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Nr. 110
Vermerk des Staatssekretärs Hamm über ein Gespräch mit Leipart. 28. März 1923
Herr Leipart, Vorsitzender des ADGB, sagte mir heute: Seit 8 Tagen drückt uns die Sorge um das Ruhrgebiet schwerer als vordem. Aufgrund täglicher Beobachtungen meinen wir, daß das Barometer nicht mehr steigt, sondern zu sinken anfängt. Wir haben den Höhepunkt erreicht, wenn nicht vielleicht schon überschritten. Wir glauben, daß der Zeitpunkt für Verhandlungen jetzt gegeben ist, da es besser ist zu verhandeln, ehe die Kraft sichtbar abnimmt, als dann, wenn die Gegner das Erlahmen schon beobachten. Unsere Freunde sagen seit 14 Tagen uns: Worauf wartet Deutschland eigentlich? Auf eine Intervention kann es nach den bestimmten Erklärungen Frankreichs nicht hoffen. Der passive Widerstand aber ist überall schon als ein Erfolg Deutschlands anerkannt. Auf ihn kann Deutschland jetzt sich berufen. Die Verhältnisse im Ruhrgebiet werden zusehends schwieriger. Die Franzosen beschlagnahmen Lohn- und Arbeitslosengelder. Erst ist das nur vereinzelt und kann durch allerhand Aushilfen unschädlich gemacht werden, wie aber, wenn es die allgemeine Regel wird? Allmählich bringen die Franzosen auch immer mehr Kohle hinaus. Es ist uns nicht gelungen, den Zuzug fremdländischer Eisenbahner fernzuhalten. Unsere belgischen Freunde sagen uns, daß keinerlei Druck ausgeübt worden[349] sei. Wir haben uns dagegen gewendet, daß ausländische Kohlenarbeiter zugezogen werden, aber es ist wohl damit zu rechnen, daß sie kommen. Darum soll Deutschland jetzt der Reparationskommission erklären, daß es nach blutigem Krieg und nach Kriegswirren den Frieden wolle und Verhandlungen anbiete usw., usw. Die belgische Regierung würde nach den uns gewordenen Mitteilungen gern zugreifen1.
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Am 19. 3. war eine Gruppe belg. Sozialisten ins Ruhrgebiet gereist, um dort mit dt. Gewerkschaftsführern über Verhandlungsmöglichkeiten zu sprechen. Die Informationen Leiparts dürften auf diese Gespräche zurückgehen.
Ich hielt Herrn Leipart die bekannten Gründe entgegen, daß Deutschland an seinem Verständigungswillen keinen Zweifel gelassen habe und in der Form des Hinweises auf die Angebote von November und Dezember2 offen genug und immer weiter erklärte, was es biete und was es nicht bieten könne. Ich sagte ihm auch, daß die gestrige Sitzung3 von keiner Seite die Anregung gebracht habe, nun alsbald Verhandlungen anzubieten. Er blieb indes bei seiner Meinung, ohne für die Nützlichkeit solcher Verhandlungsbitte etwas Sachliches vorbringen zu können. Er bat mich, seine Auffassung dem Herrn Reichskanzler mitzuteilen.
Berlin, den 29. März 1923
Herr Leipart sagte mir heute, daß seine Freunde gestern seiner Ansicht gewesen seien. Er räume aber ein, daß jetzt der Augenblick nicht gegeben sei. Nur darauf komme es an, nicht den rechten Zeitpunkt zu versäumen, in dem wir noch bei vollen Kräften und nicht schon auf der absteigenden Linie seien.