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6. Oberschlesien.
Der Herr Reichskanzler teilt mit, daß soeben der französische Botschafter bei ihm war, um über Oberschlesien zu sprechen. Der Botschafter habe eine gemäßigte Sprache geführt.
Durch zwei Vorfälle seien in der oberschlesischen Frage Schwierigkeiten entstanden. 1. durch den Vorstoß des Selbstschutzes bei Kandrzin-Kosel5, 2. durch ein nächtliches Patrouillengefecht des Selbstschutzes bei Kalinow, wobei 14 Franzosen gefangen eingebracht wurden, darunter 2 verwundet6. Die Gegenseite verlange, daß der General Hoefer sich wegen des Vorfalls zu 2) entschuldige.
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Dieser Vorstoß an der südlichen Annabergfront hatte am 4.6.1921 begonnen und endete am 6.6.21 (s. Hoefer: Oberschlesien, S. 229 ff.).
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Der Vorfall wurde am 7.6.21, 14 Uhr durch LegR v. Moltke wie folgt aus Oppeln berichtet: „Unsere Posten in Kallinow wurden während der ganzen Nacht durch polnische Trupps, die sich in den Kornfeldern näherten, beunruhigt. Der Führer entschloß sich darauf, eine Patrouille nach Rosniontau vorzuschicken. Dort kam es zu einer Schießerei mit den Franzosen. 14 Franzosen als Gefangene zurückgebracht, darunter 2 Verwundete, eventuell auch mehr Verwundete. Es wurde sofort befohlen, daß ein Offizier aus Kallinow die verwundeten Gefangenen nach Rosniontau zurückbringt und die Abholung der Verwundeten veranlaßt. Außerdem ist der Regimentsführer sofort vorgefahren, um die Angelegenheit an Ort und Stelle zu regeln. Ferner wird der Chef des Stabes General v. Hoefer sich sofort an Ort und Stelle begeben. Meldung noch unbestätigt, nähere Aufklärung folgt. Es hat zwischen dem Chef des Stabes des General Heneker und des General Hoefer eine Besprechung stattgefunden, in welcher durch General Heneker der Wunsch ausgesprochen worden ist, General Hoefer solle sich bei dem frz. Oberstkommandierenden für den Vorfall entschuldigen.“ (R 43 I/356, Bl. 43).
Ferner habe eine Besprechung zwischen Hoefer und dem englischen General Heneker stattgefunden, die günstig verlaufen sei7. Hoefer sei von Heneker aufgefordert worden, unter keinen Umständen weiter vorzugehen.
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Eine unsignierte Aufzeichnung über diese Besprechung war am 7.6.1921, 10 Uhr aus Oppeln eingegangen (R 43 I/356, Bl. 38-42). In seinen Memoiren berichtet Hoefer ausführlich über diese Besprechung (Hoefer: Oberschlesien, S. 254 ff.), was er übrigens mit der Bemerkung einleitet, es sei weder von dt. noch von engl. Seite protokolliert worden, Aufzeichnungen seien nach dem Gedächtnis und nach Stichworten des begleitenden Majors Jacobsen angefertigt worden (a.a.O., S. 256).
Staatssekretär v. Haniel berichtet, daß Lord D’Abernon die Regierung heute nochmals gebeten habe, ihren Einfluß dahin auszuüben, daß der Selbstschutz[54] nichts ohne Einverständnis der Interalliierten Kommission unternehme. Nach Eintreffen der englischen Gruppen sei die Macht der I.A.K. ausreichend, um die Situation ohne Mitwirkung des deutschen Selbstschutzes zu beherrschen.
Staatskommissar Dr. Weismann teilt mit, daß nach ihm zugegangenen Nachrichten aus Breslau der Selbstschutz von weiterem Vorgehen absieht.
Der Herr Reichskanzler stellt Einmütigkeit des Kabinetts dahin fest, daß der Selbstschutz alles unterlassen müsse, was die Lage verschärfen könne. Die Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens werde nicht in Oberschlesien, sondern auf interalliierten Konferenzen fallen.
Staatssekretär v. Haniel teilt weiter mit, daß an mehreren Stellen die Betriebsräte die polnischen Arbeiter boykottierten.
Das Kabinett beauftragt die Minister Dr. Gradnauer und Bauer, diese Angelegenheit zu regeln.