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[78]3. Entschädigungsfragen.
Graf Rantzau macht nähere Ausführungen hierzu14.
Erzberger: Note vom 5. November 191815 muß Grundlage unserer Taktik sein. Formeller Notenaustausch, dadurch völkerrechtlicher Vertrag schon abgeschlossen16. Belgien allerdings wohl ganz wieder herzustellen. Nordfrankreich etwas anders. Hier könnte Versuch gemacht werden, Ersatz von Schäden abzulehnen, die nach deutschen Friedensangeboten (12. Dezember 1916, Friedensresolution des Reichstags) entstanden sind. – Ferner anrechnen, was während des Waffenstillstands abgeliefert. Grundsatz für Zahlungsweise muß sein: Kleine Quoten, sehr lange Zeit. Besonders in der ersten Zeit kleine Quoten; zu begründen mit Fürsorge für die Hinterbliebenen usw. Chance, daß nach vielen Jahren Änderung sich von selbst ergibt. Zahlung nicht in Geld, sondern in Natura.
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Gemeint ist die Note Lansings vom 5.11.1918, in der die Stellung der All. und Wilsons zur Entschädigungsfrage präzisiert wurde (Waffenstillstand, I, S. 18 f.).
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Laut PA-Protokoll, S. 11 f. folgt hier: „Mithin müßten wir wohl auch den Schaden, den die feindliche Artillerie im besetzten Gebiet angerichtet habe, wieder gutmachen. Es sei wahrscheinlich, daß wir uns die Auferlegung einer Pauschalsumme gefallen lassen müßten. Zu betonen sei, daß nur der Privatschaden, nicht aber der Schaden am staatlichen Eigentum zu ersetzen sei.“
David: Eintrete ebenfalls für Note vom 5. 11. als Grundlage. Feinde werden allerdings andere Auslegung vorbringen. Es heißt nicht „durch deutsche Angriffe“, sondern „durch den deutschen Angriff“17. Man folgert: Deutschland verschuldete Angriffskrieg, daher Gesamtschaden zu ersetzen.
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Der zitierte Passus in der Lansing-Note vom 5.11.1918 lautete tatsächlich: „[…], daß Deutschland für alle durch seine Angriffe zu Wasser und zu Lande und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten soll.“ (Waffenstillstand, I, S. 18).
Dr. Bell: Müssen Stellung zur Schuldfrage nehmen. Zum Einmarsch in Belgien etwa erklären: Wir sind damals von falschen Voraussetzungen ausgegangen (1. Not kennt kein Gebot, 2. Geheimes Abkommen Belgiens mit Entente). Später hat sich Unrichtigkeit ergeben. Daher Entschädigungspflicht zugeben18.
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Weiter stimmte laut PA-Protokoll, S. 12 der Minister „für die Ausdehnung der Schadensersatzpflicht über eine lange Frist, da unser Wirtschaftsleben eine schnelle Abzahlung in Form einer Radikalkur nicht ertragen könne.“
Noske: Bin immer noch der Ansicht, in höchster Not schlägt man zu und hilft sich, wie man kann. Kann deutsche Schuld auch Belgien gegenüber nicht anerkennen19. Auch nicht bei Ubootkrieg; Folge der Hungerblockade. Lange Befristung der Zahlungen gut. China.
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Hier widersprechen sich die Texte der beiden Protokolle; laut PA-Protokoll, S. 13 hatte der RWeM erklärt, „daß wir für den in Belgien angerichteten Schaden aufkommen müßten, da wir unterlegen seien.“
Graf Rantzau: Ubootskrieg wollen wir mit Hungerblockade rechtfertigen. Über andere Schuldfragen noch besonders zu sprechen (Punkt 10).
Graf Bernstorff: Feinde werden entscheidenden Satz der Note vom 5. 11. getrennt betrachten20. Sie werden ferner sagen: Außer Wilsons Punkten kommt[79] in Betracht, daß Deutschland bestraft werden muß. Wir können antworten: 1. Haben Euch neutrale Kommissionen angeboten, 2. Ihr wolltet nur kämpfen gegen Autokratie und Militarismus, die jetzt beseitigt. Werden damit aber nicht durchkommen. Große Schuldfrage wird also doch kommen.
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Laut PA-Protokoll erklärte Bernstorff, der (in Anm. 17 zitierte) Satz aus der Lansing-Note vom 5.11.1918 sei so gefaßt, „daß die Entente Deutschland wahrscheinlich für alle Schäden verantwortlich machen werde, nicht nur in Schäden, die in den besetzten Gebieten verursacht worden seien, mithin auch den durch den U-Boot-Krieg verursachten Schaden. Man könne es aber versuchen.“
Gothein: Entschädigung aus U-Bootkrieg ablehnen, auch deshalb, weil kein Empfangsberechtigter nachzuweisen. Reeder sind durch Versicherung entschädigt, für Prämien durch Frachten. Versicherungsgesellschaften durch erhöhte Versicherungsprämien, so daß sie hohe Dividenden zahlten. – Starke Gegenforderungen erheben für völkerrechtswidriges Vorgehen in ihren und unseren Kolonien und gegen Auslandsdeutsche, Hungerblockade. „Durch fortgesetzte Blockade habt Ihr uns ruinieren wollen und das ist Euch gelungen.“ In England und Amerika zeigt sich Einsicht, daß wir keine großen Lasten tragen können.
Giesberts: Jährlich 4 Milliarden können wir nicht erarbeiten. Lebensstandard der deutschen Arbeiter und soziale Errungenschaften müssen gesichert bleiben. Diese Voraussetzung müssen wir aufstellen, unter Hinweis auf innerpolitische Kämpfe (Bolschewismus) usw.
Landsberg: Auf Gothein wird Entente antworten, daß doch die Schiffe jetzt fehlen. Schuld- und Entschädigungsfrage nicht zu trennen. Einmarsch in Belgien nicht Notwehr, aber Notstand. Notstand entbindet nicht vom Schadensersatz. Mit dieser Begründung Schadensersatzpflicht zugeben. – Wichtigkeit kleiner Raten.
ReichspräsidentEbert: Was ist die äußerste Grenze dessen, was wir tragen können?
Graf Rantzau: Ermächtigung zur Erklärung, daß wir sofort abbrechen, wenn Forderungen kommen, die unsere Existenz unterbinden?
Erzberger: Festhalten, daß nach Note vom 5. 11. Ersatzpflicht nur für Schaden im besetzten Gebiete. Davon nicht abweichen. Dann kommt es auf Gegenforderungen nicht an. Die werden doch nicht anerkannt21.
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Weiterhin teilte Erzberger laut PA-Protokoll, S. 17 mit, „daß eine engl. Industrievereinigung diese [die Fähigkeit Deutschlands zum Schadensersatz] in einer Veröffentlichung sehr hoch bewertet habe. Diese Vereinigung habe verlangt, Dtl. solle auf Rohprodukte verschiedener Art auf die Dauer von 40 Jahren hohe Einfuhrzölle legen. Diese würden einen Ertrag von 600 Mio M jährlich oder von 480 Mrd. M in 40 Jahren abwerfen. Würde eine solche Forderung verwirklicht, so sei Dtl. lahmgelegt.“
Graf Rantzau: Einverstanden.
Erzberger: Reichsentschädigungskommission hat berechnet, was wir danach zahlen müssen, insgesamt 20–25 Milliarden. Darauf anrechnen Lieferungen aus Waffenstillstand, evtl. abgetretene Kolonien. Dann erträgliche Summe. Zahlung in Natura. Darlehen fordern zur Anschaffung der Rohstoffe usw. Pauschalierung ablehnen und auf Spezialisierung drängen. Beachten, daß französisches Kabinett rein kapitalistisch; Hauptsorge, Einkommen des kleinen Rentners nicht zu belasten.
[80] ReichspräsidentEbert: Veranlaßt Verlesung der Note vom 5. 11.
Dr. David: Letzter Satz22 nur auf Nordfrankreich und Belgien zu beziehen.
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Siehe Anm. 17.
Erzberger: Ebenso. Mit andern besetzten Ländern war schon Waffenstillstand geschlossen.
Gothein: 20–25 Milliarden wohl in Gold berechnet? Das wäre bei gegenwärtiger Valuta das Doppelte.
Erzberger: Nein, das sind Herstellungskosten.
Gothein: Sicher zu gering berechnet. Arbeitskosten jetzt sehr hoch.
Schiffer: Note vom 5. 11. enthält unlöslichen Widerspruch. „Besetztes Gebiet“ und „Angriffe zur See“ läßt sich nicht vereinigen.
Dr. David: Doch. Schaden, der Belgien von der See her zugefügt ist.
Schiffer: Hauptsache wird sein, was wir zahlen können. Vorweg festhalten, daß Verpflichtungen im Innern und gegen Neutrale erfüllt werden müssen. Dann bleibt uns keine Zahlungskraft von Bedeutung übrig23. Berechnung der Entschädigungskommission wird mit Hohn begrüßt werden. Abschätzungen können sehr weit abweichen. „Konkurs oder Erbteilung“? – Durch U-Bootkrieg geschädigt zwar nicht Privateigentümer, aber doch wohl Konsumenten.
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Hier folgt im PA-Protokoll, S. 22: „In diesem Zusammenhang teilt der Minister einen Gedankengang zur streng vertraulichen Kenntnis des Ministerrats mit, mit der Bitte um äußerste Geheimhaltung: England und Frankreich legten Wert darauf, daß in Dtl. mit Rücksicht auf seine Leistungsfähigkeit keine Steuerflucht ins Ausland stattfände. Vielleicht wäre es möglich, gemeinsam mit der Entente die Neutralen zu zwingen, aufzudecken, welche dt. Werte in neutralen Ländern seien. Auf diese Weise ließe es sich ermöglichen, das aus Dtl. nach dem neutralen Ausland abgewanderte Kapital für uns nutzbar zu machen.“
Simons: Stimme Erzberger-David’s Auslegung der Wilsonschen Note zu. Boden für die Auslegung fester, als Schiffer annimmt. Ersatzpflicht auch für das, was von Entente geschehen ist. Frankreich und Belgien haben durch Beschießung von der See und der Luft sehr gelitten24. Fassung allerdings absichtlich so, daß flüchtiger Leser zuerst an U-Bootkrieg und Luftangriff London denkt. Erst in zweiter Linie Verteidigung und Angriff aus Gesichtspunkt der Völkerrechtswidrigkeit. Wir müssen Forderungen der Gegner ganz wesentlich heruntersetzen. Ob die gezahlte Konkursquote 5 oder 75% beträgt, wesentlich für zukünftiges Ansehen des Kaufmanns. Aufstellung der Reichsentschädigungskommission vielleicht angreifbar. Schadet nichts. Müssen versuchen, Einzelfeststellung auf internationale Bahn abzuschieben. Erfordert natürlich lange Zeit. Daneben wird vorläufige Feststellung der in der ersten Zeit zu zahlenden Beträge notwendig sein.
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Weiter lautet das PA-Protokoll, S. 22: „Wir müßten also auch für den Schaden aufkommen, der durch die Beschießung der belgischen Küste durch die Engländer vom Meere aus entstanden sei. Er [Simons] sei der Ansicht, daß die Fassung von der Entente absichtlich zweideutig gemacht worden sei.“
Rogge: Feindliche Angriffe auf Zeebrugge und Ostende haben beträchtlichen Schaden angerichtet. – Möglichst spezialisieren lassen. – Schadensersatzpflicht für U-Bootkrieg in Wilsons Punkten nicht ausgesprochen. Gothein hat recht, daß Zivilschaden hier schwer zu konstruieren.
Dr. Bell: Unsere Unterhändler müssen Klarheit haben über Grenze der Leistungsfähigkeit. Dürfen Verhandlungen aber hierauf nicht abstellen, das wäre[81] gegen unser Prestige. Stimme vielmehr Simons zu. Falls entgegen unserer Auslegung Ersatz für U-Bootschaden gefordert wird, Gegenforderungen vorbringen für Hungerblockade usw. Erst dann, nicht früher. Kolonien in diesem Zusammenhang nicht erwähnen. Am besten Entschädigungsfrage erledigen, bevor Frage der Kolonien behandelt wird. Aufstellung des Wertes der einzelnen Kolonien ist vorbereitet.
Graf Bernstorff: Juristisch auf unserer Auslegung bestehen bleiben. Faktisch werden wir damit nicht durchkommen, denn sonst dürften Engländer keine Entschädigungen verlangen, sie tun es aber in jeder Ministerrede.
Reinhardt: Wiederherstellung besetzter Gebiete nach meiner Kenntnis der Zerstörungen sehr teuer, wird schon allein unsere Kräfte übersteigen25.
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Im PA-Protokoll, S. 24 folgt hier der Satz: „Unter Umständen sei daher die Auslegungsfrage nebensächlich.“
Dr. David: Schiffers Interpretation in keiner Weise zu rechtfertigen. Englischer Text darin klarer als deutscher. Wir dürfen uns auf keinen anderen Boden drängen lassen. Wollte Entente darauf bestehen, müßten wir es als nicht akzeptabel ansehen. – Für Serbien und Rumänien usw. folgt aus der Note vom 5. 11. keine Entschädigungspflicht für uns, da nur Entschädigung für Schaden infolge deutscher „Aggression“; Südstaaten aber nicht von uns angegriffen.
Gothein: Von Simons vorgetragener Standpunkt muß mit aller Schärfe vorgetragen werden. Danach allerdings vielleicht auch Ersatz für torpedierte belgische Handelsschiffe. – Fraglich, ob Schuldverpflichtungen gegen Neutrale und Inland vorweg befriedigt werden können. Einwand möglich, daß bei Konkurs alle Gläubiger ohne Rücksicht auf Alter der Forderung gleiches Recht haben. – Falls es zu Gegenforderungen kommt, müssen wir bei Kolonien nicht nur Verletzung der Kongoakte26, sondern auch alle andern völkerrechtswidrigen Schädigungen der Auslandsdeutschen vorbringen.
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Nach Art. 11 der Kongo-Akte vom 26.2.1885 war das Kongobecken im Fall kriegerischer Verwicklungen zwischen europäischen Staaten neutral.
Schiffer: Vorrecht der inländischen und neutralen Verpflichtungen zu fordern mit der Begründung, daß sonst insolvent, ruiniert, dem Bolschewismus verfallen; Wiederanknüpfung mit Neutralen unentbehrlich27. – Auslegung David führt zu innerlich unbegründeten Unterscheidungen, wo Angriff stattgefunden hat; daher angreifbar. Dennoch selbstverständlich einverstanden mit Vertretung des Standpunktes.
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Weiter heißt es im PA-Protokoll, S. 25: „Wenn Belgien das Recht habe, seinen Schaden gegenüber Dtl. geltend zu machen, so sei nicht einzusehen, warum nicht auch England Schadensersatzansprüche gegen uns geltend machen dürfe. Es müsse unter allen Umständen vermieden werden, daß die in dem Ministerrat geltend gemachten Bedenken betreffend die Auslegung der Lansing’schen Note in die Öffentlichkeit gelangten.“
David: Unterscheidung sehr wohl begründet. Deutschland gilt als Angreifer auf Belgien und Frankreich, nicht auf England, das Deutschland den Krieg erklärt hat. Da fällt Wilsons moralische Begründung fort.
ReichspräsidentEbert: Feststelle Einigkeit, daß Note vom 5. 11. in der günstigsten Auslegung zu Grunde gelegt werden soll. Dabei übrigens auch zu berücksichtigen Wilsons Anspruch, daß keine Entschädigung der Kriegskosten,[82] sondern Wiedergutmachung des Schadens in Belgien und Nordfrankreich28. Unsere Berechnungen des Schadens vorbereiten, ebenso für den Fall des Abweichens von dieser Basis unsere Materialien für Gegenforderungen. Endlich Material für die Beurteilung der äußersten Grenze unserer Leistungsfähigkeit. Mir zweifelhaft, ob Bells Vorschlag vorläufiger Außerachtlassung kolonialer Gegenforderungen taktisch richtig29.