1.221 (mu22p): Nr. 477 Staatssekretär v. Haniel an Staatssekretär Pünder. München 14. März 1930

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[1573] Nr. 477
Staatssekretär v. Haniel an Staatssekretär Pünder. München 14. März 19301

R 43 I /2363 , Bl. 191 f., hier: Bl. 191 f.

[Betrifft: Reise des bayerischen Ministerpräsidenten nach Berlin.]

Lieber Herr Pünder!

Für Ihr interessantes Schreiben vom 13. ds. Mts. sage ich Ihnen verbindlichsten Dank. Ich hatte heute Gelegenheit, den Ministerpräsidenten zu sprechen, und er erzählte mir ausführlich über seinen Berliner Besuch2:

Es sei vollkommen falsch, wenn behauptet würde, daß er zusammen mit dem Parteivorsitzenden Dr. Schäffer nach Berlin gefahren sei, um dort auf die Reichstagsfraktion einzuwirken. Er habe überhaupt erst am Montag erfahren, daß Schäffer nach Berlin fahre und zwar sei dessen Reise lediglich auf eine ihm bis dahin unbekannte Einladung des Prälaten Leicht erfolgt. Er selbst sei nach Berlin gereist, um eine bereits seit 14 Tagen verabredete, wegen Krankheit verschobene Audienz beim Herrn Reichspräsidenten einzuhalten3. Er habe dann auch mit dem Herrn Reichspräsidenten dreiviertel Stunden lang eingehend gesprochen und zwar hauptsächlich über § 35 des Finanzausgleichsgesetzes und die Biersteuer. Auch habe der Herr Reichspräsident ihn über die Stellung der Bayerischen Volkspartei zu und innerhalb der Regierung sowie zu einer eventuellen Weimarer Koalition hören wollen. Übrigens habe der Herr Reichspräsident sich durchaus gegen die Weimarer Koalition erklärt und auch gegen eine Reichstagsauflösung, die nur den Kommunisten und Nationalsozialisten zugutekommen würde.

Auch alles, was von einer beabsichtigten „Erpressung“ seinerseits zu Gunsten bayerischer Wünsche in der Biersteuerfrage erzählt würde, sei falsch. Zentrum, Bayerische Volkspartei und Demokraten hätten sich in der Biersteuer über einen bindenden Kompromiß geeinigt. Dieser sei aber daran gescheitert, daß sich plötzlich der Ministerpräsident Braun quer gelegt habe. Infolgedessen hätten die sozialdemokratischen Unterhändler, die vorher mit den obengenannten Parteien einig gegangen wären, erklärt, daß sie ihre Zusicherungen nur im persönlichen Namen, nicht aber im Namen der Fraktion geben könnten. Eine solche Zusicherung sei aber der Bayerischen Volkspartei nicht ausreichend erschienen.

Auch sein Erscheinen im Reichsrat sei falsch gedeutet worden, als wenn er auf seine Partei einen Druck habe ausüben wollen. Die Bayerische Volkspartei[1574] habe vielmehr beabsichtigt, mit dem Zentrum bei der Abstimmung über den Young-Plan Hand in Hand zu gehen. Nun sei aber die Haltung der Zentrumspartei in letzter Minute durch die Zusicherungen verändert worden, die der Herr Reichspräsident dem Zentrumsführer Brüning gemacht habe4. In der Fraktionssitzung der Bayerischen Volkspartei, die unmittelbar vor der Abstimmung noch rasch abgehalten worden sei, hätte ein Teil der Abgeordneten erklärt, daß sie gegen den Young-Plan stimmen würden, ein anderer, daß sie sich der Stimme enthalten wollten. Seine Versuche, eine einheitliche5 Abstimmung herbeizuführen, seien aber an der Kürze der Zeit gescheitert. Wenn der Abgeordnete Leicht Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, von dem Reichspräsidenten die gleichen Zusicherungen zu erhalten wie die Zentrumspartei, so würde auch die Bayerische Volkspartei unzweifelhaft geschlossen ebenso wie die Zentrumspartei abgestimmt haben.

Auch von einem angeblichen Zerwürfnis zwischen ihm (dem Ministerpräsidenten) und dem Prälaten Leicht könne keine Rede sein. Er sei in allen Punkten mit Leicht d’accord und auch ständig mit ihm zusammen gewesen. Leicht sei indessen mit den Nerven vollkommen zusammengebrochen und habe einen Weinkrampf bekommen, als er sich von dem Zentrum im Stich gelassen sah.

Dr. Held erzählte dann noch über seine Unterredung mit dem Herrn Reichskanzler, der sehr zuversichtlich gewesen sei und geäußert habe, daß, wenn keine Einigung der Parteien über die Finanzreform zustandekäme, der Herr Reichspräsident von dem Artikel 48 Gebrauch machen und ihn (den Reichskanzler) und das gegenwärtige Kabinett mit den erforderlichen Vollmachten zur Durchführung der Reichsfinanzreform versehen werde.

Dr. Held sieht mit Besorgnis der Mannheimer Tagung der Deutschen Volkspartei entgegen. Es werde dabei zu einem schweren Kampf zwischen Scholz, der die Majorität der Partei hinter sich habe und den Ministern Moldenhauer und Curtius sowie deren Anhängern kommen6.

Ich habe den vorstehenden Mitteilungen nicht die Form eines offiziellen Berichts gegeben, da es mir in erster Linie darauf ankam, möglichst bald Ihr freundliches Schreiben zu beantworten und dem in dessen Schluß geäußerten Wunsche zu entsprechen.

[…]

Mit verbindlichsten Empfehlungen stets

Ihr

aufrichtig ergebener

E. Haniel

Fußnoten

1

Das Schreiben, das die Paraphe des RK trägt, war von Haniel als „Persönlich! Vertraulich“ gekennzeichnet worden.

2

Siehe Dok. Nr. 476.

3

Dazu der Randvermerk Pünders vom 16. 3.: „Das ist unwahr. Ich habe bei Hn StS Meissner festgestellt, daß ein Besuch keineswegs vorgesehen war, daß vielmehr gleich nach der Ankunft MPr. Held morgens früh Hals über Kopf bei Hn Meissner anrief und dringend um Audienz beim Hn RPräs. nachsuchte.“

4

Siehe Dok. Nr. 471.

5

Dazu die Randnotiz Pünders: „d. h. ablehnende“.

6

Zum DVP Parteitag am 21. und 22.3.30 siehe Schultheß 1930, S. 83 ff.

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