1.69.1 (vpa2p): [Finanzlage der Gemeinden; Neugestaltung der Arbeitslosenhilfe; kommunale Arbeitsbeschaffung; Verfassungsreform]

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[Finanzlage der Gemeinden; Neugestaltung der Arbeitslosenhilfe; kommunale Arbeitsbeschaffung; Verfassungsreform]

Präsident Dr. Mulert2 führte aus, daß in der Finanzlage der Gemeinden ein ernster Gefahrenfaktor für die gesamte Finanzlage, auch die Finanzlage des Reichs liege. Die finanzielle Situation vieler Gemeinden sei zur Zeit derartig, daß ihnen nicht mehr die Zahlung des sogenannten A-Bedarfs, nämlich die Zahlung der Löhne, Gehälter und Unterstützungen möglich sei. Die Städte bezahlten vielfach auch nicht mehr Rechnungen für von ihnen vergebene Aufträge an Bauten, Reparaturen usw.

2

Den Standpunkt des Dt. Städtetages in den nachfolgend berührten Fragen hatte Mulert im Hinblick auf diese Besprechung in einem Schreiben an den RK vom 1. 11. (Dok. Nr. 185) eingehend erläutert.

Daß die Städte vielfach die von ihnen erhobenen, an die Länder abzuführenden Steuern einbehalten hätten, sei wohl allgemein bekannt. Der preußische Staat verlange jetzt aber energisch die Abführung dieser Steuern. Dieser Standpunkt Preußens sei an sich erklärlich, werde aber zur Folge haben, daß zahlreichen Gemeinden die Zahlung von Unterstützungen nicht mehr möglich sein werde.

[893] Die letzten Maßnahmen des Reichskabinetts zur Erleichterung der Finanzlage der Gemeinden würden vom Städtetag dankbar anerkannt3. Die Finanzlage werde dadurch aber nicht wesentlich gebessert.

3

Gemeint sind die „Dritten Durchführungsbestimmungen zur Wohlfahrtshilfeverordnung“ vom 3.11.32 (RGBl. I, S. 524 ). Zur diesbez. Kabinettsberatung s. Dok. Nr. 187, P. 2.

Notwendig sei eine Zusammenfassung der gesamten Arbeitslosenhilfe.

Sehr verstimmt seien die Gemeinden durch das in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Gutachten über die Durchführung der Hilfsbedürftigkeitsprüfung in der Arbeitslosenversicherung und Krisenfürsorge durch die Gemeinden, welches der Vorstand der Reichsanstalt verfaßt und dem Reichsarbeitsminister übersandt habe. Einige in den Gemeinden wohl vorgekommene Fälle von Mißgriffen seien in dem Gutachten in unverantwortlicher Weise verallgemeinert worden4. Er bitte um eine Erklärung des Reichsarbeitsministers, die das Gutachten neutralisiere. Das Gutachten werde u. a. in einem Artikel in der DAZ, Morgenausgabe vom 9. November 1932, erörtert.

4

Ein Exemplar dieses von Syrup am 27.10.32 dem RArbM vorgelegten Gutachtens (Druck, 60 Seiten) befindet sich in R 43 I /2323 , Bl. 279–309). Zur „Mitarbeit der Gemeinden bei Prüfung der Bedürftigkeit der Arbeitslosen“ (auf Grund der NotVO vom 14.6.32, RGBl. I, S. 273 ) heißt es in dem Gutachten u. a.: „So wurde z. B. in einem rechtsrheinischen Arbeitsamtsbezirk festgestellt, daß über 30% der vorgelegten Gutachten der Gemeinde zur Berichtigung zurückgegeben werden mußten, weil neben einer großen Anzahl von Rechenfehlern insbesondere die Akten durchaus ungenügend ausgewertet waren. Es waren Renten übersehen, Einkommen von Kindern und Eltern [des Arbeitslosen] teils gar nicht, teils falsch in Anrechnung gebracht.“ Die Ermittlungen hätten ferner ergeben, „daß in einem Arbeitsamtsbezirk des Rhein-Ruhr-Gebiets landwirtschaftlicher Besitz, insbesondere auch Viehhaltung, bei der Anrechnung vielfach völlig unberücksichtigt geblieben waren, und dies selbst in Fällen, in denen z. B. der Antragsteller einen Viehbestand von drei Kühen, drei Schweinen sowie vier Morgen Acker und fünf Morgen Pachtland aufzuweisen hatte.“ Ähnliche „Feststellungen wurden in den Arbeitsamtsbezirken Darmstadt, Dresden, Gmünd, Göppingen, Hildesheim, Karlsruhe, Lübeck, Marktredwitz, Offenbach, Uelzen und Pforzheim gemacht.“ In seinen „Schlußfolgerungen“ bemerkt das Gutachten abschließend, „daß die Gemeinden vor der Erstattung ihrer Gutachten und auch während des Laufs der Unterstützung nicht auf genügende Klärung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitslosen bedacht sind und sich vielfach mit der schematischen Anwendung von Richtsatz und Anrechnungsvorschriften auf der Basis unzureichender Tatbestände zufrieden geben. Hierdurch bleiben insbesondere solche Tatumstände unberücksichtigt, die eine Senkung der Unterstützung bezw. eine Verneinung der Hilfsbedürftigkeit zur Folge haben müßten.“

Der Reichskanzler führte aus, daß diese Pressekampagne nach seiner Ansicht den Deutschen Städtetag nicht berühren könne. Er bat die Ressortminister, zu den Vorschlägen des Präsidenten Mulert Stellung zu nehmen.

Der Reichsarbeitsminister führte aus, daß die vorhandene Dreiteilung der Arbeitslosenfürsorge5 zur Zeit nicht umorganisiert werden könne. Er wies darauf hin, daß die Gemeinden eine wesentliche finanzielle Entlastung erfahren hätten; u. a. bringe auch der freiwillige Arbeitsdienst eine nicht zu unterschätzende Entlastung finanzieller Art für die Gemeinden.

5

Zum bestehenden System der Arbeitslosenversorgung (Arbeitslosenversicherung, Krisenunterstützung, Wohlfahrtserwerbslosenunterstützung) s. Anm 18 zu Dok. Nr. 9.

In den Berechnungen der Wohlfahrtsempfänger bestehe eine Differenz zwischen der Berechnung des Reichsarbeitsministeriums und der Berechnung des Städtetags. Das Reichsarbeitsministerium rechne mit durchschnittlich 2,1 Millionen Wohlfahrtsunterstützungsempfängern für den Winter, der Städtetag mit 2,6 Millionen. Er erkläre sich die Differenz so, daß der Städtetag in die[894] Zahl von 2,6 Millionen auch alte Leute einrechne, die nicht mehr arbeitsfähig und infolgedessen unterstützungsbedürftig seien.

Was das erwähnte Gutachten der Reichsanstalt anlage, so habe er den Eindruck, daß das Gutachten keine bösartigen Angriffe gegen die Gemeinden richte.

Oberbürgermeister Dr. Sahm führte aus, die Gemeinden erkennten dankbar an, daß die jetzige Reichsregierung im Gegensatz zu früheren sich auf einen grundsätzlich anderen Standpunkt in finanziellen Fragen stelle. Die gegenwärtige Reichsregierung vertrete den einzig richtigen Standpunkt, daß die Finanzen von Reich, Ländern und Gemeinden gemeinsam betrachtet werden müßten und ein Ganzes bildeten. Die letzten Maßnahmen der Reichsregierung würden es auf die Dauer vielleicht den Gemeinden ermöglichen, aus der Finanznot herauszukommen. Zur Zeit seien sie jedoch noch nicht ausreichend.

Die Hauptfrage bestehe darin, wie die Arbeitslosenfürsorge künftighin zu gestalten sei. Nach Ansicht der Gemeinden sei eine Umorganisation in der Richtung einer Zusammenfassung der Arbeitslosenhilfe bei den Gemeinden6 sofort durchzuführen. Die Grundlage für die Zusammenfassung müsse möglichst bald geschaffen werden. Die Zusammenfassung werde wesentliche Vereinfachungen und Ersparnisse zur Folge haben.

6

Vgl. die Anregungen Goerdelers in seiner Denkschrift zur Verfassungs- und Verwaltungsreform vom 8.8.32, s. dort bes. Abschnitt IV,2 (Dok. Nr. 97).

Oberbürgermeister Scharnagl wies darauf hin, daß bei einer günstigen Situation des Arbeitsmarktes noch viele ältere Menschen Arbeit finden würden. Es sei nicht anzunehmen, daß rund 500 000 Arbeitslose, welche in der verschiedenen Berechnungsweise des Reichsarbeitsministeriums und des Städtetags hervorträten (Differenz zwischen 2,1 und 2,6 Millionen), auch bei guter Situation des Arbeitsmarktes kein Unterkommen finden würden.

Das erwähnte Gutachten habe erneute scharfe Angriffe gegen die Politik der Gemeinden zur Folge. Er bitte den Reichskanzler, bei nächster Gelegenheit einige freundliche Worte über die Gemeinden zu sagen. Die Gemeinden würden das mit besonderem Dank begrüßen.

Es sei dringend erforderlich, daß der Reichsarbeitsminister von dem erwähnten Gutachten abrücke.

Der Reichskanzler erklärte sich gern bereit, bei nächster Gelegenheit einige freundliche Worte über die Arbeit der Gemeinden und Gemeindeverbände zu sagen. Vielleicht sei es auch möglich, daß der Reichsarbeitsminister sich in ähnlichem Sinne öffentlich äußere.

Oberbürgermeister Dr. Goerdeler betonte, daß eine einheitliche Organisation in der Arbeitslosenfürsorge notwendig sei. In Leipzig werde zur Zeit geprüft, ob die Krisenfürsorge von der Stadt billiger verwaltet werden könne als von der Reichsanstalt. Die erforderlichen Prüfungsarbeiten sollten bis zum 15. November beendet sein. Wahrscheinlich werde es möglich sein, die Krisenfürsorge durch die Stadt mit geringeren Unkosten zu übernehmen.

Der Reichsarbeitsminister wies darauf hin, daß nach den ihm bisher zugegangenen Berichten die Übernahme der Krisenfürsorge durch die Gemeinden größere Kosten verursachen werde.

[895] Der Reichsminister der Finanzen entwickelte die finanzielle Lage bei einer durchschnittlichen Arbeitslosenzahl im Winter von 5,5 Millionen7. Er betonte, daß auch er nicht der Überzeugung sei, daß durch die letzten Maßnahmen der Reichsregierung, insbesondere auch durch die Zäsur beim Übertritt aus der Krisenfürsorge in die Wohlfahrtsfürsorge8 alle finanziellen Schwierigkeiten der Gemeinden behoben seien. Er sei mit der Reichsregierung der Überzeugung, daß die Finanzen von Reich, Ländern und Gemeinden als Einheit betrachtet werden müßten.

7

Eingehender hierzu RArbM Schäffer in der Ministerbesprechung am 2. 11. (Dok. Nr. 187, P. 2).

8

Vgl. Anm 22 zu Dok. Nr. 187.

Präsident Dr. Mulert brachte sodann noch folgende Punkte zur Sprache:

Kommunales Arbeitsbeschaffungsprogramm.

Er führte aus, daß die Gemeinden Wert auf ein derartiges Programm legten. Sie wüßten jedoch nicht, ob das Reich die Ermöglichung eines kommunalen Arbeitsbeschaffungsprogramms beabsichtige.

Der Reichskanzler erwiderte, daß das Reich darauf entscheidenden Wert lege9.

9

Zur diesbez. Kabinettsberatung s. Dok. Nr. 187, P. 3.

Zinsfrage.

Präsident Dr. Mulert führte aus, daß weitere zwangsweise Eingriffe in den Zinsfuß nach Ansicht der Städte zu vermeiden seien, so sehr natürlich eine Herabsetzung des Zinsfußes bei Gemeindeanleihen die finanzielle Situation der Gemeinden entlasten werde.

Umschuldung.

Präsident Dr. Mulert sprach die Bitte aus, die Gemeinden bei den Umschuldungsarbeiten rechtzeitig zu beteiligen.

Der Reichsminister der Finanzen sagte das zu.

Besteuerung der gemeindlichen Betriebe.

Präsident Dr. Mulert führte aus, daß die gemeindlichen Betriebe durch Abgaben für kommunale Zwecke viel mehr belastet seien als Privatbetriebe durch Steuern des Reichs. Dieser Gesichtspunkt sei besonders zu berücksichtigen, wenn man den Wunsch äußere, die kommunalen Betriebe mit Reichssteuern zu belasten.

Der Reichskanzler bat, der Frage der Übersetzung des Verwaltungsapparates bei den Gemeindebetrieben besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Abänderung der Reichsverfassung.

Präsident Dr. Mulert äußerte die Bitte, bei einer geplanten Umgestaltung der Reichsverfassung dem Gedanken Ausdruck zu verleihen, daß die Gemeinden auch einen Unterbau des Reichs darstellten. Wenn der Reichsrat zu einer Ersten Kammer umgewandelt werden sollte, wünschten die Gemeinden auch eine Vertretung in dieser Ersten Kammer.

[896] Der Reichsminister des Innern führte aus, daß über eine eventuelle Abänderung der Reichsverfassung im Reichskabinett noch keine endgültigen Beschlüsse gefaßt worden seien. Er persönlich vertrete die Auffassung, daß die Gemeinden stärker als bisher an der Gesetzgebung beteiligt werden müßten.

Oberbürgermeister Scharnagl betonte, daß die bayerischen Gemeinden nicht den Wunsch hätten, dem Reich unmittelbar unterstellt zu werden10.

10

Diesen Standpunkt hatte der Vorsitzende des Bayerischen Städtebundes (Hipp) bereits mit Schreiben an den RK vom 7. 11. nachdrücklich vertreten: Die bayer. Städte „lehnen es entschieden ab, in anderer Form in irgendwelche staatsrechtlichen Beziehungen zum Reich gebracht zu werden als über die eigene Landesregierung“ (R 43 I /2323 , Bl. 264).

Die Sitzung wurde hierauf geschlossen.

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