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Nr. 255
Hugo Stinnes an Reichsfinanzminister Luther. 14. November 1923
R 43 I/453, Bl. 290–295 Durchschrift1
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Die Durchschrift des Schreibens wurde von der Berliner Vertretung der Firma Stinnes der Rkei zugesandt (14.11.23; R 43 I/453, Bl. 289).
[Betrifft: Währungssanierung und wirtschaftliche Lage im Ruhrgebiet.]
Sehr geehrter Herr Doktor,
Im Einvernehmen mit Herrn Vögler habe ich mich entschlossen, Ihnen meine gestrigen mündlichen Ausführungen nochmals zu wiederholen2.
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Einzelheiten dieser Besprechung konnten in R 43 I nicht ermittelt werden.
Ich betrachte es als selbstverständlich und notwendig, daß die Bevölkerung an Ruhr und Rhein, aber auch im unbesetzten Deutschland, darauf aufmerksam gemacht wird, daß von einem bestimmten Tag an, den Sie auf den 26. November beziffern, keine Arbeitslosenunterstützungen mehr gezahlt werden können3. Die Bevölkerung muß sich über den Ernst der Lage unbedingt klar werden, namentlich aber müssen die Leiter der Arbeiterorganisationen erkennen,[1073] daß sie bei Anhalten der jetzigen Unproduktivität das Leben der von ihnen geleiteten oder auch mißleiteten Angestellten- und Arbeiterschaft gefährden.
Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß bei den furchtbaren Lasten, die die rheinisch-westfälische Kohlen- und Eisenindustrie und Reederei für sich und damit für die ganze Bevölkerung an Ruhr und Rhein, aber auch für die ganze verbrauchende Industrie Deutschlands, haben auf sich nehmen müssen4, nur dann gewisse Aussicht auf Durchhalten bis zur grundlegenden Änderung der Finanzlage im Deutschen Reiche besteht, wenn der Kohlen- und Eisenindustrie die Möglichkeit gegeben wird, unter Produktionsverhältnissen ihren Betrieb wieder zu beginnen, die es gestatten, zu der Vorkriegs-Wirtschaftlichkeit zurückzugelangen.
Es gibt große Werke, die entschlossen sind, im Selbsterhaltungstrieb und im Interesse der Angestellten und Arbeiter den Betrieb überhaupt nicht wieder anders zu eröffnen, als wenn die Vorkriegs-Arbeitszeit wieder eingeführt wird5.
Herr Vögler und ich haben Sie deswegen gestern inständigst gebeten und diese Bitte dem Herrn Reichskanzler und Herrn Staatsminister [!] Dr. Koeth wiederholt, die gesetzlichen Hindernisse zu beseitigen, die den einzelnen Unternehmungen Deutschlands die Möglichkeit nehmen, in ihren Werken eine verlängerte Arbeitszeit bis zu dem Maximum derjenigen Arbeitszeit, die vor dem Kriege bestand, wieder einzuführen6.
Um dieses Ziel zu erreichen, würde es genügen, wenn auf Grund des § 48 oder des Ermächtigungsgesetzes die Verordnung erlassen würde, daß unbeschadet der gesetzlichen Bestimmungen über die Arbeitszeit es den Unternehmern im besetzten und unbesetzten Gebiet gestattet ist, im Wege der Vereinbarung mit den Angestellten und Arbeitern der einzelnen Werke eine Arbeitszeit wieder einzuführen bis zu dem Höchstmaß derjenigen Arbeitszeit, die vor dem Kriege bestand.
Die Lage an Ruhr und Rhein ist überaus gefahrdrohend. Die Bevölkerung ist bei der heutigen Notlage durchaus ungenügend beschäftigt und – das muß offen anerkannt werden – so ungenügend bezahlt, daß eine ausreichende Ernährung durchweg nicht Platz greifen kann.
Diesem Zustand muß so schnell wie möglich ein Ende gesetzt werden, ohne daß indes der nationale Charakter der Rhein/Ruhr-Industrie beseitigt wird. Auf die Beseitigung dieses deutschen Charakters der Werke legt es der Franzose an. Er respektiert nach den Erfahrungen der Französischen Revolution äußerlich das Privateigentum, aber er schafft sich mit äußerster Geschicklichkeit durch unerhörte Bedrückung und Belastung private Rechtstitel – Schuldtitel –,[1074] die ihm in späterer Zeit es ermöglichen, die rheinisch-westfälische Industrie zu entnationalisieren und damit bei dem überragenden Einfluß dieser Industrie auch auf die Bevölkerung die Bevölkerung selbst zu entnationalisieren. Von dem Zeitpunkt an, wo dieses Ziel erreicht sein sollte, – und der Zeitpunkt kann ein ganz naher sein –, ist die Rhein/Ruhr-Frage allein aus diesem Grunde in französischem Sinne entschieden.
Es ist die Pflicht der gesamten Bevölkerung und insbesondere der Staatsregierung, dieser ungeheuren Gefahr vorzubeugen und zugleich eine lebenskräftige Bevölkerung an Rhein und Ruhr zu erhalten.
Ihnen ist selbstverständlich bekannt, und wir haben uns mehrfach darüber ausgesprochen, daß es ein scheinbarer Widerspruch ist, wenn man in der Zeit der größten Arbeitslosigkeit verlängerte Arbeitszeit verlangt. Dennoch möchte ich auf dieses Problem mit wenigen Worten zurückkommen.
Die Arbeitszeit entscheidet über die Selbstkosten und die Selbstkosten hindern die deutsche Exportindustrie, sich soviel Aufträge auf dem Weltmarkt zu verschaffen, daß sie zunächst den Rohstoff- und Lebensmittelbedarf, den Deutschland unvermeidlich hat, bezahlen und für den Aufbau in Deutschland und die Reparationen etwas erübrigen kann. Nur wenn die deutsche Industrie und der Exporthandel wissen, daß sie die Aufträge in genügendem Ausmaß auf dem Weltmarkt heranholen können auf Grund demnächst wesentlich ermäßigter Selbstkosten, ist Deutschland in der Lage, der Arbeitslosigkeit erfolgreich entgegenzutreten. Längere Arbeitszeit schafft in den Umständen, unter denen heute Deutschland lebt, Mehrarbeit.
Die nach dem Kriege wieder durchweg in guten Zustand versetzten Instrumente der Wirtschaft, die zum großen Teil auch in weitgehendem Maße, namentlich in der Wärmewirtschaft, verbessert worden sind, können mangels Kapital in nächster Zeit eine nennenswerte Ausgestaltung nicht erfahren. Will man also mehr erzeugen und exportieren, so muß länger gearbeitet werden.
Die Behauptung der Linkspresse, daß die technische Ausgestaltung der industriellen Werke verabsäumt worden sei, beruht auf Unkenntnis oder ist böswillig erfunden. Soweit die finanzielle Kraft der Industrie reichte, ist durchweg nichts verabsäumt worden.
Selbstverständlich muß von Regierungswegen dafür gesorgt werden, und das wird eine der wesentlichen Aufgaben des Reichswirtschaftsministeriums sein, daß die Industrie von allen unnötigen Verhandlungen entlastet wird, so daß in kürzester Frist die unproduktiven Kosten des Leerlaufs der Werke auf ein Minimum beschränkt werden, um jedenfalls zu dem Prozentsatz der General-Unkosten der Vorkriegszeit zurückkehren zu können. Dann wird es auch möglich sein, namentlich die gelernte Arbeiterschaft, die heute durchweg ungenügend bezahlt wird, wieder besser zu entlohnen und auch die leitenden Personen, die heute vielfach für den Bestand ihrer Familien und die zukünftige Ausbildung der folgenden Generationen mehr fürchten als die Arbeiter, wieder angemessen zu bezahlen.
Wenn Sie nicht in der Frage der Arbeitszeit durchgreifen, ist jede Währung – und wenn sie noch so gut fundiert ist – zum Verfall verurteilt. Die[1075] Rentenmark, die Goldanleihe und die Dollarschatzanweisungen werden in kürzester Frist schwer in Verfall geraten, wenn Sie nicht gleichzeitig die Vorbedingungen schaffen, daß das Ausland Zutrauen zu der wiedererstarkenden Wirtschaftskraft Deutschlands hat, und wenn nicht in einem Anlauf von 3 bis 6 Monaten die Möglichkeit gegeben wird, im Wesentlichen der Arbeitslosenfrage durch Beschaffung von Aufträgen im Ausland Herr zu werden. Produzieren Sie nicht genug, so gehen die neuen sogenannten wertbeständigen Währungen unfehlbar den Weg der Papiermark. Ist das aber der Fall, dann entscheidet sich damit auch das Schicksal von Rhein und Ruhr, denn dann ist das Deutsche Reich nicht in der Lage, so rechtzeitig seine Finanzen zu ordnen, daß Rhein und Ruhr nicht unfehlbar in französische Schuldknechtschaft geraten, der sie sich nur entziehen können, indem sich das dortige Gebiet politisch den französischen Forderungen gefügig zeigt.
Bei anderer Gelegenheit erlaubte ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die fünf Monate, die die Rhein/Ruhr-Industrie im Falle des Abschlusses eines vorläufigen Abkommens mit den Franzosen gewinnt, ausgenutzt werden müssen, um in dieser Zeit die Reparationsfrage von Grund auf zu lösen.
Es muß dafür gesorgt werden, daß im gesamten Deutschen Reich vorhandene Einnahmequellen zum Fließen gebracht werden, die heute durch schlechte Bewirtschaftung nichts geben. Das wird m. E. nur möglich sein, wenn ganze Gebiete nach rein finanziellen Gesichtspunkten in sachverständiger Weise nutzbar gemacht werden, und man darf nicht davor zurückschrecken, die Nutzbarmachung dieser Einnahmequellen zwar unter deutscher Leitung, aber unter Mitwirkung internationaler Finanzinstitute vorzunehmen.
Das Reich, die Staaten und überhaupt die öffentliche Hand werden sich mit dem denkbar niedrigsten Personal auf die Wahrnehmung der reinen Hoheitsfunktionen beschränken müssen, zu denen ich allerdings alle Zölle und alle Einkommensteuern rechne. Diese Einkommensquellen sollten meines Erachtens niemals aus der Hand gegeben werden, während andererseits alle anderen Einnahmequellen zum Fließen gebracht werden müssen in der wirtschaftlich richtigsten Form mit dem Endziel, daß das Deutsche Reich wieder ein freier Staat wird, in dem die Bevölkerung ein auskömmliches Dasein führen kann.
Wenn die Sicherheit besteht, daß dieses Ziel erreicht wird, dann kann es auch nicht darauf ankommen, für eine absehbare Frist gewisse und erhebliche Beträge von Rentenmark und Goldanleihe zu opfern. Denn wenn ich in sechs Monaten die Voraussetzung für eine Stabilisierung der Währung schaffen kann, dann ist es auch am Ende gleichgültig, ob in diesen sechs Monaten ein etwas größerer oder ein etwas kleinerer Betrag hat aufgewandt werden müssen, selbst mit einer gewissen Inflation, um die Bevölkerung bei Kräften zu erhalten für die Aufgabe, die ihr nach Ablauf dieser absehbaren Frist an Mehrarbeit zugemutet werden muß.
Ich stehe jederzeit zu weiterer Erörterung dieser Fragen zur Verfügung und erlaube mir, Herrn Reichskanzler Dr. Stresemann, Herrn Staatsminister[1076] Dr. Koeth und Herrn Generaldirektor Vögler Durchschlag dieser Zeilen zu schicken7.
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Eine Erwiderung oder Erörterung des Schreibens wurde nicht ermittelt.
Mit freundlichem Gruß
Ihr ergebener
(gez.) Hugo Stinnes