Text
[Politische Lage.]
Reichskanzler von Schleicher eröffnete die Sitzung und führte zunächst aus, daß die Arbeit des Reichskabinetts von Papen einen großen Gewinn in der deutschen Geschichte bedeute. Wie sehr sich die Anschauungen insbesondere bei den Parteien geändert hätten, könne man daraus ersehen, daß es von einem großen Teil der Öffentlichkeit als Erleichterung betrachtet werde, wenn er an Stelle von Papen Reichskanzler geworden sei3. Eine andere Persönlichkeit sei ernsthaft für das Amt des Reichskanzlers nicht genannt worden. Im Gegensatz zu früher habe das Zentrum diesmal personelle Wünsche überhaupt nicht angemeldet4.
Es sei gewiß zu bedauern, daß der Kurs der vorigen Reichsregierung drei ausgezeichnete Männer verbraucht habe. Der Zweck des von der Regierung gesteuerten Kurses sei jedoch voll erreicht worden.
An den Reichswirtschafts- und den Reichsernährungsminister richte er die dringende Bitte, sich zu einigen5. Er beabsichtige, vielleicht am 12. Dezember[2] dem Reichstage eine Regierungserklärung zu unterbreiten. Die Aussichten auf Vertagung des Reichstags halte er nicht für schlecht. Er bitte die Ressorts, Vorschläge für die Regierungserklärung baldigst der Reichskanzlei zuzusenden6.
Reichskanzler von Schleicher begrüßte sodann den neuen Reichskommissar Dr. Gereke und betonte, daß dieser auf eigenen Wunsch nicht zum Reichsminister ernannt worden sei.
Der Reichsminister der Justiz warf die Frage auf, ob der Reichskanzler einer Partei irgendein Amnestieversprechen gegeben habe.
Der Reichskanzler erwiderte, daß er ein derartiges Versprechen nicht gegeben habe. Vielleicht könne in die Regierungserklärung ein Satz ungefähr des Inhalts aufgenommen werden, wonach nach Abschluß der jetzigen Epoche einzelne Begnadigungsmaßnahmen von der Regierung in Erwägung gezogen werden könnten.
Zu prüfen sei jedoch, ob man nicht auf dem Gebiete der innenpolitischen Notverordnungen7 einige Lockerungen eintreten lassen könne.
[3] Der Reichsminister des Innern führte aus, daß die Gebiete der Rechtspflege und der Presse hier in Betracht kämen. Was die Presse anlange, so könne die Notverordnung vom 14. Juni d. Js. nach seiner Ansicht nicht geändert werden8. Auf dem Gebiete der Rechtspflege sei es vielleicht möglich, die Sondergerichte zu beseitigen9.
Der Reichsminister der Justiz stimmte dieser Auffassung zu. Er führte ferner aus, daß es sich empfehlen werde, bei politischen Verbrechen gegen das Leben die absolute Todesstrafe zu beseitigen10.
Staatssekretär Dr. Meissner führte aus, daß die Verordung zur Belebung und Erhaltung der Wirtschaft wohl zweckmäßigerweise bald abgeändert werden müsse11.
[4] Der Reichskanzler erwiderte, daß er wahrscheinlich die Abänderung dieser Notverordnung in der Regierungserklärung ankündigen wolle12.
Die Sitzung wurde hierauf geschlossen.
Fußnoten
- 3
Amtliche Sammlung der Inlandspressestimmen zur Bildung des RKab. v. Schleicher in: R 43 I/1309, Bl. 635–642; zusammenfassend auch: Horckenbach 1932, S. 409 f.
- 4
Mit v. Schleicher hatte der Zentrumsvorsitzende Kaas wahrscheinlich am 26. oder 27.11.1932 über die Regierungsneubildung gesprochen (Einzelheiten dazu bei Rudolf Morsey (Bearb.): Protokolle, Dok. Nr. 718).
- 5
Die Besetzung der Ämter des RWiM und des REM war nach der ersten amtlichen Verlautbarung über die Regierungsneubildung „noch vorbehalten“ geblieben (WTB-Meldung Nr. 2592 vom 3.12.1932; R 43 I/1309, Bl. 645). Die Minister vertraten in der Frage, inwieweit zur Ermöglichung von Industrieexporten Lebensmittelimportbeschränkungen (Kontingentierungen) vermieden bzw. zur Stützung der inländischen landwirtschaftlichen Veredlungsbetriebe durchgesetzt werden müßten, unterschiedliche Standpunkte (vgl. dazu grundlegend diese Edition: Das Kabinett v. Papen, Ministerbesprechung vom 23.9.1932, P. 1). Im Vorfeld der Regierungsbildung hatten Interessenvertreter der Landwirtschaft insofern auf die Besetzung des Postens des REM Einfluß zu nehmen versucht, als der Geschäftsführer des Reichslandbundes v. Sybel am 30. 11. dem Mitarbeiter Schleichers, Oberst v. Bredow, erklärt hatte, daß es „im Grunde ganz egal [sei], wer das Programm durchführt, es müßten nur ihre Wünsche berücksichtigt werden. Auch über das Ausmaß ließe sich reden.“ Kandidat des RLB sei Rohr, weniger Knebel oder Lüningk, ungeeignet sei Hepp. „Völlig ablehnen täte die Landwirtschaft Warmbold. Neuerdings träte auch Mißstimmung gegen Krosigk auf. Dagegen viel Sympathie für Popitz.“ (Kurzorientierung für Gen. v. Schleicher vom 30.11.1932; Nachl. v. Bredow, Bd. 2, Bl. 140). In diesem Zusammenhang drohte der Ständige Ausschuß des Dt. Landwirtschaftsrats: „Die deutsche Landwirtschaft wird in ihrer Gesamtheit zu jedem Reichskabinett in scharfe Opposition treten, das nicht unverzüglich den Schutz der bäuerlichen Wirtschaft durch wirksame Drosselung unnötiger Einfuhr sowohl durch umfassende autonome Kontingentierungspolitik, als auch durch eine entsprechende Gestaltung der Handelsverträge endlich durchführt. Die Landwirtschaft steht zu jedem Reichsernährungsminister, heiße er wie er wolle, in scharfem Gegensatz, der nicht einen Eintritt in das Kabinett von der vorherigen Sicherstellung schleuniger Durchführung dieser Maßnahmen abhängig macht.“ (Brandes an v. Papen, 1.12.1932; R 43 I/1177, Bl. 127 f.) Frhr. v. Braun berichtet, er habe seine Mitarbeit im RKab. v. Schleicher vom Zugeständnis gewisser Kontingentierungen abhängig gemacht: „Warmbold und ich wurden zu einem Konklave – wie es die Presse nannte – zusammengesperrt, bei dem Gürtner den Vermittler spielte.“ (M. Frhr. v. Braun: Weg durch vier Zeitepochen. S. 260). Die Einigungsverhandlungen finden, unter Heranziehung auch des RAM, am 4. 12. statt (vgl. R 43 I/1079, Bl. 105). Die Bestätigung Warmbolds und v. Brauns in ihren Ämtern erfolgt allerdings noch am 3.12.1932 (R 43 I/926, Bl. 175 und 929, Bl. 215).
- 6
Zum Fortgang s. Dok. Nr. 25.
- 7
Die Zuspitzung der innenpolitischen Gegensätze in den letzten Jahren, insbesondere aber die oft blutigen Ausschreitungen während der Wahlkämpfe des Sommers 1932 hatten die früheren Reichsregierungen dazu veranlaßt, die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte durch eine Reihe vorbeugender Maßnahmen zu beschränken: VO des RPräs. gegen politische Ausschreitungen vom 14.6.1932 (RGBl. I, S. 297) nebst Ausführungs- und VerlängerungsVOen; VO des RPräs. zur Sicherung des inneren Friedens vom 29.7.1932 (RGBl. I, S. 389) und vom 2.11.1932 (RGBl. I, S. 517) nebst Ergänzungs- und VerlängerungsVOen; VO des RPräs. gegen politischen Terror vom 9.8.1932 (RGBl. I, S. 403); VO der RReg. über die Bildung von Sondergerichten vom 9.8.1932 (RGBl. I, S. 404); Grundsätze für den Vollzug der Festungschaft vom 9.8.1932 (RGBl. I, S. 407). Vgl. dazu diese Edition: Das Kabinett v. Papen, insbesondere Ministerbesprechung vom 9.8.1932 über Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit sowie die Kabinettsberatungen über die Verlängerung der Strafbestimmungen des Republikschutzgesetzes von 1930 und den Schutz lebenswichtiger Betriebe gegen Bestreikung. – Zur Aufhebung bzw. Lockerung der genannten VOen s. Dok. Nr. 26, P. 3 und 4.
- 8
Für die Presse hatte diese VO vor allem die Verpflichtung eingeführt, „auf Verlangen einer obersten Reichs- oder Landesbehörde amtliche Kundgebungen und amtliche Entgegnungen auf die in der periodischen Druckschrift mitgeteilten Tatsachen ohne Einschränkung oder Weglassen unentgeltlich aufzunehmen“. Außerdem enthielt die VO eine Neuregelung der Verbotsgründe für periodische Druckschriften, die u. a. dann verboten werden können, wenn in ihnen eine Veröffentlichung enthalten ist, die lebenswichtige Interessen des Staates dadurch gefährdet, daß unwahre oder entstellte Tatsachen behauptet oder verbreitet werden.
- 9
Sondergerichte waren durch die in Anm. 7 zit. VO vom 9.8.1932 zur Aburteilung aller durch die AntiterrorVO vom gleichen Tag unter Strafandrohung gestellten Verbrechen und Vergehen eingerichtet worden. Außerdem war diesen Gerichten noch eine Reihe weiterer Straftatbestände zugewiesen worden, für die sie zuständig sein sollten, auch wenn es sich nicht ausdrücklich um politisch motivierte Taten handelte. In der Besetzung mit drei Richtern urteilten sie nach vereinfachten Verfahrensvorschriften. Gegen ihre Entscheidungen gab es kein Rechtsmittel.
- 10
Die in Anm. 7 zitierte VO gegen politischen Terror vom 9.8.1932 hatte den Totschlag aus politischen Beweggründen mit Mord gleichgesetzt und ebenso wie Brandstiftung, Sprengstoffverbrechen und Transportgefährdung – soweit das StGB dafür lebenslanges Zuchthaus vorsah – ausschließlich mit der Todesstrafe bedroht. Den Richtern stand weder ein Ermessensspielraum für die Strafzumessung noch für die Zubilligung von mildernden Umständen zu. – Im Fall des Potempa-Mordes hatte diese Strafvorschrift unmittelbar nach ihrer Einführung die RReg. in politische Schwierigkeiten gebracht (vgl. diese Edition: Das Kabinett v. Papen, Sitzung des Kom. PrStMin. vom 2.9.1932, P. 1).
- 11
Die auf Art. 48 Abs. 2 RV gestützte VO des RPräs. zur Belebung der Wirtschaft vom 4.9.1932 faßte in Teil I Maßnahmen zur Entlastung der Wirtschaft, in Teil II Sozialpolitische Maßnahmen, in Teil III Kreditpolitische Maßnahmen und in Teil IV Sonstige finanzpolitische Maßnahmen zusammen (RGBl. I, S. 425). Die besondere Brisanz dieser nicht nur bei den politischen Gegnern der Reg. v. Papen umstrittenen VO geht u. a. daraus hervor, daß RK v. Papen in der RT-Sitzung vom 12.9.1932 den RT vorsorglich auflöste, „weil die Gefahr besteht, daß der Reichstag die Aufhebung meiner Notverordnung vom 4. September d. J. verlangt“ (RGBl. 1932, I, S. 441). Die SPD-Fraktion konterte in der gleichen Sitzung mit dem Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens zur Aufhebung des sozialpolitischen Teils der VO, der die RReg. ermächtigte, „im Hinblick auf die gegenwärtige allgemeine Not zur Erhaltung der sozialen Fürsorge und zur Erleichterung von Wirtschaft und Finanzen die sozialen Einrichtungen zu vereinfachen und zu verbilligen“. Von dieser Befugnis, auf dem Verordnungsweg gesetzesgleiche Änderungen im Gesamtbereich des Arbeits- und Sozialrechts vorzunehmen, hatte die RReg. bereits am 5. 9. in einer NotVO zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit – in Verbindung mit einer ergänzenden DurchführungsVO des RArbM vom 14.9.1932 – für den Bereich der Tarifverträge dahingehend Gebrauch gemacht, daß Arbeitgeber, wenn sie die Zahl ihrer Arbeitnehmer nach dem 15. 9. nachweislich vermehrten, die tarifvertraglichen Lohnsätze für die 31. bis 40. Wochenarbeitsstunde je nach der Höhe der Neueinstellungen um 10 bis 50% senken durften. Der gesetzliche Schlichter konnte für besonders gefährdete Betriebe sogar den gesamten Tariflohn innerhalb eines festgesetzten Spielraums herabsetzen, um so die Weiterführung oder Wiederaufnahme eines Betriebes zu sichern (RGBl. I, S. 433, 443). – Zum Gesamtzusammenhang s. diese Edition: Das Kabinett v. Papen, Ministerbesprechungen vom 27.8.1932, P. 4 und 31.8.1932, P. 2. Zum Fortgang s. Dok. Nr. 24, P. 11.
- 12
RWeM v. Schleicher hatte im Vorfeld der Regierungsneubildung sondiert, welche sozialpolitischen Maßnahmen von einer neuen RReg. gefordert bzw. erwartet würden. Über eine Besprechung Schleichers mit dem ADGB-Vorstand am 28.11.1932 berichteten die Vorstandsmitglieder Leipart und Eggert am gleichen Tag in einer Bürobesprechung ihres Verbandes (Protokollabdruck bei Dieter Emig und Rüdiger Zimmermann: Das Ende einer Legende. In: IWK 12 (1976), S. 38 ff.). Ein diesbezügliches Schreiben Leiparts an v. Schleicher vom 29.11.1932 ist in den Akten der Rkei nur in Form eines Presseabdrucks auffindbar (R 43 I/1309, Bl. 637; Veröffentlichung in: Gewerkschaftszeitung, 42. Jg., Nr. 49 vom 3.12.1932; Abdruck nach: Tägliche Rundschau Nr. 284 vom 2.12.1932 in: Ursachen und Folgen, Bd. VIII, Dok. Nr. 1921). Zusammengefaßt lauteten danach die ADGB-Forderungen: 1.) Aufhebung der VO vom 5.9.1932; Verwendung der in der VO vom 4.9.1932 für Mehreinstellungsprämien bereitgestellten 700 Mio RM zur Finanzierung öffentlicher Arbeiten. 2.) Streckung der verfügbaren Arbeit durch reichsgesetzliche Einführung der 40-Stunden-Woche. 3.) Umgestaltung des in der VO vom 4.9.1932 vorgesehenen Steuergutscheinsystems zu Gunsten der Finanzierung öffentlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 4.) Aufhebung des Abbaus von Sozialleistungen durch frühere VOen; Winterhilfe für Arbeitslose; Wiederherstellung der Unabdingbarkeit der Tarifverträge. – Zu den Forderungen der anderen gewerkschaftlichen Dachverbände s. Dok. Nr. 9 und 17.