen Einwendungen zu erheben hätten gegen die Art, wie Deutschland die entgegenkommende Stellungnahme der Alliierten in den Entwaffnungsfragen zögernd erledige8. Ich bin auf diese beiden Punkte meinerseits nicht eingegangen. Da der Botschafter vielfach von dem guten Willen des Herrn Briand sprach, so habe ich meinerseits diesen guten Willen auch ausdrücklich anerkannt und daran angeknüpft, daß Herr Briand, wie ich wüßte, ja das größte Interesse einer Gesamtregelung der europäischen Verhältnisse entgegenbringe, die sowohl für Frankreich wie für Deutschland die Entwicklung aller wirtschaftlichen Kräfte fördere. Ich habe im Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, daß, wenn wir nicht etwas Positives im Sinne der Botschafternote in die Hand bekämen, ich durchaus mit einem Scheitern der gegenwärtigen Regierung rechnen müßte und daß ich nicht wüßte, wie sich die Regierungsverhandlungen in Deutschland dann gestalten würden und welche Rückwirkungen solche Zögerung der Regierungsbildung auf die wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringen würde. Der Botschafter erwiderte darauf, daß, wenn ein Werk wie das große Werk von Locarno an einer solchen Einzelfrage im Reichstag scheitere, er dann glauben müsse, an Deutschland zweifeln zu sollen. Ich habe darauf entgegnet, daß ein Scheitern der Regierung nicht identisch sei mit einem Scheitern der großen Linie der Politik, daß aber selbstverständlich große Schwierigkeiten entstehen würden. Ich habe weiter gesagt, daß, wenn eine deutsche Regierung deswegen scheitere, weil es ihr nicht gelinge, die Erfüllung eines klar gegebenen Versprechens zu erreichen, ich darin keinen Grund zum Verzweifeln an Deutschland sähe. Der Botschafter erwiderte, daß, wenn die Regierung scheitere, ja damit die Väter des Vertrages von Locarno scheitern würden, und zwar damit dann praktisch diejenigen Regierungskräfte ausgeschaltet würden, die als bisher einzige Regierung die Politik von Locarno gemacht hätten. Ich habe dem Botschafter darauf bestätigt, daß Herr Stresemann und ich die hauptsächlichsten Förderer des Werkes von Locarno gewesen seien. An einer Stelle des Gesprächs hatte ich Veranlassung darauf hinzuweisen, daß die Deutsche Regierung von sich aus selbstverständlich nichts getan habe, um eine Erregung der deutschen öffentlichen Meinung über die Besatzungsfrage hervorzurufen. Das gehe schon daraus hervor, daß die Deutsche Regierung ja schon längst im diplomatischen Verkehr gewisse Zögerungen bemerkt habe, die sie sehr besorgt gemacht hätten, daß aber trotzdem in der deutschen Öffentlichkeit keine Bedenken aufgetaucht seien, weil vielmehr die deutsche Öffentlichkeit sich auf die Einlösung der Versprechungen der Botschafternote verlassen habe, die ja einen wesentlichen Teil in meiner die Annahme des Werks von Locarno empfehlenden großen Reichstagsrede9 gebildet habe. Der Botschafter hatte vorher von sich aus ausgesprochen, daß er noch bei seinem letzten Aufenthalt in Paris von der ganzen Angelegenheit nichts gewußt habe, daß[1062] er bei seinen Unterhaltungen mit Briand die ganze Frage überhaupt nicht berührt habe. Erst als er nach Berlin zurückgekehrt sei, habe er die Erregung in Deutschland festgestellt. Er glaube, daß das am gleichen Tage gewesen wie das Erscheinen der Notiz im „Daily Telegraph“. Die ganze Unterhaltung ist in gehaltenen Formen geführt worden. Als der Botschafter zur Kritisierung der deutschen öffentlichen Meinung, die sich errege, obwohl eine Entscheidung noch nicht gefallen sei, das Bild von Hunden brauchte, die bellen, bevor man sie auf die Pfote getreten habe, habe ich mich so verhalten, daß der Botschafter ein Entschuldigungswort wegen des Vergleichs anschloß.

6

Vgl. dazu Dok. Nr. 223, dort bes. Anm. 3.

7

Gemeint ist der Privatbrief Stresemanns an de Margerie vom 23. 1. (vgl. Anm. 2). Zur Stellungnahme Briands, der sich mit Punkt 1 der von Stresemann beabsichtigten RT-Erklärung zur Truppenverminderung einverstanden erklärt, den 2. Punkt aber durch eine nicht ausreichende Formel ersetzen will, vgl. ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 62. – Erneute Bemühungen v. Hoeschs führen schließlich am 27. 1. zum Einverständnis Briands (vgl. ebd. Dok. Nr. 62, Anm. 4) mit der folgenden, von Stresemann dann auch im RT (28. 1.) verlesenen Fassung des Punktes 2: „Die Besatzungsmächte, besonders Frankreich, bleiben bei der Auffassung, die sie zu wiederholten Malen im letzten Herbst in Verbindung mit der Note der Botschafterkonferenz vom 14. November 1925 zum Ausdruck gebracht haben. Sie sind dabei, die Einzelheiten des Problems zu prüfen mit dem Ziele, die Zahl der Besatzungstruppen in sehr kurzer Zeit auf das denkbar geringste Maß herabzumindern, derart, daß der in der Note der Botschafterkonferenz vorgesehene Zustand verwirklicht werden wird, sobald die Verträge von Locarno in Kraft getreten sind.“ (RT-Bd. 388, S. 5228 ).

8

Vgl. den Bericht des RKom. und Vertreters der RReg. gegenüber der IMKK Generalleutnant v. Pawelsz an den RK vom 22. 1. in: ADAP, Serie B, Bd. I, 1, Dok. Nr. 52.

9

RT-Rede Luthers vom 23.11.25 (RT-Bd. 388, S. 4475  ff.).

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