2.130.1 (bru1p): 1. Bericht über die Genfer Verhandlungen.

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1. Bericht über die Genfer Verhandlungen.

Der Reichsminister des Auswärtigen besprach zunächst die Arbeiten des Völkerbundsrates1. Die diesjährigen Neuwahlen im Völkerbundsrat hätten zu geringfügigen Verbesserungen für Deutschland geführt. Anstelle von Kuba sei Guatemala getreten, für Finnland Norwegen, für Kanada Irland gewählt worden2. Mit allen drei neuen Vertretern seien gute Beziehungen angebahnt[490] worden. China habe – übrigens mit deutscher Unterstützung – einen Achtungserfolg errungen, indem für seine Wiederwählbarkeit 27 Stimmen abgegeben seien. Man könne daher annehmen, daß China beim nächsten Wahlgang in den Rat gewählt werden würde. Mit einem Austritt Chinas aus dem Völkerbund sei wohl nicht zu rechnen, obgleich die Nanking-Regierung verstimmt darüber sei, daß China nicht schon diesmal gewählt wurde.

1

Der RAM hatte an der 60. und 61. Tagung des VB-Rats (8.–12. 9. und 17. 9.–3.10.30) sowie an der 11. Bundesversammlung vom 10. 9.–4.10.30 teilgenommen. Zum allgemeinen Verlauf der Verhandlungen s. Schultheß 1930, S. 440–449.

2

Die Bundesversammlung hatte am 17. 9. Guatemala (43 Stimmen), Norwegen (38 Stimmen) und Irland (36 Stimmen) als neue, nichtständige Ratsmitglieder gewählt (Schultheß 1930, S. 444).

Bei den Verhandlungen über die Zurückziehung des Saarbahnschutzes3 habe Briand sich von Anfang an unzugänglich gezeigt. Offenbar habe er von Paris die Anweisung gehabt, um den Bahnschutz zu kämpfen. Nachdem die Regierungskommission des Saargebiets4 erklärt hatte, sie sei in der Lage, innerhalb von 3 Monaten Ersatz für den Bahnschutz zu schaffen, sei die Zurückziehung innerhalb dieser Frist beschlossen worden. Gegen die Auslegung des Saarstatuts durch die Regierungskommission, wonach sie das Recht habe, von außerhalb im Falle der Not Truppen zum Schutz herbeizurufen, habe Deutschland protestiert, sich aber mit dem Fortbestehen der Interpretation abfinden können, nachdem sie dahin erweitert worden sei, daß unter den „technischen oder militärischen Elementen“, die herbeigerufen werden könnten, auch deutsche Polizei und deutsche Ingenieure einbegriffen sein könnten. Die Saarparteien seien mit der Regelung hinsichtlich des Bahnschutzes einverstanden gewesen5.

3

S. Dok. Nr. 111.

4

S. Dok. Nr. 111.

5

Über den Vorschlag der Regierungskommission hatte der RAM bereits aus Genf telegraphisch berichtet. Die Regierungskommission hatte erklärt, daß sie die vorhandenen Gendarmeriekräfte für den Bahnschutz ausbilden und eventuell ergänzen könne; für äußerste Fälle halte sie sich nach der früheren Interpretation des VV, die sie selbst getroffen habe, für befugt, technische und militärische Kräfte von außerhalb heranzuziehen. Dazu hatte das dt. Mitglied der Reg.Kommission, Koßmann, erläuternd hinzugefügt, daß man gegebenenfalls auch auf dt. Schutzpolizei zurückgreifen würde (Dt. Delegation, Genf, Nr. 27 vom 10.9.30, R 43 I /251 , Bl. 26–29). Der VB-Rat hatte am 12.9.30 die Aufhebung des Saarbahnschutzes innerhalb von drei Monaten beschlossen (WTB Nr. 1835 vom 12.9.30, in R 43 I /251 , Bl. 32; Schultheß 1930, S. 441). Der Saarbahnschutz wurde am 1.12.30 aufgehoben (WTB Nr. 2479 vom 5.12.30, R 43 I /251 , Bl. 87).

Zwei Arten von Anleihen würden von den Saarparteien erstrebt. Erstens eine Anleihe der Regierungskommission, zweitens Gemeindeanleihen. Über die erstere Anleihe lasse sich jetzt eher diskutieren, nachdem die Kommission bereit sei, auch mit der Deutschen Regierung allein über sie zu verhandeln und eventuell auch gewisse Folgerungen für industrielle Aufträge zu ziehen. Bei den Gemeindeanleihen handle es sich um eine Anleihe für Saarbrücken, die schwer zu beschaffen sein werde, und eine gemeinsame Anleihe der Landgemeinden6. Hier werde die Reichsbank – gegebenenfalls mit Vermittlung der[491] Reichsregierung – vielleicht helfen können. Verhandlungen seien im Oktober in Berlin vorgesehen7.

6

Der RAM hatte in Genf eine Unterredung mit Vertretern der Saarparteien über die Anleihen gehabt. Die Anleihe der Reg.Kommission sollte in der Höhe von 40 Mio RM aufgelegt werden, die Anleihe der Stadt Saarbrücken sollte 120 Mio ffrs., die der Landgemeinden 250 Mio ffrs. betragen. Nach Meinung des RAM sollte die Anleihe der Reg.Kommission vom Reich nur unterstützt werden, wenn die Reg.Kommission sich zu einer gewissen Zusammenarbeit mit der RReg. außerhalb des VB-Rats bereit erklärte. Da die Anleihe im wesentlichen von Dtld. amortisiert werden müsse, müsse der RReg. ein Mitwirkungsrecht bei der Verwendung des Aufkommens der Anleihe eingeräumt werden. Dafür sollte die RReg. die Erklärung abgeben, daß Dtld, wenn das Saarland zurückkomme, die Zinsen und Amortisationsraten gemäß dem Anleiheplan weiterzahlen werde. Der Anleihekredit der Stadt Saarbrücken sei so groß, daß diese Anleihe ohne dt. Hilfe im Ausland plaziert werden könne. Dagegen müsse die Anleihe der Landgemeinden in Dtld plaziert werden (Dt. Delegation, Genf, Tel. Nr. 26 vom 10.9.30, R 43 I /251 , Bl. 23–25).

7

Über diese Verhandlungen ließ sich nichts in den Akten der Rkei ermitteln.

Eine Gesamtbereinigung der Saarfrage werde, wie Besprechungen mit Briand ergeben hätten, in näherer Zeit kaum erfolgen8. Die Französische Regierung sei einer alsbaldigen Rückgliederung offenbar abgeneigt. Jedenfalls werde durch diplomatische Verhandlungen geklärt werden, ob es überhaupt einen Zweck habe, daß die Delegationen wieder zusammen kämen.

8

Die dt.-frz. Verhandlungen über die Lösung der Saarfrage waren im Juli 1930 wegen unüberbrückbarer Gegensätze vertagt worden (Dok. Nr. 61, P. 2).

Die anhängigen drei oberschlesischen Minderheitsbeschwerden seien in unserem Sinne erledigt worden9. Bemerkenswert sei, daß als Ergebnis der Beschlüsse von Madrid10 in einem ungarisch-rumänischen Minderheitsfall das bisher übliche Dreierkomitee durch Zuziehung von Vertretern Deutschlands und Frankreichs, also der grundsätzlich interessierten Mächte, erweitert worden sei. Auch seien – ebenfalls in Verfolg der Madrider Beschlüsse – zum erstenmal die klagenden Minderheitsvertreter um unmittelbare Bekundung des Tatbestandes ersucht worden.

9

Diese Minderheitsbeschwerden waren auch während der Frühjahrstagung des VB behandelt worden: s. Dok. Nr. 38, P. 1.

Es handelte sich:

1.„um eine Beschwerde eines Prozeßagenten, der wegen seiner Betätigung zugunsten der Minderheit seines Amtes entsetzt worden war und nunmehr von den Polen wiedereingesetzt wurde“.

2.„um eine Reihe bei der oberschlesischen Knappschaft angestellter deutscher Ärzte, die seinerzeit auf Grund rigoroser polnischer Sprachprüfungen, die sie nicht bestanden hatten, ihrer Stellung enthoben worden waren“. Die Polen hatten sich bereit erklärt, für die Ärzte neue Prüfungen unter wesentlich erleichterten Bedingungen abzuhalten.

3.„um einen seit Jahren unerfüllten Wunsch der Minderheit auf Abänderung des bisherigen Zustands, wonach die Eltern, die ihre Kinder zur Minderheitsschule anmelden, gezwungen waren, zu diesem Zwecke persönlich vor der aus Nationalpolen bestehenden Anmeldekommission zu erscheinen, was allen Schikanen Tür und Tor öffnete. Auch hier haben die Polen nachgegeben und auf das persönliche Erscheinen der Eltern für die Zukunft verzichtet“ (Rundschreiben Weizsäckers an die dt. Missionen vom 27.10.30, betr. die 60. und 61. Sitzung des VB-Rats, R 43 I /495 , Bl. 196–206, hier Bl. 197–198).

10

Der VB-Rat hatte auf seiner 55. Tagung in Madrid im Juni 1929 prozedurale Verbesserungen bei der Behandlung von Minderheitsbeschwerden vor dem VB beschlossen: s. diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 233, Anm. 4 und Schultheß 1929, S. 532–536.

Die Beschwerde der Memelländer gegen die Litauische Regierung sei von der deutschen Regierung aufgenommen worden, nachdem von Litauen auf dem Verhandlungswege kein ausreichendes Entgegenkommen erreicht worden sei11. Der Versuch Litauens, das Verfahren durch Anwendung prozessualer Mittel zu verzögern, sei völlig fehlgeschlagen. Nach achttägigen inoffiziellen Verhandlungen sei dann endlich ein ausreichendes Entgegenkommen der Litauischen[492] Regierung erreicht worden, von dem man die Beseitigung unzulässiger Wahlbeeinflussung im Memelland und die notwendigen personellen Veränderungen erhoffen könne12. Die Besorgnis, Litauen dadurch in die Arme Polens zu treiben, habe sich bisher nicht gerechtfertigt. Es habe sich in Genf gezeigt, daß Litauen vorläufig keinen Rückhalt an Polen habe. Günstig würde es natürlich wirken, wenn man Litauen jetzt auf wirtschaftlichem Gebiet entgegenkommen könne. Der Reichsminister des Auswärtigen erbat eine Chefbesprechung mit den Reichsministern der Finanzen und für Ernährung und Landwirtschaft.

11

Die Memelländer hatten die litauische Reg. der Verletzung des Memelstatuts von 1924, das die Autonomie des Memellandes regelte (vgl. Schultheß 1924, S. 447), beschuldigt. Nach dem Rücktritt des Präs. des Memeldirektoriums hatte die litauische Reg. zwei Litauer in das dreiköpfige Direktorium berufen, wodurch der Einfluß der dt. Memelparteien ausgeschaltet worden war. Das neue Direktorium hatte am 29.8.30 nach der Annahme eines Mißtrauensantrags den Memellandtag aufgelöst (Schultheß 1930, S. 361–363).

12

Nach dem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen mit dem litauischen AM Zaunius hatte der RAM vor dem VB-Rat am 30. 9. eine Erklärung über die Einigung abgegeben: die beiden litauischen Direktoriumsmitglieder sollten durch zwei dt. ersetzt werden. Das Direktorium sollte nach der Wahl zum Memel-LT am 10.10.30 zurücktreten und durch ein Direktorium, das das Vertrauen des LT genoß, ersetzt werden. Wahlberechtigt zum LT sollten lediglich die Personen sein, die das memelländische Bürgerrecht besaßen. Außerdem waren Maßnahmen zur Sicherstellung der Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit in Aussicht genommen worden (WTB Nr. 1974 vom 30.9.30, R 43 I /382 , Bl. 281).

In der Bundesversammlung zu sprechen, sei für den Reichsminister des Auswärtigen erst nach den Reichstagswahlen zweckmäßig gewesen13. Die vorsichtig abgewogene Rede habe in Genf den gewünschten Eindruck gemacht, insbesondere sei der wirtschaftliche Teil beachtet worden.

13

Der Text der Rede des RAM vor der Bundesversammlung am 16.9.30 befindet sich in R 43 I /495 , Bl. 225–231; Auszüge in Schultheß 1930, S. 442–443.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete sodann über die Arbeiten der einzelnen Kommissionen.

Die 1. Kommission sei mit ihrer Beratung über die Angleichung der Völkerbundssatzung an den Kellogg-Pakt nicht zu neuen Ergebnissen gekommen14.

14

Vertrag über die Ächtung des Krieges (Briand-Kellogg-Pakt) vom 27.8.28: s. RGBl. 1929 II, S. 97 .

Der Ausschuß, der aufgrund eines Beschlusses der Bundesversammlung vom 24.9.29 gebildet worden war, hatte während seiner ersten Tagung vom 25. 2.–5.3.30 einige Änderungen der VB-Satzung verabschiedet, die dem VB-Rat stärkere Einwirkungsmöglichkeiten bei der Lösung von Konflikten einräumten: Bericht des Ausschusses zur Angleichung der Völkerbundssatzung an den Kellogg-Pakt vom 8.3.30 (dt. Übersetzung), R 43 I /517 , Bl. 124–143.

In der 2. Kommission sei zunächst eine ungünstige Atmosphäre gegenüber der deutschen Wirtschaftspolitik festzustellen gewesen. Eine Anzahl von Kleinstaaten, wie z. B. Holland und Dänemark, hätten sich zunächst erbittert gegen Deutschland geäußert. Durch private Verhandlungen, insbesondere mit Österreich, Ungarn, Dänemark, Rumänien und der Tschechoslowakei sei die Situation verbessert worden. Die deutsche Anregung einer deutsch-österreichisch-tschechoslowakischen Besprechung über den Austausch von Agrar- und Industrieprodukten sei von Benesch grundsätzlich akzeptiert worden. Beneschs Pläne hinsichtlich einer Wirtschaftsunion der Kleinen Entente seien offenbar wenig aussichtsreich, ebenso die Bemühungen Polens, die Hegemonie in diesem Teile Europas zu erlangen.

Als besonders wichtig bezeichnete der Reichsminister des Auswärtigen die Ausgestaltung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen, an welcher Frankreich offenbar doch noch immer großes Interesse habe15. Allerdings[493] sei durch die Reichstagswahlen die Aussicht, langfristige Kredite zu erhalten, erschwert worden.

15

Das frz. Interesse spiegelt sich in einigen Telegrammen Hoeschs wider. So hatte Briand die Vertiefung der dt.-frz. Wirtschaftsbeziehungen angeregt, Hoeschs Frage nach langfristigen frz. Krediten für Dtld jedoch ausweichend beantwortet (Tel. Nr. 794 vom 11.8.30, R 43 I /67 , Bl. 267–269). Die frz. Zurückhaltung war mit Zweifeln bezüglich der zukünftigen Einstellung der dt. Außenpolitik begründet worden (Tel. Nr. 808 vom 13.8.30 über eine Unterredung Hoeschs mit FM Reynaud, mit Sichtparaphe des RK, R 43 I /67 , Bl. 270–271). HandelsM Flandin hatte am 5. 9. gegenüber Hoesch seine Bereitschaft erklärt, mit StS Trendelenburg den Ausbau der dt.-frz. Wirtschaftsbeziehungen zu besprechen (Tel. Nr. 873 vom 5.9.30, mit Sichtparaphe des RK, R 43 I /67 , Bl. 277–280).

Die Verhandlungen der 4. Kommission über den Kriegsverhütungspakt, bei denen die Frage der Demarkationslinie wieder verhandelt worden sei, hätten nicht zu weiteren Ergebnissen geführt16.

16

S. Dok. Nr. 110, Anm. 20.

In der gleichen Kommission sei die Organisation des Sekretariats beraten worden. England und Frankreich hätten die Vermehrung der Untergeneralsekretäre um 4 neue Stellen betrieben. Demgegenüber seien Italien und Deutschland für eine Verstärkung des Einflusses der jetzt vorhandenen Untergeneralsekretäre eingetreten. Eine Entscheidung sei nicht erfolgt. Damit sei jedenfalls die Ernennung eines neuen polnischen Untergeneralsekretärs zunächst vermieden worden17.

17

Die kleinen Staaten hatten sich beschwert, daß die Spitzenpositionen des VB-Sekretariats (Generalsekretär, Secrétaire général adjoint und drei Untergeneralsekretäre) dauernd mit Vertretern der Großmächte besetzt würden. Gegenüber dem Vorschlag Englands und Frankreichs, vier neue Untergeneralsekretärstellen für die kleinen Staaten zu schaffen, „vertraten Deutschland und Italien den Standpunkt, daß eine Vermehrung der Untergeneralsekretärstellen, die naturgemäß mit einer Verminderung dieser von Deutschland, Italien und Japan besetzten Posten verbunden wäre, nicht angängig sei, daß diese Posten vielmehr gehoben und der Stellung des (französischen) Secrétaire général adjoint angeglichen werden müßten. Zu diesem Zweck wurde von uns und den Italienern angeregt, aus den Untergeneralsekretären ein Comité consultatif zur Beratung des Generalsekretärs zu bilden, ein Gedanke, der jedoch von der Mehrheit abgelehnt wurde“ (Rundschreiben Weizsäckers an die dt. Missionen vom 18.10.30, R 43 I /495 , Bl. 220–221).

In der 6. Kommission sei der deutsche Vorstoß in der Minderheitsfrage nach anfänglichen zahlreichen Sympathieerklärungen zunächst isoliert geblieben. Die Debatte habe schließlich dazu geführt, daß Briand sich veranlaßt gesehen hätte, den französischen Standpunkt in einer „reaktionären“ Rede scharf zu vertreten, was Frankreich viel Sympathie gekostet hätte. Ein wichtiger Schlußbericht des Herrn Motta18, der für den deutschen Standpunkt sehr günstige Feststellungen enthalte, sei schließlich angenommen worden, nachdem eine Entschließung nicht zustande gekommen sei19.

18

Guiseppe Motta, schweizerischer Bundesrat, Vorsteher des Politischen Departements, Vorsitzender des VB-Minderheitenausschusses.

19

Der RAM hatte in der Bundesversammlung beantragt, die Debatte über die Minderheitenfrage im VI. (Minderheiten-)Ausschuß fortzusetzen. Die dt. Vertreter hatten im Ausschuß vorgeschlagen, „daß die gegenwärtig geltenden Bestimmungen des Petitionsverfahrens von den Organen des Völkerbunds in möglichst liberaler Weise gehandhabt und daß alle durch die Bestimmungen gebotenen Möglichkeiten im Interesse des Minderheitenschutzes ausgeschöpft werden. Obwohl die von uns vorgebrachten Anregungen von einigen Staaten unterstützt wurden, zeigt der Gesamtverlauf der Debatte doch die außerordentlich starken Widerstände, die von der Mehrzahl der europäischen Staaten unter Führung Frankreichs jedem effektiveren Minderheitenschutz entgegengesetzt werden […] Hiernach mußte sich der der Bundesversammlung vorgelegte und von ihr angenommene Bericht darauf beschränken, auf die starken Divergenzen hinzuweisen, die in verschiedenen Grundfragen des praktischen Minderheitenschutzes getreten waren“ (Rundschreiben Weizsäckers vom 18.10.30 an alle Missionen, R 43 I /495 , Bl. 216–217).

[494] Das Wahlergebnis für die Haager Cour, durch das Schücking zum Mitgliede des Weltschiedshofes gewählt worden sei, bezeichnete der Reichsminister des Auswärtigen als für Deutschland besonders günstig20.

20

Prof. Walter Schücking war von der Bundesversammlung des VB mit 34 Stimmen zum Mitglied des Internationalen Gerichtshofs gewählt worden (Schultheß 1930, S. 448).

In seiner letzten Rede über die Abrüstungsfrage habe Briand auch versteckte Anspielungen auf die deutschen Wahlen gemacht, die der Reichsminister des Auswärtigen in seiner Antwort als nicht zur Sache gehörend zurückgewiesen habe. Die französische Presse habe das mit Entrüstung vermerkt.

Über das Finanzhilfsabkommen werde Ministerialdirektor Gaus nach Rückkehr besonders berichten21.

21

In der Ministerbesprechung vom 7. 10. berichtete der RAM selbst über das Finanzhilfeabkommen: s. Dok. Nr. 134.

Inoffizielle Besprechungen seien in erster Linie mit Herrn Briand geführt worden, mit dem der Reichsminister des Auswärtigen auch über den Ausgang der Wahlen gesprochen habe. Er habe dabei auf die Wirkungen des Friedensvertrages von Versailles und des Young-Plans besonders nachdrücklich hingewiesen. Es sei nicht zu verkennen, daß in den deutsch-französischen Beziehungen eine beträchtliche Spannung eingetreten sei, deren Milderung man vielleicht durch wirtschaftliche Verhandlungen anstreben könne22.

22

Vgl. dazu Curtius, Sechs Jahre Minister der deutschen Republik, S. 170–171.

Mit dem ungarischen Vertreter, Graf Bethlen, sei der Gedanke von Wirtschaftsverhandlungen erörtert und ihm eine Einladung zum Besuche in Berlin übermittelt worden.

In den Besprechungen mit dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Schober sei von einem bevorstehenden Regierungswechsel keineswegs die Rede gewesen. Offenbar sei Herr Schober von den Ereignissen in Wien überrascht worden23.

23

Das Kabinett Schober hatte am 27.9.30 seine Demission eingereicht; an seine Stelle war am 30. 9. das Kabinett Vaugoin getreten, das allerdings nur bis zum 29.11.30 amtierte (Schultheß 1930, S. 255).

Bei Herrn Benesch seien ernstliche Vorstellungen wegen der Vorfälle in Prag erhoben worden. Herr Benesch habe die Agitation gegen deutsche Filme und das Deutschtum überhaupt als gleichzeitig gegen seine eigene Politik gerichtet bezeichnet. Gewisse Anzeichen sprächen zur Zeit dafür, daß die Boykottierung deutscher Filme bald ihr Ende finden werde24.

24

Am 23.9.30 hatten „tschechische Nationalisten“ versucht, die Vorführung eines dt. Tonfilms zu stören, woran sie von der Polizei gehindert worden waren. Anschließend war es zu Straßendemonstrationen gekommen. „Kleinerer Demonstrantentrupp wollte anscheinend vor Gesandtschaft Kundgebung veranstalten, irrte sich aber in Hausnummer und brach vor abseits gelegenem Privatgebäude in Schmährufe aus“. Diese Bewegung sei ein Ergebnis der Unzufriedenheit über den bisherigen Erfolg des dt. Films und der an sich „in chauvinistischen Kreisen gereizten Stimmung gegen Deutschland“ (Gesandter Koch, Prag, Tel. Nr. 17 vom 24.9.30, R 43 I /151 , Bl. 371).

Über das außenpolitische Gesamtbild äußerte der Reichsminister des Auswärtigen folgendes:

Die Revision des Young-Planes reife schneller, als man hätte erwarten können. Die Weltwirtschaftskrise habe diese Entwicklung beschleunigt. Deutschland könne jetzt aber weder eine aktive Revisionspolitik gegenüber[495] dem Young-Plan betreiben noch von sich aus das Moratorium fordern. Weder Amerikaner noch Franzosen seien zur Zeit in der Lage, auf diesem Gebiet nachzugeben. Deutschland müsse sich, wie vor dem Dawes-Abkommen, zunächst selber helfen, das heißt – kraß gesagt – Erfüllungspolitik treiben und währenddessen die Revision vorbereiten. Der Ausgang der Reichstagswahlen sei für die Auflockerung der Front unserer Gläubiger nicht ungünstig.

Zur Ostpolitik bemerkte der Reichsminister des Auswärtigen, daß der Weg zu Polen sicherlich über Paris führe, wodurch man wiederum auf die Wichtigkeit der deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen hingewiesen werde. Andererseits sei die Frage der Beziehungen zu Österreich, Litauen, Finnland und der Tschechoslowakei auch hinsichtlich unseres Verhältnisses zu Polen wichtig. Es verstehe sich von selbst, daß Deutschland auch in seiner Russenpolitik sorgfältig darauf achten müsse, das russische Aktivum nicht leichtfertig aus der Hand zu geben.

Deutschland müsse jetzt der ganzen Welt klarmachen, wie notwendig es sei, die internationale Politik, die bisher Deutschland gegenüber getrieben worden sei, abzuändern. In dieser Richtung sei bei den Genfer Verhandlungen kein Terrain verlorengegangen25.

25

Zur Gesamtbeurteilung der Genfer Herbsttagung s. auch Curtius, Sechs Jahre Minister der deutschen Republik, S. 167–175.

Der Reichskanzler sprach dem Reichsminister des Auswärtigen und seinen Mitarbeitern den Dank des Reichskabinetts für die, diesmal unter so besonders schwierigen Verhältnissen geleistete Arbeit aus. Eine Aussprache über das Referat des Reichsministers des Auswärtigen soll im Laufe der nächsten Woche stattfinden26.

26

S. Dok. Nr. 134.

Im Anschluß hieran übermittelte der Reichskanzler allen Mitgliedern des Reichskabinetts und ihren Mitarbeitern den Dank des Herrn Reichspräsidenten für die in den letzten Wochen geleistete Arbeit bei der Fertigstellung des Wirtschafts- und Finanzplans der Reichsregierung. Die schnelle Fertigstellung dieses Reformwerkes habe ein ganz besonderes Maß von Hingabe und Opferwilligkeit aller Beteiligten erfordert.

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