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Deutsch-polnische Handelsvertragsverhandlungen.
Reichsminister a. D. Dr. Hermes berichtete über den Verlauf seiner letzten Verhandlungen in Warschau1. Er habe den Polen am 14. Oktober eine Note überreicht, in der er die Sachlage vom deutschen Standpunkt klarlegte und den Wunsch aussprach, daß die Polen ihre Zugeständnisse näher angeben sollten2. Die Erfüllung der weitgehenden polnischen Wünsche wegen der Einfuhr von Fleisch und lebendem Vieh3 habe er bei den schwierigen deutschen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in Aussicht stellen können. Dagegen habe er angedeutet, daß hinsichtlich der Einfuhr von Schweinefleisch und Kohlen[155] Verhandlungen über die im Stresemann-Zalesky-Abkommen4 gezogenen Grenzen hinaus möglich seien.
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Polen hatte überraschend eine Note überreicht, in der es unter Berufung auf die Genfer Konvention von 1922 Freiheiten im Warenverkehr verlangte. Als deutscherseits das Einverständnis erklärt worden war, wurde von Polen auf absolute Freiheit des Warenverkehrs gedrängt. (Bericht von Hermes anläßlich der Besprechung von Vertretern der Industrie und der Landwirtschaft am 7. 11. über die deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen. In dieser Besprechung sollte ein Kompromiß für die grundsätzlichen Gegensätze beider Interessenrichtungen gefunden werden. Eine als „streng vertraulich“ bezeichnete Niederschrift über diese Besprechung hatte MinR Feßler von Vertretern der Industrie erhalten. R 43 I/1107, Bl. 253-269, hier: Bl. 253-255).
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Zur Verhandlungsführung des deutschen Delegationsleiters in dieser Situation bemerkte Gesandter Rauscher, Hermes habe den Bogen seiner Taktik überspannt und dadurch die günstige deutsche Situation, die auf Grund der überhöhten polnischen Wünsche entstanden sei, verpaßt. „Auf Vorschlag des Herrn Hermes wurde die Stellungnahme des handelspolitischen Ausschusses verworfen und ein Entgegenkommen formuliert, das keines war, insbesondere als keines erscheinen konnte in der gezwungenen Diktion seiner unglücklichen letzten Note. Denn da ist nur zu lesen, daß wir alles ablehnen, was die Polen forderten, und daß wir lediglich bereit seien, über eine Erhöhung der im Stresemann-Jackowski-Abkommen fixierten Fleisch- und Kohlen-Kontingente hinauszugehen, etwas, was der feierlichen Notenform wirklich nicht bedurfte und selbstverständlich gewesen wäre. Ich darf bemerken, daß Herr Hermes persönlich ja noch weniger verlangte, nämlich lediglich das Zugeständnis der Seeschlachthäuser, was die Polen in Verbindung mit der kategorischen Ablehnung sämtlicher anderer Forderungen erst recht als Verhöhnung empfunden hätten“ (18.10.28; Schreiben an StS v. Schubert, R 43 I/1107, Bl. 165-172, hier: Bl. 167).
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Nach den Ausführungen von Hermes am 7. 11. (s. o. Anm. 1) beliefen sich die polnischen Forderungen auf „1. die Zulassung von Schweine- und Rindfleisch ohne jede Kontingentierung und Einschränkung hinsichtlich des Verwendungszweckes, 2. 50 000 Stück lebendes Hornvieh jährlich, 3. 600 000 Stück lebende Schweine jährlich […]“ (R 43 I/1107, Bl. 253-269, hier: Bl. 254).
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Gemeint ist das Stresemann-Jackowski-Abkommen.
Der Leiter der polnischen Delegation5 habe nach Durchsicht der Note sofort erklärt, daß ihr Inhalt für Polen unbefriedigend sei, und wegen der Möglichkeiten des Entgegenkommens weitere Aufklärungen gefordert6. Darauf habe er geantwortet, daß sich die deutsche Regierung mit dieser Frage noch nicht erschöpfend befaßt habe, daß er aber in der angedeuteten Richtung erhebliche Möglichkeiten sehe. Er habe sich auch bereit erklärt, den von Herrn von Twardowski geäußerten Wunsch kontingentsfreier Einfuhr von Schweinen in die Fleischwarenfabriken und eines kleinen Kontingentes für lebende Schweine, der Reichsregierung zu unterbreiten7. Der Einfuhr von Schweinen in die Seegrenz-Schlachthöfe lege Polen keine große Bedeutung bei.
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v. Twardowski.
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Dieser Satz lautete zunächst: „Er habe dem Leiter der polnischen Delegation die Note vom 14. Oktober überreicht. Dieser habe sofort erklärt, daß ihr Inhalt für Polen unbefriedigend sei und wegen der Möglichkeit des Entgegenkommens weitere Aufklärungen gefordert werden.“
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v. Twardowski hatte – nach dem Bericht von Hermes am 7. 11. – persönlich erklärt, das „Mindestmaß der deutschen Zugeständnisse“ müsse sein: „1. unkontingentierte Fleischeinfuhr für Wurstfabriken, 2. kleines Kontingent lebender Schweine, 3. hohes Kohlenkontingent.“ (R 43 I/1107, Bl. 253-269, hier: Bl. 254). v. Twardowski hatte aber – wie Rauscher in seinem Schreiben vom 18. 10. meinte – gegenüber Hermes „die zu erwartenden Konzessionen, insbesondere Belieferung der Wurstfabriken, bei der Überreichung seiner Note schon jetzt madig zu machen versucht […], so daß die Wirkung erweiterter Konzessionen heute, wenn nicht in Frage gestellt, so doch wesentlich abgeschwächt erscheint“ (R 43 I/1107, Bl. 165-172, hier: Bl. 167f).
Herr von Twardowski habe ihm dann vor seiner Abreise zwei Noten überreicht. In der ersten erklärte Polen, daß es sich nicht um theoretische Auseinandersetzungen, sondern um eine praktische Lösung der schwebenden Fragen handele. Wenn Deutschland die wichtigsten polnischen Handelsartikel zur Einfuhr nach Deutschland nicht zulasse, so seien weitere Verhandlungen der Delegationen für den Augenblick gegenstandslos8. Kontingente ließen sich nicht mit veterinärpolizeilichen Erwägungen begründen.
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Zu dieser Frage meinte Rauscher: „Gerade weil wir zahlreiche und wichtige Forderungen der Polen ablehnen mußten und dafür unsere guten Gründe hatten, war ich dafür, das Positive, das wir bieten könnten, so wirksam wie nur möglich zu gestalten und es mit einem Male und mit jedem Nachdruck auf den Tisch des Hauses zu legen. Ich glaubte, man müsse den Polen ganz ohne Rücksicht auf die Zugeständnisse, welche sie bisher gemacht haben, sagen: das sind unsere äußersten Zugeständnisse, darüber hinaus können wir nur noch in Einzelheiten gehen; auf dieser Basis müssen die gegenseitigen Konzessionen abgewogen werden. Ich glaube bestimmt, daß wir damit keinen Refus erhalten hätten, um so mehr, als wir dadurch den Polen die immer wieder von ihnen gewünschte Klarheit über Rahmen und Ausdehnung der Verhandlung gegeben hätten. Aber allerdings habe ich auch bei den zu machenden Zugeständnissen eben auch mit dem gerechnet, was die Polen unbedingt verlangen müssen und ohne welches der Vertrag für sie uninteressant wäre, d. h. hauptsächlich mit den lebenden Schweinen. Es ist dies für Polen nicht nur eine starke Prestigefrage, sondern für ihre gesamte Handelspolitik von größtem Wert, wenn sie darauf hinweisen können, daß sie, wenn auch mit allen möglichen Kautelen, die Erlaubnis haben, ihre lebenden Schweine in das veterinärpolizeilich reinlichste Land der Welt zu importieren. Dagegen hilft keine Berechnung von der materiellen Geringfügigkeit einer solchen Einfuhr von ein paar 1000 Schweinen, sondern diesen polnischen Standpunkt muß man akzeptieren oder ablehnen, je nachdem man den Vertrag will oder nicht“ (Schreiben an v. Schubert; R 43 I/1107, Bl. 165-172, hier: Bl. 168f).
Polen bitte, den bisherigen Standpunkt zu überprüfen.
[156] In der zweiten Note werde um die Zustimmung zur Veröffentlichung der deutschen Note vom 14. Oktober 1928 und der polnischen Antwortnote darauf gebeten.
Er habe zugesagt, daß er hierüber die Entscheidung der Reichsregierung herbeiführen werde.
Nach polnischen Presseäußerungen gewinne es den Anschein, als wenn Polen von der vereinbarten Grundlage für einen allgemeinen Handelsvertrag abkommen und einen modus vivendi schließen wolle.
Er werde die persönliche Fühlung mit dem polnischen Delegationsführer aufrecht erhalten. Dieser habe anscheinend bei seinen Vorschlägen im Ministerrat entscheidenden Widerstand gefunden. Zwischen den Leitern der Rechtskommission9 habe eine Unterredung stattgefunden, in der der polnische Vertreter erklärt habe, die Verhandlungen könnten auch in diesen Fragen jetzt nicht fortgesetzt werden, würden aber hoffentlich alsbald wieder aufgenommen. Die Zwischenzeit wolle Polen benutzen, um seine Paß- und fremdenpolizeilichen Verordnungen zu revidieren. Änderungen der Bestimmungen würden dem deutschen Leiter des Rechtsausschusses mitgeteilt werden.
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In der Rechtskommission wurden die Fragen der Grenzzonenverordnung und des Niederlassungsrechts behandelt, die durch polnische Bestimmungen des Jahres 1927 aktuell geworden waren.
Ministerialdirektor Ritter führte aus, die brüske Form der Unterbrechung der Verhandlungen lasse darauf schließen, daß Polen aus außenpolitischen Gründen die Fortsetzung der Verhandlungen nicht wünsche10. Es seien drei Fragen zu entscheiden:
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Hierzu sagte Hermes am 7. 11. (s. o. Anm. 1): „Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob Polen den Vertrag überhaupt ernstlich will. Es ist nicht zu verkennen, daß nach der Rückkehr Zaleskis von Genf und Paris eine politische Versteifung eintrat. Polen scheint an Vorteile bei den Reparations- und Räumungsverhandlungen zu denken und ist verstimmt darüber, daß ihm bisher nicht gelungen ist, sich in diese Verhandlungen einzuschalten. Der Gedanke eines Ost-Locarnos schwebt ihm immer noch vor. Aus diesem Grunde hat Polen den Abschluß des Vertrages im Augenblick offenbar nicht sehr eilig und will einen großen Vertrag nur abschließen, wenn es selbst erhebliche Zugeständnisse erhält. Wirtschaftlich bleibt aber Polen am Vertrage offensichtlich stark interessiert. Unbequem ist ihm lediglich die Regelung der Niederlassungsfrage in dem Vertrag, und es möchte aus innenpolitischen Gründen für Zugeständnisse in der Niederlassungsfrage wenigstens starke wirtschaftliche Vorteile herausholen“ (R 43 I/1107, Bl. 253-269, hier: Bl. 255).
1. Ob die Berliner Mitglieder der Handelsvertragskommission zurückberufen werden sollten,
2. ob der Veröffentlichung des Notenwechsels zugestimmt werden sollte,
3. welche weiteren materiellen Zugeständnisse gemacht werden könnten.
Er schlage vor, die Berliner Mitglieder der Handelsvertragsdelegation sofort abzuberufen. Dabei könne Minister Hermes dem polnischen Verhandlungsleiter telegraphisch davon Kenntnis geben mit dem Hinweis darauf, daß es sich um eine vorläufige Maßnahme handele und daß inzwischen über die Möglichkeiten eines weiteren Entgegenkommens im Kabinett beraten werden solle.
Die Veröffentlichung des Notenwechsels sei materiell nicht bedenklich. Es sei aber ungewöhnlich, mitten in internationalen Verhandlungen einen Teil[157] des Schriftwechsels bekanntzugeben. Die Polen könnten darauf hingewiesen werden mit dem Vorschlag, daß zu gegebener Zeit der gesamte Notenwechsel veröffentlicht werden sollte.
Eine Stellungnahme zu den materiellen Fragen sei noch nicht notwendig.
[Das RKab. erklärt sich mit den Vorschlägen des AA einverstanden.]