2.218.1 (bru1p): 1. Genfer Ratstagung.

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1. Genfer Ratstagung.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete zunächst über die bevorstehende Sitzung des Europäischen Studienkomitees1. Wahrscheinlich werde eine besondere Kommission für die Festsetzung des Programms der Beratungen gebildet werden. Deutschland werde in dieser Kommission besonders für die Gleichstellung der politischen neben den wirtschaftlichen Fragen eintreten, wobei naturgemäß auch der Minderheitenfrage gedacht werden müsse.

1

Vgl. Dok. Nr. 111, Anm. 20. Das Studienkomitee tagte vom 16.–21.1.31 (Schultheß 1931, S. 566). Zum Ergebnis der Sitzung s. Dok. Nr. 227.

In wirtschaftlicher Hinsicht werde der englische Vorschlag für Stabilisierung der Zölle zur Beratung stehen2. Deutschland werde mit dem Vorbehalt der Erfüllung der von Deutschland zu stellenden Bedingungen diesen Vorschlag unterstützen. Ferner werde die Frage der Präferenzzölle für die südosteuropäischen Agrarländer erörtert werden3. Der Reichsminister des Auswärtigen erbat die Zustimmung des Reichskabinetts dafür, daß Deutschland in dieser Frage positiv und fördernd mitarbeite. Der Ausgang der Verhandlungen sei allerdings noch sehr zweifelhaft.

2

Der engl. AM Henderson forderte am 17.1.31 im Studienkomitee die allgemeine Herabsetzung der europäischen Zölle (WTB Nr. 126 vom 18.1.31 in R 43 I /619 , Bl. 73).

3

In einem Erlaß vom 29.12.30 hatte der RAM die Dt. Botschaft in Paris von seiner Absicht informiert, die Wünsche der osteuropäischen Länder auf Gewährung einer Zollpräferenz für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu unterstützen, soweit es sich um Getreide aus den südosteuropäischen Ländern handle. Er habe die Absicht, in dieser Frage Hand in Hand mit Frankreich zu gehen und bitte, dies dem HandM Loucheur zur Kenntnis zu bringen (Pol. Arch. des AA, Völkerbund, Paneuropa: Allgemeines, Akten betr. Paneuropa. Allgemeines: Politische und wirtschaftliche Annäherung der europäischen Staaten, Bd. 7). Hoesch hatte berichtet, daß Loucheur den Gedanken einer dt.-frz. Zusammenarbeit in der Getreidefrage begrüßt hätte (Telegramm Nr. 19 vom 6.1.31, R 43 I /619 ,  Bl. 42–43).

Des weiteren trug der Reichsminister des Auswärtigen die beabsichtigte Haltung der deutschen Delegation im deutsch-polnischen Streit vor. Abgesehen von den Beschwerden über die Vorkommnisse während der polnischen Wahlen4 seien noch Beschwerden über die Entdeutschungsmaßnahmen durch die[781] polnische Agrarreform5, die steuerliche Behandlung der Fürstlich Pleßschen Vermögensverwaltung6 und eine Anzahl kleinerer Punkte zu erledigen.

4

S. Dok. Nr. 173, P. 1.

5

Vgl. Dok. Nr. 209.

6

S. Dok. Nr. 25, P. 1 und Dok. Nr. 227.

Hinsichtlich der oberschlesischen Fälle werde die deutsche Delegation folgende Lösungen zu erreichen suchen:

Es müsse angestrebt werden, daß der Völkerbund eine Enquête-Kommission zur Feststellung des Tatbestandes bei den verschiedenen Beschwerdefällen einsetze. Diese Kommission müsse wirklich neutral zusammengesetzt und geleitet sein. Besonders wünschenswert wäre natürlich ein Vorsitz Calonders7. Unabhängig davon müsse schon während dieser Ratstagung durch Zeugenvernehmungen die von polnischer Seite verübte Vertragsverletzung festgestellt und gerügt werden. Insbesondere sei dabei Wert darauf zu legen, daß Herr Calonder als Zeuge vernommen werde. Ein Abschluß des gesamten Verfahrens erschien dem Reichsminister des Auswärtigen in dieser Ratstagung nicht möglich, da zunächst das Ergebnis der Enquête abgewartet werden müsse. Auf Grund dieses Ergebnisses würde dann in der nächsten Ratstagung über die Abhilfemaßnahmen zu beraten sein8.

7

Felix Calonder, Vorsitzender der gemischten dt.-poln. Kommission für Oberschlesien.

8

Über die Behandlung der dt. Beschwerden durch den VB-Rat s. Dok. Nr. 227, Anm. 17.

Sollten von den oben geschilderten deutschen Forderungen wesentliche Punkte nicht erreichbar sein, so werde die Delegation zunächst erneut mit Reichskanzler und Reichskabinett Fühlung nehmen, um über die sich daraus ergebenden Folgen zu beraten.

Zur Erledigung der von den Memelländern eingereichten Beschwerde bemerkte der Reichsminister des Auswärtigen: die Ernennung eines rein deutschen Direktoriums im Memelland sei inzwischen als Erfolg zu buchen. Es werde zweckmäßig sein, das Verfahren ohne allzu große Schärfen langsam weiterzuführen9.

9

S. Dok. Nr. 130, Anm. 11 und 12.

In der litauisch-polnischen Transitfrage werde Litauen von Deutschland unterstützt werden10.

10

Vgl. dazu Dok. Nr. 111, Anm. 9 und 10.

Zur Abrüstungsfrage11 bemerkte der Reichsminister des Auswärtigen, daß eine weitere Vertagung der Konferenz auf unbestimmte Zeit für Deutschland nicht erträglich sei. Da ungefähr der Zeitraum eines Jahres zur Vorbereitung erforderlich sein werde, erbitte er Genehmigung des Reichskabinetts, einem möglichst früh anzusetzenden Datum, etwa zwischen dem 5.11.1931 und 1. 3. 1932, zuzustimmen. Ob die Frage des Vorsitzes schon zur Entscheidung kommen werde, sei zweifelhaft. Im Vordergrund stände Herr Benesch, der vielleicht auch für Deutschland kein ganz unerwünschter Kandidat sei, insbesondere, wenn man den Fall ins Auge fasse, daß die Konferenz auch ergebnislos enden könne. Eine Anzahl von Ländern setze sich bereits für einen neutralen Vorsitzenden ein.[782] Der Reichsminister des Auswärtigen bat, ihm für diese Verhandlungen freie Hand zu lassen12.

11

Vgl. Dok. Nr. 205.

12

Gegen eine Kandidatur Beneschs hatte sich vor allem Italien ausgesprochen. Der ital. AM Grandi hatte Botschafter v. Schubert auf Benesch angesprochen; Italien lehne ihn ab. Schubert hatte geantwortet, daß auch die dt. Reg. einen neutralen Vorsitzenden vorziehen würde. Grandi hatte darauf eine gemeinsame Demarche gegen Benesch in London [die brit. Reg. hatte Bensch als Kandidaten ins Spiel gebracht] vorgeschlagen (Telegramm Schuberts Nr. 201 vom 19.12.30). Der RAM hatte daraufhin Schubert mitgeteilt, daß die dt. Delegation die Kandidatur Beneschs für tragbar halte (Telegramm des RAM Nr. 241 vom 22.12.30). Am 8.1.31 hatte Schubert berichtet, daß die ital. Reg. die Demarche in London unternommen hätte (Telegramm Nr. 8 vom 8.1.31; alle Telegramme im Pol. Arch. des AA, Büro RM, 18–1 Akten betr. Sicherheitskomitee Abrüstung, Bd. 2). Die fehlende dt. Unterstützung bei dieser Demarche hatte Grandi sehr bedauert (v. Schuberts Telegramm Nr. 13 vom 10.1.31, Pol. Arch. des AA, Büro RM, 8 Akten betr. Italien, Bd. 7).

Das Reichskabinett beschäftigte sich in eingehender Debatte mit den einzelnen vom Reichsminister des Auswärtigen vorgetragenen Punkten.

Der Reichsminister der Finanzen und der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft sprachen sich für eine positive Einstellung Deutschlands in der Frage der Präferenzzölle für die europäischen Agrarländer aus.

Hinsichtlich des Streits mit Polen äußerte Staatssekretär Dr. Trendelenburg die Besorgnis, daß die Einsetzung einer Enquête-Kommission ein Präjudiz schaffen könnte, das nachher für Deutschland unangenehm werden könnte, etwa, wenn bei anderen Mächten der Wunsch bestehe, eine Untersuchung über Rüstungsfragen anzustellen.

Der Reichswehrminister schloß sich diesen Bedenken an.

Staatssekretär v. Bülow und Ministerialdirektor Gaus widerlegten diese Befürchtung. Eine Investigation in Deutschland über militärische Rüstungen sei praktisch nicht durchführbar. Als Präzedenzfall könne die Enquête höchstens für Deutsch-Oberschlesien in Frage kommen.

Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte auf eine weitere Anfrage des Reichsministers Treviranus, daß Deutschland eine ungünstige Zusammensetzung der Enquête-Kommission im deutsch-polnischen Streit jedenfalls verhindern könne, weil der Beschluß zur Einsetzung einer solchen Kommission einstimmig sein müsse. Hierdurch werde allerdings das Zustandekommen einer solchen Kommission überhaupt in Frage gestellt.

Der Stellvertreter des Reichskanzlers betonte, daß er die Einsetzung einer Enquête-Kommission, falls sie sich erreichen lasse, nur als vorteilhaft ansehen könne. Er glaube nicht, daß sich außenpolitisch ungünstige Konsequenzen für Deutschland daraus ergeben würden. Eine Investigation in Deutschland wegen Entwaffnungsfragen würde praktisch die Sprengung des Völkerbundes bedeuten.

Die Aussprache führte zu dem Ergebnis, daß dem Reichsminister des Auswärtigen für das von ihm beabsichtigte Verfahren während der Genfer Ratstagung die Zustimmung des Reichskabinetts ausgesprochen wurde.

Nach Abschluß dieses Punktes teilte der Stellvertreter des Reichskanzlers die soeben eingetroffene Nachricht vom Hinscheiden des Reichstagsabgeordneten[783] Herold mit und widmete dem Entschlafenen Worte eines ehrenden Gedenkens13.

13

Karl Herold, Zentrumsabg. und Alterspräsident des RT, starb am 13.1.31 im Alter von 82 Jahren.

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