Text
Nr. 6
Botschafter Wiedfeldt an General von Seeckt. Washington DC, 24. November 1923
BA-MA: NL von Seeckt 179, Bl. 102–103 eigenhändig1
Sehr verehrter Herr General!
Für Ihren Brief, den Sie die Güte hatten mir auf Wunsch des Reichspräsidenten zu schreiben2, bin ich Ihnen sehr dankbar. Seit Wochen und jetzt von neuem habe ich alle Umstände gewissenhaft erwogen, kann aber nur zur Ablehnung kommen.
Wenn die innerpolitische Entwickelung in Deutschland auf legalem Wege wie bisher zu einer Regierung durch ein kleines Kabinett mit großen Vollmachten zutreibt, so kann solch „Direktorium“ – ich würde es aus rechtlichen und außenpolitischen Rücksichten Protektorat nennen, denn es soll das Reich vor dem Zerfall und das Volk vor der Verelendung schützen – nur bestehen und etwas leisten, wenn es nicht bloß durch die tatsächliche Macht der Reichswehr gestützt wird, sondern wenn seine Mitglieder durch das Vertrauen wichtiger Volksschichten getragen werden, bis durch erreichte Erfolge weitere Kreise gewonnen werden. Sonst ist seine Lebensdauer besonders bei dem sofort einsetzenden außenpolitischen Druck beschränkt und so kein Erfolg erzielbar.
Ich genieße die Freundschaft einzelner einflußreicher Männer in verschiedenen Schichten, vielleicht auch manches Vertrauen von kleinen Gruppen. Aber hinter mir steht keine der politischen Parteien, mit denen ich kaum Fühlung habe. Mir mangelt das Vertrauen so wichtiger Gruppen wie der Landwirtschaft und großenteils der Arbeiterschaft. Selbst in industriellen Kreisen habe ich mit meinen Vorschlägen wie der englischen Anleihe auf deutsche Industrie-Obligationen 19213 u. ä. stets in der Minderheit gestanden. Nehme ich[1217] hinzu, daß ich infolge fast zweijähriger Abwesenheit4 mit den innerpolitischen Verwickelungen und den Wirtschaftsgestaltungen im einzelnen wenig vertraut bin, so daß ich in den ersten Wochen, wo die entscheidenden Schritte zu tun sind, auf fremden Krücken gehen müßte5, daß ich ferner von hieraus nicht in der Lage bin, mich der unerläßlichen Mitarbeit verläßlicher Freunde zu versichern, daß ich endlich außenpolitisch wohl Amerika, aber von den wichtigen europäischen Plätzen kaum England leidlich zu beurteilen vermag, so kann ich in einem kleinen Kabinett von Männern nur eine Last, aber vorerst keine Kraft sein.
Dagegen hoffe ich, auf meinem Platz hier in den nächsten Monaten einiges zu Wege bringen zu können, namentlich zur Einschränkung des furchtbar drohenden Hungers, vorausgesetzt, daß die heimischen Zentralstellen tatkräftiger und schneller mitarbeiten6. Zweifellos steht solch Vorkehren gegen Hunger an Bedeutung hinter den großen außen- und innenpolitischen Aufgaben des kleinen Protektorats zurück, ist aber eine Voraussetzung, ohne welche sie nicht zu lösen sind. Meine Mitarbeit drüben wäre in ihrer Nützlichkeit mindestens zweifelhaft, meine Mitarbeit hier kann gegen eine Not voraussichtlich Hülfe schaffen, zumal ich auch sonst noch manche Hülfsstellung hoffe von hier aus leisten zu können7. So muß ich vorerst hier auf dem Posten verbleiben, solange sich die Möglichkeit, im vaterländischen Interesse zu arbeiten, uns die Aussicht auf irgendwelche Erfolge bietet.
Ich bin daher dem Herrn Reichspräsidenten und Ihnen für den Beweis großen Vertrauens aufrichtig dankbar und bitte, dies auch dem Herrn Reichspräsidenten übermitteln zu wollen. Aber mein Platz ist für die nächsten Monate hier, solange er haltbar ist8.
In aufrichtiger Verehrung bin ich, sehr verehrter Herr General,
Ihr sehr ergebener
O. Wiedfeldt
Fußnoten
- 1
Abgedruckt bei E. Schröder, Otto Wiedfeldt, S. 191 f.
- 2
S. Seeckt an Wiedfeldt, 4.11.23 (Anhang Nr. 5).
- 3
S. hierzu E. Schröder, Otto Wiedfeldt als Politiker und Botschafter, S. 182 ff.; ders., Otto Wiedfeldt, S. 126 ff.
- 4
Wiedfeldt war am 21.3.22 zum Botschafter in Washington ernannt worden.
- 5
Vgl. hierzu Anm. 1 zu Dok. Nr. 118.
- 6
Unterlagen über die Bemühungen, offizielle Stellen der USA und private Organisationen für Hilfsleistungen zu gewinnen, befinden sich in R 43 I/222 b. Am 24.10.23 hatte Botschaftsrat Dieckhoff mitteilen können, daß unter Vorsitz von General Allen, dem ehem. Befehlshaber der amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland, ein „American Committee for the Relief of German Children“ gegründet worden sei.
- 7
Wahrscheinlich bezieht sich Wiedfeldt hiermit auf seine Verhandlungen mit Staatssekretär Hughes über ein Eingreifen der USA in der Reparationsfrage. S. dazu W. Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik, S. 209 f.; E. Schröder, Otto Wiedfeldt als Politiker und Botschafter, S. 220 ff.
- 8
Wiedfeldt kehrte erst im Februar 1925 nach Deutschland zurück.