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12. Die Lage in Sachsen (außerhalb der Tagesordnung).
Der Reichsinnenminister erklärt, daß es notwendig sein werde, sich innerhalb des Kabinetts in kürzester Zeit mit der Frage des Ausnahmezustandes zu beschäftigen. Die Lage in Sachsen spitze sich von Tag zu Tag mehr zu. General Müller habe an den Ministerpräsidenten Zeigner einen Brief geschrieben, der[613] für ihn als Mitglied der sozialdemokratischen Partei nicht tragbar wäre und gleichsam eine Provokation der gesamten Sozialdemokratie darstelle30.
Der Reichskanzler erwidert, daß dem Herrn Innenminister doch wohl die Vorgänge nicht genügend bekannt wären. Die Lage sei eingehend mit dem Herrn Reichspräsidenten besprochen worden u. der Reichspräsident habe sich mit den getroffenen Maßnahmen einverstanden erklärt. Auch der sächsische Zivilkommissar Mayer habe den Maßnahmen zugestimmt. Der sächsische Minister Böttcher habe in offener Versammlung zum Kampf gegen die Regierung aufgefordert, habe empfohlen, Kampforganisationen zu bilden, um die kapitalistische Reichsregierung zu stürzen31. Der Dresdner Polizeipräsident Menke habe von der Polizei, die neuerdings der Reichswehr unterstellt sei, verlangt, daß sie lediglich der sächsischen Regierung zu gehorchen habe. Gegenüber derartigen unverantwortlichen Äußerungen sächsischer Regierungsstellen müsse eingeschritten werden. Bei dem Versagen der sächsischen Regierung müsse dem General Müller eine genügende Macht zur Verfügung gestellt werden. Die sächsische Polizei sei gegenüber den Vorgängen vollkommen machtlos. In Plauen und in Aue wäre die öffentliche Sicherheit, insbesondere für die Industriellen und Villenbesitzer nicht mehr gewährleistet. In Dresden habe sich der Finanzminister an die Großbanken mit dem Ersuchen um Zurverfügungstellung von 150 Millionen Goldmark zur Lebensmittelversorgung gewandt. Es besteht die Gefahr, daß gegen die Banken Zwangsmittel angewandt werden, nachdem diese erklärt haben, sie wären zwar grundsätzlich bereit, Geld zur Verfügung zu stellen, jedoch nicht der sächsischen Regierung, sondern dem General Müller32.
Der Innenminister glaubt, daß die dem Herrn Reichskanzler vorgelegten Berichte doch wohl etwas einseitig gefärbt seien. Er habe Gelegenheit gehabt, mit dem sächsischen Minister Liebmann, den er als durchaus ehrlichen und ernst zu nehmenden Menschen kenne, zu sprechen. Dieser habe ihm versichert, daß die kommunistischen Minister gewillt seien, absolute Ruhe zu halten. Er müsse[614] nochmals betonen, daß es unter gar keinen Umständen angehe, wenn ein General derartige Briefe an eine Landesregierung schreiben dürfe. Er werde Gelegenheit nehmen, über die Verhältnisse mit dem Herrn Reichspräsidenten zu sprechen.
Der Reichskanzler bittet, bei dieser Gelegenheit doch zur Sprache zu bringen, daß an der Form des Eingreifens gegenüber der sächsischen Regierung letzten Endes die Art des Ausnahmezustandes Schuld trage, die eine Zwischenschaltung des Reichskanzlers nicht vorsieht. Es sei zu überlegen, ob in künftigen Fällen eine andere Form des Ausnahmezustandes zu wählen sei33. Er müsse allerdings sagen, daß er, falls er eingeschaltet gewesen wäre, dem sächsischen Ministerpräsidenten, den er für einen nicht voll zurechnungsfähigen Menschen halte, einen noch anderen Brief, als dies der General Müller getan habe, geschrieben hätte. Er hätte deutlich zum Ausdruck gebracht, daß ein Verhalten der Angehörigen einer Regierung, wie es jetzt in Sachsen vorgekommen sei, eine völlige Unmöglichkeit darstelle. Es müsse anerkannt werden, daß General Müller bisher durchaus zurückhaltend sich verhalten habe34. Es müsse ferner in Rücksicht gezogen werden, daß, falls die Regierung in Sachsen nicht durchgreife, die Gefahr bestände, daß sich die in Sachsen bedrohten Kreise an Bayern mit der Bitte um Hilfe wenden35. Daß dies den Bürgerkrieg und damit den Zerfall des Reiches bedeute, brauche er nicht besonders auszuführen.
Fußnoten
- 30
Zu den Beziehungen zwischen sächs. Reg. und General Müller s. die Verwahrung der sächs. Reg. vom 17.10.23 (Dok. Nr. 147). Dort befindet sich als Anlage ein Schreiben Müllers an das sächs. Kabinett vom 15.10.23, in dem er zunächst rügt, daß der Anschlag der Reg.Erklärung Zeigners vom 12.10.23 ohne vorherige Genehmigung erfolgt sei. „Ich erachte diese öffentliche Plakatierung als einen Vertrieb von Flugblättern, der nach § 3 meiner Verordnung vom 27. 9. meiner Genehmigung bedurft hätte. – Da diese bisher bei mir nicht eingeholt worden ist, beehre ich mich, die Genehmigung zu dieser Plakatierung der sächsischen Regierung hiermit nachträglich zu erteilen. – Ich ersuche jedoch, daß auch die sächsische Regierung in Zukunft über Maßnahmen ihrerseits, die auf Grund der von mir erlassenen Verordnung meiner Genehmigung bedürfen, vorher mit mir in Verbindung tritt“ (R 43 I/2309, Bl. 185). S. ferner E. R. Huber, Dokumente III, S. 290 ff.; Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1199 d; W. Fabian, Klassenkampf in Sachsen, S. 162 f., 168 f.
- 31
Dazu hatte „Die Zeit“, Nr. 237 vom 13.10.23, gemeldet: „Der neue Finanzminister des kommunistisch-sozialistischen Kabinetts, der Kommunist Böttcher, erklärte einem Pressevertreter, eine Reichsexekution in Sachsen würde in Deutschland das Signal zum Bürgerkrieg sein. Die Basis der sächsischen Regierung in der Arbeiterschaft ist so breit, daß die Reichsregierung solche Schritte nur tun kann, wenn sie die Absicht hat, die Arbeiterorganisationen im Reiche zu zertrümmern und damit den Bürgerkrieg auszulösen.“ S. a. E. Lipinski, Der Kampf um die politische Macht in Sachsen, S. 70.
- 32
S. zur inneren Unsicherheit in Sachsen das Schreiben Müllers vom 13.10.23, in: E. R. Huber, Dokumente III, S. 291 f.; Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1199 d.