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[1271]2. Völkerbundseintritt Deutschlands und Locarnopolitik.
Der Reichskanzler machte Mitteilung, daß in der Presse Nachrichten erschienen seien, die den Wunsch gewisser Kreise zu erkennen geben, die Völkerbundspolitik von der Locarnopolitik zu trennen, und zwar in dem Sinne, daß die Locarno-Abmachungen losgelöst werden sollten von der Bedingung, daß Deutschland in den Völkerbund eintrete. Es frage sich, wie sich Deutschland gegenüber derartigen Erörterungen und Anregungen stellen solle.
Der Reichswirtschaftsminister wies darauf hin, daß solche Gedanken auch gerade in seiner Partei und bei den Deutschnationalen Anhänger besäßen; Herr von Rheinbaben habe die Trennung von Völkerbund und Locarno stark propagiert. Es sei daher möglich, daß durch eine passive Haltung der Regierung gegenüber solchen Anregungen Schwierigkeiten entständen.
Der Reichskanzler wies darauf hin, daß jedes aktive Verhalten gegenüber diesen Anregungen den Gegnern nur angenehm sein könnte. Wir würden mit einem Eingehen auf solche Anregungen tatsächlich dem Gegner nur ein Schutzschild schaffen, um ihm damit zu helfen, seinen Reinfall in Genf zu maskieren. Er empfehle äußerstes Uninteressiertsein gegenüber den genannten Anregungen.
Der Reichswirtschaftsminister und der Reichsminister für die besetzten Gebiete wiesen noch darauf hin, daß in dem besetzten Gebiet der Gedanke, Locarno in Kraft zu setzen und damit die Rückwirkungen eintreten zu lassen, sicherlich angenehm empfunden werde.
Der Reichskanzler bemerkte demgegenüber, daß es gar nicht sicher sei, ob nach Inkraftsetzung der Locarnoverträge die Rückwirkungen eintreten. Sicher sei dagegen, daß unser Standpunkt bezüglich der Rückwirkungen vor dem Eintritt in den Völkerbund bei der gegenwärtigen Situation stärker sei als nach Trennung von Völkerbund und Locarno und nach Inkraftsetzung der Locarnoverträge.
Das Kabinett erklärte sich daraufhin einverstanden, wenn zunächst eine uninteressierte und abwartende Haltung gegenüber den genannten und weiteren ähnlichen Anregungen eingenommen werde.