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[576] Nr. 161
Stellungnahme des Reichskanzlers zur Auslieferungsfrage anläßlich eines Presseempfangs in der Reichskanzlei. 5. Februar 1920, 10.30 Uhr
Reichskanzler Bauer: Meine Herren, wir befinden uns gegenwärtig wieder in einer besonders kritischen Situation, die beinahe ähnlich so aussieht, wie die, der wir im Juni 1919 gegenüberstanden. Damals, als wir gezwungen waren, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, haben wir ja zunächst den Versuch gemacht, die sogenannte Ehrenklausel abzulehnen. Am 22. Juni stimmte die Mehrheit der Nationalversammlung der Unterzeichnung des Friedensvertrages zu unter der Voraussetzung, daß die Ehrenklausel nicht mit verbindlich werden sollte. Der Versuch hatte keinen Erfolg. Wir bekamen ja damals das Ultimatum, den Friedensvertrag unverändert zu unterzeichnen, oder abends 6 Uhr würde der Einmarsch der am Rhein konzentrierten Truppen erfolgen. Unter dem Eindruck dieser Drohung haben wir uns dann auch dazu entschlossen, den Friedensvertrag in [s]einer Gesamtheit zu akzeptieren1. Die Gründe, die dafür maßgebend gewesen sind, brauche ich hier kaum zu wiederholen. Sie waren nicht etwa ein Mangel an nationalem Ehrgefühl, sondern der eherne Zwang, der uns zu dieser Handlung nötigte und die Absicht, das deutsche Volk vor größerem Schaden zu bewahren. Ungeheure Truppenmassen standen damals zum Anmarsch bereit, und wir waren davon unterrichtet, daß der sehnlichste Wunsch Frankreichs darauf hinausging, einzumarschieren und Süddeutschland vom Norden zu trennen, die Mainlinie zu besetzen und eine Zerreißung des Deutschen Reiches herbeizuführen. Machtmittel zur Abwehr dieser Bestrebungen standen uns nicht zur Verfügung. Es war also lediglich ein Akt der Selbsterhaltung, der die Regierung und auch die Mehrheit der Nationalversammlung damals zu ihrem Standpunkt nötigte.
Wir gingen auch davon aus, daß es zunächst darauf ankam, Zeit zu gewinnen. Hätten wir damals die Unterzeichnung des Friedensvertrages abgelehnt, so wäre die Katastrophe über unser Volk hereingebrochen. Wir würden wahrscheinlich ein einheitliches Deutschland heute nicht mehr besitzen. Zeit gewinnen heißt ja sehr häufig sehr viel gewinnen. Wir waren denn auch in der Zwischenzeit bestrebt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um in der Auslieferungsfrage eine günstigere Situation für uns herbeizuführen. Wir haben alle Kanäle benutzt, die sich uns boten, um den Staatsmännern der Entente, den Regierungen der Entente zum Bewußtsein zu bringen, daß uns hier eine Zumutung gestellt würde, die keine Regierung auszuführen in der Lage sein würde, und wenn sie den besten Willen dazu hätte.
Wir haben bei diesen Unterredungen sehr viel Verständnis, man kann wohl sagen volles Verständnis gefunden bei den amerikanischen Vertretern, bei den italienischen Vertretern und teilweise auch bei den englischen Vertretern[577] und sogar bei offiziellen Vertretern Englands, die hier in Deutschland anwesend sind2. Dagegen kann das nicht gesagt werden von den Vertretern Frankreichs. Die Stimmung ist inzwischen in den ehemals feindlichen Ländern anders geworden; sie ist nicht mehr so einheitlich, wie sie uns im Juni vorigen Jahres gegenüberstand.
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Dieser Hinweis bezieht sich auf Informationen Arnold Rechbergs, der enge gesellschaftliche Beziehungen zu den all. Vertretern in Berlin unterhielt. In einem Brief vom 9. 2. unterrichtet er den RFM darüber, daß ihn der Chef der brit. Militärmission in Berlin, Gen. Malcolm, „erneut“ zu einer Aussprache empfangen und dabei die „gute Hoffnung“ zum Ausdruck gebracht habe, „daß die Auslieferungsfrage überwunden werde. Die Ereignisse seien fast ganz so verlaufen, wie er auch vorausgesagt habe. […] Wichtig sei, daß die deutsche Regierung auf ihrer ablehnenden Haltung steif bestände.“ Brit. Repressalien seien gegenüber der öffentlichen Meinung in England nicht mehr durchsetzbar; frz. Repressalien würde Großbritannien – im Verein mit den USA – verhindern, um einer weiteren frz. Machtausdehnung entgegenzuwirken (Rechberg an Erzberger, 9.2.20; Durchschrift im Nachl. Rechberg, Nr. 35). Auch der RK wird in diesem Sinne informiert (Rechberg an Bauer, 12.2.20; Durchschrift ebd., Nr. 84).
Wir haben auch fortgesetzt Versuche gemacht, in der verflossenen Zeit die Entente dazu zu bewegen, uns die Liste der Schuldigen zu übergeben vor Inkrafttreten des Friedensvertrages und auch das Anklagematerial uns zuzustellen, damit wir selbst gegen die Schuldigen einschreiten könnten.
Es ist, glaube ich, im höchsten Maße unerwünscht, daß etwa in der Presse sich jetzt eine Debatte darüber entspinnt, ob die Regierung Verfehlungen begangen habe oder nicht. Ich glaube, jetzt kommt es in erster Linie darauf an, eine einheitliche Front zu schließen, um uns gegen die Zumutung, die uns gestellt wird, zur Wehr zu setzen. Aber die Auffassung, daß der Regierung hier Versäumnisse zur Last gelegt werden könnten3, ist außerdem gar nicht zutreffend. Wir haben sowohl bei den Friedensverhandlungen vor Unterzeichnung des Friedens, wie nachher, immer wieder darauf hingewiesen, daß eine Auslieferung eine Unmöglichkeit sei, daß wir aber selbst jederzeit bereit seien, Beschuldigte vor Gericht zu ziehen und der Bestrafung entgegenzuführen. [Es folgt die auszugsweise Verlesung aus den die Auslieferungsfrage betreffenden dt. Gegenvorschlägen zu den all. Friedensbedingungen, die dem Präs. der Versailler Friedenskonferenz mit einer Mantelnote vom 29.5.19 übermittelt worden waren4.]
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So der Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“, Georg Bernhard, der in der Morgenausgabe dieser Zeitung am 5. 2. der RReg. vorwirft, nicht „rechtzeitig zweckentsprechende Gegenvorschläge“ gemacht zu haben, und den Rücktritt des Kabinetts Bauer fordert.
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Abgedruckt in: Materialien, betreffend die Friedensverhandlungen. Teil III, hier S. 87 f.
Auch in der Note, in der die Annahme des Friedensvertrages ohne jeden Vorbehalt mitgeteilt [wurde], ist nochmals darauf hingewiesen worden, insbesondere haben wir stets betont, daß die Unterzeichnung dieser sogenannten Ehrenklausel nur erfolgt ist unter dem Zwang, der auf uns ausgeübt wurde. Wir haben aber damals keinen Zweifel gelassen, daß wir diesen Teil des Friedensvertrages als unerfüllbar ansehen. Das habe ich in meiner Rede vom 22. Juni in der Nationalversammlung klar und deutlich zum Ausdruck gebracht5. Ich brauche diese Ausführungen hier im einzelnen nicht zu verlesen. Dann ist das auch noch einmal in der Note vom 23. Juni mit aller Deutlichkeit[578] gesagt. Es heißt dort: „Die Regierung der Deutschen Republik hat aus der letzten Mitteilung der alliierten und assoziierten Regierungen mit Erschütterung ersehen, daß sie entschlossen sind, von Deutschland auch die Annahme derjenigen Friedensbedingungen mit äußerster Gewalt zu erzwingen, die ohne eine materielle Bedeutung zu besitzen, den Zweck verfolgen, dem deutschen Volke seine Ehre zu nehmen. Durch einen Gewaltakt wird die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt. Sie nach außen hin zu verteidigen, fehlt dem deutschen Volke nach den entsetzlichen Leiden der letzten Jahre jedes Mittel. Der übermächtigen Gewalt weichend, und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben, erklärt deshalb die Regierung der Deutschen Republik, daß sie bereit ist, die von den alliierten und assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen.“6
Inzwischen, sagte ich, haben wir nun alle Anstrengungen gemacht, um die Entente zu veranlassen, sich damit einverstanden zu erklären, daß wir selbst gegen die Schuldigen vorgehen, und uns Liste und Material auszuantworten. Das ist stets abgelehnt worden. Unsere Unterhändler in Paris haben im Laufe des vorigen Sommers nach Unterzeichnung des Friedensvertrages mehrfach in Unterredungen mit dem Generalsekretär der Friedenskonferenz, Herrn Dutasta, diesen Wunsch ausgesprochen, aber stets eine glatte Ablehnung erfahren.
Die Regierung machte auch im vorigen Sommer den Versuch, einen Gesetzentwurf zur Verabschiedung zu bringen, der einen Staatsgerichtshof einsetzt, welcher zur Verurteilung dieser Vergehen, soweit sie gegen das Völkerrecht verstoßen, zuständig sein sollte. Gemeine Verbrechen, die etwa vorgekommen sein sollten, können ja von den ordentlichen Gerichten oder den Militärgerichten abgeurteilt werden. Dieser Gesetzentwurf fand leider keine Mehrheit in der Nationalversammlung, so daß er nicht zur Verabschiedung kam7. Schuld der Regierung ist das nicht.
Dann wurde ein großer Vorstoß im November vorigen Jahres gemacht8. Darüber ist ja die Öffentlichkeit schon durch die inzwischen veröffentlichte Note vom 25. Januar unterrichtet9. Herr von Simson hat damals im Auftrage und im Einverständnis mit der Regierung diese Auslieferungsfrage zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht, hat auf das eindringlichste die ganze Situation beleuchtet und wiederum die Bereitwilligkeit der deutschen Regierung erklärt, alle Beschuldigten vor ein deutsches Gericht zu ziehen. Wir haben damals schon der Entente schon das Angebot gemacht, evtl. den Ententestaaten[579] eine Mitwirkung bei diesem Gericht einzuräumen. Die Bitte um Auslieferung des Materials wurde auch im November wiederum abschlägig beschieden, so daß angesichts dieser Vorgänge und dieser Tatsachen es durchaus unzutreffend ist, der Regierung vorzuwerfen, daß sie auf diesem Gebiete irgend etwas versäumt habe. Auf der anderen Seite bestand eben auch nicht entfernt der Wille, diesem Wunsche zu entsprechen, und mit Gewalt können wir uns ja das Material nicht beschaffen.
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Vgl. Dok. Nr. 100, P. 1.
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Zum Inhalt der Note vom 25.1.20 s. Dok. Nr. 152, Anm. 5. Die Note wurde – nicht an allen Stellen dem offiziellen Text folgend – am 4. 2. in der Tagespresse veröffentlicht (vgl. DAZ Nr. 64 vom 4.2.20); der offizielle Text wird als Anlage zum Entw. eines Ergänzungsgesetzes des Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18.12.19 am 26.2.20 bekanntgemacht (NatVers.-Bd. 341, Drucks. Nr. 2161; abgedruckt in: Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919. Teil II, S. 942 ff.
Durch die vielfachen Verhandlungen mit Vertretern der Ententestaaten, dadurch, daß inzwischen die ganze Situation etwas mehr entgiftet ist, und starke Kräfte in allen Ländern zu der Überzeugung gekommen sind, daß es im Interesse aller Länder und Völker liegt, schließlich doch zu friedlichen und ruhigen Zuständen zu kommen, zu allgemeiner Arbeit, und daß nur durch allgemeine Arbeit und allgemeines Zusammenarbeiten schließlich der wirtschaftliche Zusammenbruch und das allgemeine Chaos vermieden werden kann, dadurch, daß diese Erkenntnis heute auch weite Kreise in den gegnerischen Staaten erfaßt hat10, ist die Situation für uns zweifellos günstiger geworden, als sie im Juni vorigen Jahres war. Sie ist aber nicht so günstig, daß wir ohne erhebliche Besorgnisse der Zukunft entgegensehen können.
Was die Entente tun wird, wissen wir nicht. Wir haben leider keine Macht zur Abwehr und können nur passiven Widerstand leisten. Die Regierung ist einmütig entschlossen, diesen passiven Widerstand zu leisten. Sie hat nie einen Zweifel darüber gelassen, daß sie das Auslieferungsbegehren für unerfüllbar ansieht, und ich glaube, es gibt keine Regierung in Deutschland, und mag sie gebildet werden aus welcher Partei und welchen Männern man immer will, die in der Lage wäre, dieses Auslieferungsbegehren zur Durchführung zu bringen.
Bei der Taktik, die wir einzuhalten haben, haben wir allerdings, glaube ich, alles zu vermeiden, was geeignet ist, die Situation zu verschärfen, und etwa in irgend einer Weise provokatorisch auf die gegnerischen Kräfte zu wirken. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es bedauerlich, daß Herr von Lersner die Annahme der Auslieferungsnote abgelehnt hat, trotz gegenteiliger Weisung11. Meine Herren, bei solchen Aktionen muß in erster Linie ausschlaggebend[580] sein das Interesse und das Wohl des gesamten Volkes, nicht etwa die Ehrenauffassung eines einzelnen. (Sehr richtig!) Ich meine, man kann alles Verständnis für diese Auffassung haben, aber, wer an so verantwortlicher Stelle steht, wem ausdrücklich vorher gesagt ist: Du bist verpflichtet, die Note in Empfang zu nehmen, hätte schon vorher erklären sollen: Nein, ich tue es nicht! Dann wäre Vorsorge getroffen worden, daß Ersatz für ihn vorhanden wäre. So hat Herr von Lersner uns in eine sehr unangenehme Situation gebracht. Man weiß nicht, welche Folgen diese Provokation haben kann. Wir haben aber doch, glaube ich, ein Interesse daran, die Note und die Liste kennenzulernen. Die Liste haben wir inoffiziell bekommen, aber sie ist nicht vollständig und enthält vor allem keine näheren Angaben in bezug auf die Anschuldigungen usw.12. Wir haben ein Interesse daran, wenn durch die Veröffentlichung der Liste die Stimmung im Volke doch wesentlich zu unseren Gunsten beeinflußt wird. Wir brauchen natürlich auch die Note, um eine Unterlage für weitere Verhandlungen zu haben. Dadurch, daß wir einfach die Verhandlungen abbrechen, daß wir sagen: Wir reden über die Geschichte nicht weiter, wir nehmen die Note nicht an! – dadurch kommen wir in eine unhaltbare Position und würden Zwangsmaßnahmen gegen uns heraufbeschwören. So kann man aber nicht handeln, wenn man für das Wohl eines 60-Millionen-Volkes verantwortlich ist. Wir müssen bestrebt sein, durch weitere Verhandlungen einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden und zu einem erträglichen Zustand zu gelangen13.
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Der Vorsitzende der Dt. Friedensdelegation in Paris, Frhr. von Lersner, hatte die ihm am 3. 2. übergebenen Auslieferungslisten noch am gleichen Tag an den Präs. der Friedenskonferenz, Millerand, unter Abgabe folgender Erklärung zurückgesandt: „[…] Ich habe im Laufe der letzten drei Monate den Vertretern der Alliierten und Assoziierten Regierungen zehnmal schriftlich und dreizehnmal mündlich in ernstester Weise die Gründe dargelegt, die es unmöglich machen, ein solches Verlangen zu erfüllen, gleichviel welche Stellung die Beschuldigten einnehmen und welchen Namen sie tragen. Ich erinnere Euere Exzellenz an meine ständig wiederholte Erklärung, daß sich kein deutscher Beamter bereit finden würde, in irgendeiner Weise an der Ausführung des Auslieferungsverlangens mitzuwirken. Eine solche Mitwirkung wäre es, wenn ich die Note Euerer Exzellenz an die Deutsche Regierung weiterleiten wollte. Ich sende sie daher in der Anlage zurück. Meiner Regierung habe ich mitgeteilt, daß ich mein Amt nicht weiterführen kann und mit dem nächsten Zuge Paris verlassen werde“ (Urkunden zum Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919. Teil II, S. 948). Das von Lersner eingereichte Entlassungsgesuch wird von der RReg. umgehend angenommen. Zur Wirkung des von Lersner inszenierten „Theatercoups“ (Petit Parisien vom 5.2.20) s. die Zeitungsausschnittsammlung im Nachl. von Le Suire, vorl. Nr. 91.
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Einzelheiten s. Dok. Nr. 160, P. 2.
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Die Auslieferungslisten werden der RReg. am 7. 2. vom frz. Geschäftsträger in Berlin, de Marcilly, mit der Erklärung Millerands übergeben, daß die All. in der Handlungsweise des Frhrn. von Lersner eine persönliche Kundgebung sähen, für die die RReg. keine Verantwortung trage. Die All. nähmen nicht an, daß die RReg. einen Monat nach Inkrafttreten des VV vorsätzlich eine wesentliche Bestimmung des VV nicht erfüllen wolle (Urkunden zum Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919. Teil II, S. 946 f.).
Die Gegner sind nicht einig. Japan und Amerika haben es abgelehnt, bei dieser Sache überhaupt mitzumachen. Die italienische Regierung hat maßgebenden Kreisen gegenüber auch erklärt, sie wolle nicht mitmachen. Sie hat es inzwischen aber doch getan, wahrscheinlich unter dem Zwange anderer Kräfte. Immerhin sind in Italien überaus starke Kräfte vorhanden, die gegen das Auslieferungsbegehren sind, und man kann wohl annehmen, daß, wenn es zur Entscheidung darüber kommt, ob nun mit aller Brutalität gegen das deutsche Volk vorgegangen werden soll, weil die Regierung es für unmöglich erklärt, die Auslieferung durchzuführen, daß dann Einigkeit unter den Alliierten nicht allzu schnell herbeizuführen sein wird.
Wir müssen also bestrebt sein, die Gegner nicht zusammenzutreiben und wir treiben sie zusammen, wenn wir sie provozieren. Sowohl die deutsche Öffentlichkeit in der Presse wie auch in Versammlungen usw. sollte also in diesen schweren Tagen die Frage mit möglichster Zurückhaltung behandeln, nicht Zurückhaltung in dem Sinne, daß man etwa das Auslieferungsbegehren nicht ablehnt und für undurchführbar erklärt, aber Zurückhaltung soweit etwa verletzende Angriffe gegen Ententestaatsmänner oder ihre Regierungen in Frage kommen. Je ruhiger und sachlicher wir die Frage behandeln und je einiger das[581] Volk in dieser Frage auftritt, um so eher haben wir Aussicht, aus diesem Dilemma herauszukommen. Ich sage noch einmal: Wir müssen alles vermeiden, was geeignet ist, unsere Gegner zusammenzutreiben und den Kräften, die auf eine immer weitergehende Vernichtung Deutschlands ausgehen, Oberwasser zu schaffen.
Wir sind gegenwärtig in Paris ohne Vertretung, wenigstens ohne geeignete. Der Geschäftsträger, Minister Mayer, befindet sich in München zur Erledigung privater Angelegenheiten, trifft heute vormittag in Berlin ein, und wir hoffen, daß er heute abend bereits wird die Reise nach Paris antreten, so daß wir dann wieder eine Vertretung haben14. Das ist ja in der jetzigen Situation das allerdringlichste. Wir brauchen einen Unterhändler, der unsere Interessen in ausreichender Weise wahrzunehmen in der Lage ist.
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Vor seiner endgültigen Abreise am 10. 2. nimmt Mayer noch mit den Ministern Müller, Noske und Koch an einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses der NatVers. am 9. 2. teil, in der sich der Ausschuß „mit der bisherigen Haltung und den vorgesehenen Schritten der Regierung“ einverstanden erklärt (DAZ Nr. 74 vom 10.2.20).
Das ist die gegenwärtige Situation. Ich sagte schon, daß irgend welcher Zwiespalt oder irgendwelche abweichende Auffassung über diese Fragen in der Regierung nicht besteht und daß Nachrichten anderer Art unzutreffend sind. Es gibt nur eine Meinung und eine Auffassung, und diese geht dahin, daß das Auslieferungsbegehren eine Unmöglichkeit ist, daß es nicht erfüllt werden kann, daß es nicht durchgeführt werden kann. Ich bitte Sie, auch darauf immer den Nachdruck zu legen. Nicht zu sagen: Die Regierung will nicht, aber sie kann[!]. Es ist natürlich viel angenehmer und würde den Mitgliedern der Regierung vielleicht in weiten Kreisen des Volkes eine weit günstigere Position schaffen wenn wir sagten: Nein, wir wollen nicht! Aber Sie werden mir zugeben, durch eine solche Betonung würde der Widerstand auf der anderen Seite wachgerufen und [es] würde schließlich die Uneinigkeit, die vorhanden ist, umgewandelt werden zu einer Einigkeit, und die Scharfmacher auf der anderen Seite würden sagen: Ja, sie haben nur den schlechten Willen, sie wollen nicht! Ich glaube daher, wir haben alles Interesse daran zu erklären: Wir können nicht. Es ist eine Unmöglichkeit, wenn wir gar keine Menschen oder gar kein Organ in Deutschland haben, daß solche Befehle auszuführen bereit oder in der Lage sein würde. Es muß also immer der Nachdruck auf das Nichtkönnen gelegt werden.
Außerdem kommt es darauf an, diese Frage nun von einheitlichen Gesichtspunkten aus zu behandeln und Parteirücksichten zurückzustellen. Meine Herren, wenn angesichts dieser Situation wieder gegenseitige Vorwürfe erhoben werden und eine Partei gegen die andere die Situation auszuschlachten sucht, dann laufen wir immer Gefahr, daß aus dieser großen, die Existenz unseres Volkes aufs tiefste berührenden Frage ein elendes Parteigezänk wird und die großen Gesichtspunkte dabei hinten herunterfallen. Das muß unter allen Umständen vermieden werden. Die Parteistreitigkeiten können ja einige Wochen später ausgetragen werden. Niemand verliert etwas dabei und die Parteisuppe kann nachher auch noch mit einer Energie gekocht werden, die nichts zu wünschen[582] übrig läßt. Ich sage also, es verliert niemand etwas, wenn man in den nächsten Tagen und auch vielleicht noch in den nächsten Wochen sich etwas zurückhält, wenn man die einheitlichen Gesichtspunkte betont und die parteipolitischen Auseinandersetzungen über diese Frage einer späteren Zeit, die nicht gar zu fern sein braucht, überläßt.
Daß die Mitglieder der Regierung sich in dieser Stellungnahme irgendwie von versöhnlichen14a Gesichtspunkten leiten lassen, das, meine Herren, brauche ich kaum zurückzuweisen. Trotzdem tauchen solche Behauptungen auf. Es wird von persönlichen Kabinettssorgen bei Unterzeichnung [des] Friedensvertrages gesprochen. Ich brauche mich ja gegen diese Auffassung ja gar nicht zu verwahren. Jeder von uns würde gern bereit sein, jeden Tag und jede Stunde diese Sorgen von sich zu werfen, wenn nur die Personen dabei interessiert wären. Es ist nur die Überzeugung, daß schließlich im Interesse des gesamten Volkes diese Aufgabe durchgeführt werden muß und daß andere Männer auch nicht anders handeln könnten, daß wir unsere Politik ganz zwangsläufig treiben müssen, die uns veranlaßt, auf unserem Posten zu bleiben. Ich sage also nochmals: Keinerlei persönliche Sorgen, sondern nur die Sorge um das gesamte Volk, um unsere nationale Existenz. Diese Sorge ist es, die uns bei unseren Handlungen und Entscheidungen leitet15.
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) Muß wohl heißen: persönlichen.
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Vgl. dazu die Stellungnahmen der übrigen Kabinettsmitglieder: Im Anschluß an eine die Haltung der RReg. billigende Erklärung des RR vom 5. 2. führt RM David aus: „Für die Reichsregierung ist es außerordentlich wertvoll, daß der Reichsrat als berufener Vertreter der Einzelländer geschlossen hinter der Reichsregierung steht. Es ist von größter Bedeutung, daß hier alle Stämme unseres Volkes durchaus einig sind, aus Ost und West, Nord und Süd in der Meinung sich einig sind, daß das Verlangen der Entente für uns, für jede deutsche Regierung, unausführbar ist. Auf dieser Einigkeit fußt die Politik der Reichsregierung […]“ (DAZ Nr. 67 vom 6.2.20). In der gleichen Zeitungsausgabe folgt der auszugsweise Abdruck eines Interviews, das RWeM Noske dem Korrespondenten der „Daily Mail“ gegeben hatte. Darin bekundete der RWeM, daß er „nicht das geringste tun“ werde, um der Auslieferungsforderung zu entsprechen – nicht, weil ihm daran gelegen sei, den VV zu sabotieren, „sondern weil kein Mensch in Deutschland in der Lage ist“, diese Forderung zu erfüllen. „Die Truppe würde einem Befehl, bei der Auslieferung mitzuhelfen, niemals Folge leisten. Das Instrument, das jetzt allein die Ruhe gewährleistet, würde zerbrechen. […] Die Sachlage ist also so, daß, wenn ich und meine Ministerkollegen den Versuch machen würden, die Forderung der Entente zu erfüllen, die ich für schändlich und schimpflich halte, wir das Land in schwerste Wirrnisse bringen. Wer regieren soll, wenn die Regierung zurückträte, kann ich mir nicht vorstellen. Eine Parlamentsmehrheit, die die Geschäfte weiterführen will, wäre nicht vorhanden. Auch die Unabhängigen, die dazu vielleicht bereit wären, hätten keine Möglichkeit, die Auslieferung durchzuführen. Wer die Auslieferung versucht, würde den Bürgerkrieg entfesseln. Eine Regierung der Konservativen ist undenkbar, sie würde erst recht nicht ausliefern. Es kommt also darauf hinaus, daß die Entente, nachdem sie 4 Jahre lang als Kriegsziel die Demokratisierung Deutschlands angegeben hat, die jetzige Regierung stürzt, ohne die Möglichkeit, eine leistungsfähige andere zu erhalten.“ Dem gleichen Korrespondenten gegenüber betonte RFM Erzberger, Reg. und Volk seien in der Auslieferungsfrage „völlig einmütig.“ „Die Alliierten greifen an den Lebensnerv unserer nationalen Ehre, mit rauher Hand greifen sie in unsere sich [all]mählich konsolidierende Ordnung, sie spielen in frevelhafter Weise mit dem Feuer. Der Körper der Nation würde in einer Weise erschüttert werden, daß kein Mensch sagen könnte, was aus Europa würde. Ich habe meinen Worten nichts hinzuzufügen. Eine Auslieferung ist unmöglich. […]“ (DAZ Nr. 72 vom 9.2.20). Über die Haltung der Demokraten schreibt RIM Koch in einer hschr. Tagebuchaufzeichnung vom 6. 2.: „Wir haben in der Formel ‚Unmöglichkeit der Erfüllung der zugesagten Leistung‘ eine gemeinsame Plattform gefunden, die man nicht ohne Not preisgeben soll“ (Nachl. Koch-Weser, Nr. 21, Bl. 62). In der Verteidigung des zit. Grundsatzes fühlt sich RJM Schiffer nach Bekanntwerden der offiziellen Auslieferungsliste noch bestärkt, als er am 11. 2. dem juristischen Mitarbeiter der DAZ die Stellung der RReg. erläutert (DAZ Nr. 77 vom 11.2.20). Als am 10. 2. in Pariser Zeitungen ein möglicher „Umfall“ der dt. Reg. angedeutet wird und am 11. 2. auch in der dt. Tagespresse Mutmaßungen über einen Rücktritt des RWiM angestellt werden, da er in der Auslieferungsfrage mit dem RKab. nicht übereinstimme (vgl. DAZ Nr. 76, 77 vom 11.2.20), sieht sich RAM Müller veranlaßt, dem Korrespondenten der „Daily News“ gegenüber zu erklären: „Gerüchte über Unstimmigkeiten innerhalb des Kabinetts machen die Runde. Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, um die Tatsache zu unterstreichen, daß das Kabinett in dieser Frage absolut einig ist; ebenso wie die Reichsregierung ganz einig darin ist, daß diejenigen, die eines Verbrechens schuldig sind, bestraft werden müssen. Wege dazu hat die deutsche Regierung angegeben. Indem die alliierten Regierungen uns diese Liste einhändigen, geben sie den Strafbestimmungen eine Deutung, die trotz des guten Willens der deutschen Regierung die loyale Erfüllung dieses Teiles des Friedensvertrages physisch unmöglich macht“ (DAZ Nr. 76 vom 11.2.20).
[583] Mendel: Kann man uns etwas darüber sagen, ob beabsichtigt ist, die Nationalversammlung einzuberufen? Der Präsident der Nationalversammlung hat die Ermächtigung erhalten, in außerordentlichen Fällen eine Sitzung der Nationalversammlung anzuberaumen16.
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Vgl. dazu den Schluß der NatVers.-Debatte vom 18.1.20 (NatVers.-Bd. 332, S. 4514 f.). Das Plenum tritt zur Beratung der Auslieferungsbegehren nicht zusammen.
Dr. Breslauer: Nimmt Minister Mayer Anweisungen nach Paris mit, die Note, die Herr von Lersner zurückgewiesen hat, entgegenzunehmen?
Dr. Oehme: Ich möchte gern um Auskunft bitten, ob der Regierung bereits am vorigen Donnerstag [29.1.20] bekannt war, daß Herr von Lersner die Absicht hat, die in diesem Falle zu überreichende Note nicht anzunehmen? Konnte die Regierung nicht einen derartigen Akt nach der bisherigen Haltung des Herrn von Lersner voraussehen? Waren die Angelegenheiten, die der deutsche Geschäftsträger in Deutschland zu erledigen hatte, so wichtig, daß seine Abberufung in einem Augenblick, wo in Paris eine so schwierige Situation war, unbedingt notwendig war? Konnte man im Augenblick nicht dafür Sorge tragen, daß in einer so ernsten Situation der wirklich beauftragte Mann an Ort und Stelle war?
Ferner muß ich bitten, uns noch einige kurze Aufklärungen zu geben, was die Regierung versteht unter den Worten „unter allen Umständen“, die sie in ihrer offiziellen Erklärung über die gestrige Kabinettssitzung angewandt hat17? Ich bin vollkommen der Überzeugung, daß es im deutschen Volke nur eine Stimme geben wird, darüber, daß sich hier eine große Ungerechtigkeit gegenüber dem deutschen Volke vollzieht; das hat auch meine Partei und meine Presse zum Ausdruck gebracht18. Die Regierung, fürchte ich aber, irrt sich, denn sie muß bedenken: In dem Augenblick, wo die vielfach angekündigten und nun naheliegenden Maßnahmen der Entente eintreten, daß man die Gefangenentransporte abdrosselt, entsteht die Frage: 250 000 Gefangene gegenüber 900 Auszuliefernden. Ich muß es der Regierung überlassen, daraus Schlüsse auf die Stimmung des Volkes zu ziehen. Ich muß aber angesichts der Worte „unter allen Umständen“ bitten, uns auch hierüber Auskunft zu geben. Auf die Blockade-Drohung brauche ich nicht näher einzugehen, aber was gedenkt die Regierung dann zu tun?
[584] Ich kann in diesem Augenblick mein Bedauern nicht unterdrücken, daß es im gegenwärtigen Zeitpunkt einem großen Teil der Presse nicht möglich ist, ihre Meinung öffentlich zu vertreten19 und daß so das, was dem Auslande als öffentliche Meinung Deutschlands vorgelegt wird, eine verfälschte öffentliche Meinung ist.
Reichskanzler Bauer: Was die Nationalversammlung anlangt, so hat die Regierung zum Sonnabend [7. 2.] die Vorsitzenden der Fraktionen der Nationalversammlung einberufen und mit diesen wird sie sich verständigen, ob und wann evtl. der Zusammentritt der Nationalversammlung möglich ist. Bis dahin hoffen wir auch im Besitz der Note der Entente zu sein. Ohne Kenntnis des Inhalts dieser Note ist es ja schwer, irgendwelche Entschlüsse zu fassen, denn von ihrem Wortlaut wird es ja ganz abhängen, inwieweit Verhandlungen möglich sind. Die Entscheidung darüber kann also erst in einer späteren Zukunft erfolgen; sie wird wahrscheinlich am Sonnabend oder am Montag erfolgen20.
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Zu Besprechungen über die Auslieferungsfrage waren gem. Kabinettsbeschluß vom 4. 2., TOP 2, die Fraktionsvorsitzenden der Mehrheitsparteien bzw. aller in der NatVers. vertretenen Parteien für den 7. 2. in die Rkei eingeladen worden (R 43 I/340, Bl. 176–187). Amtliche Aufzeichnungen über die Gespräche liegen in den Akten der Rkei nicht vor. Der Verlauf der Besprechung des RKab. mit den Vertretern der Mehrheitsparteien wird – ersatzweise – in den Tagebuchaufzeichnungen RIM Kochs deutlich: „Scheidemann macht seine Intrigantenpolitik. Die jetzige Regierung könne nicht ‚Nein‘ sagen, sondern müsse wenigstens den Versuch machen zu erfüllen. Er behalte recht mit seiner Ablehnung. Petersen unterstreicht das ungeschickterweise unabsichtlich, indem er Scheidemann darauf hinweist, daß die demokratischen Minister in der Regierung in Konsequenz ihrer Ablehnung des Friedens jetzt nicht an der Auslieferung mitwirken könnten. Er lenkt also die Sozis geradezu in die Bahn der Scheidemannschen Gedankengänge, anstatt zu betonen, daß wir vor einer neuen Sachlage stehen, zu der man, unbekümmert um die frühere Haltung, mit einem ‚non possumus‘ Stellung nehmen kann. Gothein redet davon, daß das Kabinett zurücktreten und sich als Geschäftsministerium wieder etablieren solle, was ich […] für eine Dummheit halte. Bauer sagt von seinem Standpunkt klar und gut, daß heute unsere Position stärker sei als im vorigen Juni, weil die Entente nicht einmarschbereit sei, weil sie auf Grund dieser Nichterfüllung auch gar kein Recht zum Einmarsch habe, weil sie ferner in sich uneinig sei und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die bolschewistische Gefahr näher sähe. Er weist darauf hin, daß die Unterzeichner immer die Erfüllung mancher Punkte für unmöglich erklärt haben. – Also eine Rederei ohne Förderung, keine Verhandlung. Es kam darauf an, die Haltung zu präzisieren, auch sich klar zu werden, ob man sich mit der Rechten zusammenfinden oder wenigstens sie vor eine Alternative stellen könne, bei deren Ablehnung sie öffentlich ins Unrecht gesetzt sind. Namentlich würde ich verlangen, daß sie bei Einberufung der Nationalversammlung eine Kundgebung nicht dadurch stören, daß sie auf die Unterzeichnung des Friedensvertrages losschlagen. Das ist ja überhaupt das Schlimme, daß die Rechte auch in ihrer Presse nicht die geringste Disziplin zeigt. Es kommt doch alles darauf an, die Sozialdemokratie zu halten. Statt dessen machen sie ihnen die Haltung so schwer wie möglich. Das nennt man dann ‚national‘. – Morgen vormittag geht das Gerede weiter“ (hschr. Aufzeichnung in Briefform vom 7.2.20; Nachl. Koch-Weser, Nr. 21, Bl. 67–69). Über den Fortgang der Gespräche am 8. 2. berichtet Koch: „Die Deutsch-Nationalen haben sich gestern bereit erklärt, sich hinter die Regierung zu stellen. Sie erklären: ‚Wir wollen nicht ausliefern.‘ Wenn aber die Regierung erklärt: ‚Wir können nicht ausliefern‘, so genügt ihnen das auch. Wenigstens solange Posadowski die Leute in der Hand behält. Die Hauptsache aber ist, daß die Stimmung in Engl[an]d geradezu phänomenal umschlägt. Die prompte Veröffentlichung der Liste durch uns […] hat, wie Müller soeben ausführt, Wunder gewirkt. [. . . .] Zentrum und Dem[okraten] sind heute ganz einig. Keine Aufforderung zur Stellung an die Beschuldigten. Eröffnung des deutschen Verfahrens. Betonung der Unmöglichkeit der Auslieferung. Berufung der NatVers. nach Eingang der zweiten Note [lt. Ankündigung in dem all. Begleitschreiben zu den Auslieferungslisten, wo Ausführungsbestimmungen zu den Auslieferungsartt. des VV in Aussicht gestellt wurden; vgl. Schultheß 1920, II, S. 313 f.]. Schiffer begründet das wieder einmal glänzend. Heil ihm, wenn er losgelassen! Die Sozis tragen ihren Streit vor uns aus. David wider Scheidemann: ‚Wir Unterzeichner können jetzt gegen die Auslieferung sein. Die Nichtunterzeichner müssen es jetzt sein. […]‘ Auch Erzberger steht rückhaltlos auf unserem Standpunkt. Er bedauert nur mit Recht den jubilierenden Ton der Presse heute morgen, der mir geeignet ist, die Leute wieder zusammenzuschmieden“ (hschr. Aufzeichnung in Briefform vom 8.2.20; Nachl. Koch-Weser, Nr. 21, Bl. 71 f.).
[585] Was die Instruktion des Herrn Minister Mayer anlangt, so würde er allerdings, wenn er heute nach Paris fährt, sich bereit erklären müssen, die Note in Empfang zu nehmen und sie der deutschen Regierung zu übermitteln. Ich hoffe, daß er dazu bereit sein wird. Verhandelt konnte ja bisher mit ihm noch nicht werden.
Was die Absicht des Herrn von Lersner anlangt, so sagte ich schon, daß er in einem früheren Zeitpunkt diese seine Absicht der Regierung mitgeteilt hat. Er hat sie nicht offiziell mitgeteilt, sondern er hat sie in einem Gespräch dem Geschäftsträger, Minister Mayer, gegenüber geäußert. Diese Äußerung ist uns bei der Anwesenheit des Geschäftsträgers Mayer mitgeteilt, und darauf hat der Minister des Auswärtigen Herrn von Lersner beauftragt, die Note gegebenenfalls ohne Bemerkungen entgegenzunehmen und sofort hierher zu übermitteln. Dieser Anweisung hat Herr von Lersner nicht widersprochen, so daß anzunehmen war, daß er sich der Anweisung fügte und dementsprechend verfahren würde. Daß aus Herrn von Lersners bisheriger Tätigkeit geschlossen werden würde, daß er das unter keinen Umständen tun würde, ist nicht richtig. Herr von Lersner hat im übrigen während seiner Tätigkeit in Paris sich durchaus bewährt und, wie ich glaube feststellen zu können, uns nützliche Dienste geleistet. Es lag also kein Grund vor, anzunehmen, daß er entgegen der ihm ausdrücklich erteilten Anweisung, der er nicht widersprach, nun doch anders handeln würde.
Die Frage, was das „unter allen Umständen“ bedeute, glaube ich nicht beantworten zu müssen. Die Konsequenzen, die seitens des letzten Redners hier an die Wand gemalt worden sind, sind nicht ausgeschlossen, aber mögen nun Gewaltmaßnahmen angewendet werden wollen, wie sie wollen, die Regierung steht trotz allem auf dem Standpunkt, daß sie nicht in der Lage ist und über keine Machtmittel verfügt, um die Auslieferung der von der Entente Verlangten durchzuführen. Es würde dann ja die Frage sein, ob sich eine Regierung findet, die das tut. Das sind Fragen, die der Zukunft überlassen bleiben müssen, und die wir durch irgendwelche Erörterungen nicht zu klären sind [!].
Dr. Oehme: Ich möchte nur noch die Ergänzungsfrage stellen: Das würde heißen, daß im Falle eines erneuten Stimmungsumschwungs, wie wir ihn im Juni 1919 erlebt haben, wir einen erneuten Rücktritt der Regierung erleben würden.
Reichskanzler Bauer: Das ist nicht eine notwendige Folgerung, sondern eine Auffassung, die Herr Oehme hat. Im übrigen …21.