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2. Außerhalb der Tagesordnung: a) Nachricht von der Verhaftung des früheren U-Bootkommandanten Patzig.
Reichsminister Schiffer berichtete, daß nach Zeitungsmeldungen der frühere U-Bootkommandant Patzig in Dänemark verhaftet worden sei. Das Kabinett war mit ihm der Meinung, daß im Falle der Richtigkeit der Meldung alles getan werden müsse, um die Auslieferung Patzigs zu erreichen1.
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Kapitänleutnant Patzig, ehemaliger U-Bootführer des U-Bootes 86, war zusammen mit den Offizieren Dithmar und Boldt vor dem Leipziger Reichsgericht angeklagt; in seinem Falle hatte der Antrag des Staatsanwalts auf Mord gelautet. Den Leipziger Verhandlungen hatte sich Patzig jedoch durch die Flucht entzogen (siehe Vorwärts Nr. 342 vom 22.7.1921). – Bereits am 23.7.21 meldet der Vorwärts: „Patzig nicht verhaftet. Zu den Gerüchten über die Verhaftung des Kapitänleutnants a. D. Patzig in Dänemark stellen sowohl die betreffende örtliche Polizei wie die dänische Staatspolizei fest, daß die Gerüchte jeder Grundlage entbehrten.“ (Vorwärts Nr. 343). Zum Sachverhalt teilt der RJM in einem Schreiben an den RK vom 27.7.1926 folgendes mit: „Gegen den Oberleutnant z. S. a. D. Helmut Patzig […] ist durch den Untersuchungsrichter des Reichsgerichts im Februar 1921 die Voruntersuchung eröffnet und die Untersuchungshaft angeordnet worden, wegen der Beschuldigung, am 27.6.1918 als Kommandant des U-Bootes Nr. 86 durch Versenkung des englischen Lazarettschiffes „Llandovery-Castle“ sich des Verbrechens des Mordes schuldig gemacht zu haben. Dem Verfahren konnte bisher kein Fortgang gegeben werden, da der Aufenthalt Patzigs nicht bekannt ist“. (R 43 I/1242, S. 573 f.).
b) Unter Bezugnahme auf die Kundgebung des Admirals Behncke an die Chefs der Ostsee- und Nordsee-Station2 wegen der Verurteilung der Seeoffiziere Boldt und Dithmar betonte der Reichskanzler, daß die Ministerien in der Frage der Leipziger Prozesse unbedingt einheitlich handeln müßten und der[149] genannte Erlaß nicht ohne Befragen des Kabinetts hätte ergehen dürfen. Der Reichkanzler benutzte die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß in allen Angelegenheiten von politischer Bedeutung die einzelnen Ministerien3 nicht unterlassen dürften, vorher mit ihm Fühlung zu nehmen. Der Vorfall soll noch zum Gegenstand einer besonderen Aussprache gemacht werden.
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Am 18.7.21 hatte Admiral Behncke ein Fernschreiben folgenden Inhalts an den Chef der Nordseestation und den Chef der Ostseestation gesandt: „Zwei bewährte treue Kriegskameraden sind in Leipzig zu schweren Gefängnis- und Ehrenstrafen verurteilt worden. Ich werde versuchen, jede mögliche Milderung zu erzielen und gesetzliche Maßnahmen herbeizuführen, die die Verantwortung der Vorgesetzten und die Gehorsamspflicht der Untergebenen unzweideutig umgrenzen. Das Urteil und die Begründung trifft uns alle schwer. Wie tief wir dies auch empfinden, so verlange ich doch, daß ein jeder stolz, aufrecht und treu mit mir zusammen weiter seine Soldatenpflicht erfüllt für die Zukunft von Volk und Vaterland. Behncke.“ (R 43 I/341, Bl. 63).
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Einem von Vizeadmiral Löhlein als Vertreter Admiral Behnckes verfaßten Bericht zufolge, in dem detailliert die Entstehung des Fernschreibens aufgezeichnet ist, hatte der RWeM dem beabsichtigten Erlaß des Chefs der Marineleitung an die Front für zweckmäßig gehalten (Bericht Löhleins in R 43 I/341, Bl. 54-62).
c) Dem Vorschlage des Reichsministers Schiffer auf Herausgabe eines Weißbuchs mit wortgetreuer Wiedergabe der bisher ergangenen Leipziger Urteile stimmte das Kabinett zu4.
d) In der von dem Reichsminister Schiffer angeregten Frage der Aufstellung einer Gegenliste von feindlichen Kriegsverbrechern war das Kabinett einstimmig der Ansicht, daß an der Gegenliste wohl weitergearbeitet werden müsse, ihre Veröffentlichung zur Zeit jedoch – mindestens, solange die Entente keine neuen Schritte wegen der Leipziger Prozesse unternehme – unzweckmäßig sei, weil sie zu Reibungen führen würde, die im Interesse der nächsten Ziele unserer jetzigen Politik, nämlich der Aufhebung der sogenannten Sanktionen und einer günstigen Regelung der oberschlesischen Angelegenheit, möglichst zu vermeiden seien5.
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Vergleiche hierzu die Ausführungen des AA im Reichstag am 3.5.1921. Göppert führte aus, daß Material über die völkerrechtswidrigen Handlungen der Gegner während des Krieges im Pr. Kriegsministerium gesammelt und zu verschiedenen Veröffentlichungen ausgenutzt worden sei; zweifelsfrei festgestellte Fälle seien in einer Liste erfaßt worden. Es sei beabsichtigt, solche Listen den Regierungen der Mächte, denen die Schuldigen angehören, zu übergeben (RT Bd. 349, S. 3542). In der Kab.Sitzung vom 30.5.21 war man dann zu dem Ergebnis gekommen, den Zeitpunkt für die Veröffentlichung hinauszuschieben, bis die in Leipzig schwebenden Prozesse abgeschlossen und die Entscheidung über Oberschlesien gefallen sei (Dok. Nr. 18).
Der Württembergischen Regierung, die die Veröffentlichung der Gegenliste wieder angeregt hatte, will Reichsminister Schiffer z. H. des Staatspräsidenten Hieber in einem Privatbriefe die Gründe darlegen, warum das Kabinett zur Zeit von einer Veröffentlichung absieht6. In Verbindung mit dem Auswärtigen[150] Amt will auch der Reichskanzler in diesem Sinne der Württembergischen Regierung antworten.
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Der Brief Schiffers liegt abschriftlich in den Akten der Rkei: „Verehrter Freund! Die Erörterungen in Ihrem Landtage über die Gegenliste haben das Reichskabinett beschäftigt. Ich bin ersucht, kraft unserer persönlichen Beziehungen mich in diesem Privatschreiben an Sie zu wenden, um Ihnen einige Aufklärung über unsere Stellung in dieser schwierigen Frage zu geben. Die Reichsregierung teilt die Anschauungen, daß die einseitige Aburteilung deutscher Kriegsverbrecher unsittlich ist und von dem Volksempfinden mit Recht als eine brutale Vergewaltigung jedes Rechtsgefühls empfunden wird. Sie ist deshalb gewillt, sobald hierzu der geeignete Zeitpunkt sich darbietet, den Anspruch auf gleichmäßige Behandlung der fremden Kriegsverbrecher zu erheben und hierfür die Gegenliste als Grundlage zu benutzen. In diesem Augenblick aber scheint ihr dieser Zeitpunkt nicht gekommen zu sein. Die kritische Periode, in der es sich um die Entscheidung über Oberschlesien und die Sanktionen und damit über unsere Zukunft handelt, scheint ihr nicht dazu angetan zu sein, neue Erregungen der Volksleidenschaft bei der Entente hervorzurufen. Sie würde, wenn wir unseren Anspruch auf Gegenseitigkeit jetzt erheben würden, unzweifelhaft eintreten und unseren Feinden den vielen erwünschten Anlaß bieten, die Entscheidung in jenen Lebensfragen zu unsern Ungunsten zu beeinflussen. Deshalb ist Zurückhaltung jetzt noch eine schwere, aber unabweisliche Pflicht. Sie ist umsomehr geboten, als zunächst abzuwarten sein dürfte, welche Stellung die Entente als ganzes gegenüber der bisherigen Leipziger Rechtsprechung einnehmen wird. Die Gegenliste kann unter Umständen der beste Gegenstoß sein. Allzulange braucht diese Zurückhaltung voraussichtlich nicht zu dauern, denn die Entscheidungen stehen ja wohl für Anfang August bevor. Alsdann wird auch von hier aus die erforderliche Entschließung nach Maßgabe der Sachlage getroffen werden. Bei der Übereinstimmung in materieller Hinsicht glaube ich die Differenz in Beziehung auf das taktische Vorgehen zwischen uns nicht allzu hoch veranschlagen zu sollen und Sie jedenfalls bitten zu dürfen, alles zu tun, um in Ihrem Lande nicht eine zu sehr nach außen dringende Oppositionsstimmung laut werden zu lassen. Mit herzlich ergebenem Gruß Ihr“ (Durchschrift ohne Unterschrift). (R 43 I/11, Bl. 5-7).