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Nr. 192
Empfang von Vertretern des Reichslandbundes beim Reichspräsidenten. 9. Dezember 1930
R 43 I/2545, Bl. 140–145 Durchschrift1
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StS Meissner übersandte am 9.12.30 der Rkei die Durchschrift dieser Niederschrift.
Anwesend: v. Hindenburg; Schiele; Präsidenten des RLB Graf Kalckreuth, Lind, Bethge; Direktoren im RLB v. Sybel, Kriegsheim; Protokoll: StS Meissner.
Graf Kalckreuth legte dar: Die Lage der Landwirtschaft habe sich seit 1929 weiter verschlechtert, trotz der mit der Osterbotschaft des Herrn Reichspräsidenten eingeleiteten erheblichen Versuche, die Lage zu bessern. Unter dem Druck der Weltagrarkrisis, zum Teil auch aus Gründen innerer Politik, seien die getroffenen Maßnahmen nicht zur vollen Auswirkung gelangt. Die Preise seien weiter gefallen und – falls sie sich nicht bald wesentlich ändern – wird das Jahr 1930 mit 3 Milliarden Verlust für die Landwirtschaft abschließen.
Die Notverordnung vom 1. Dezember verspricht in einigen Gebieten eine Besserung der Lage der Landwirtschaft, aber nicht in allen, weil nicht alle Mittel erschöpft sind2. Insbesondere auf dem Gebiete der Veredelungswirtschaft müsse noch mehr geschehen. Die deutsche Veredelungswirtschaft leidet insbesondere unter dem Drucke Dänemarks, das den englischen Markt zum Teil verloren hat3. Wir müssen daher unsere Milchprodukte im Zoll höher[705] stellen, ebenso auch Fleisch, Speck und Schmalz. – Auf dem Gebiete der Kartoffelverwendung muß Weiteres geschehen durch Erhöhung des Beimischungszwangs von Spiritus zu Treibstoffen, wodurch die landwirtschaftlichen Brennrechte erhöht werden können4. – Das deutsche Obst muß durch ein Südfruchtmonopol geschützt werden5. Der in der Notverordnung vom 1. Dezember vorgesehene Beimischungszwang von Roggenmehl6 reicht nicht aus und muß auf generell 25% Roggenmehl heraufgesetzt werden. – Im Interesse der deutschen Holzverwertung sind Schutzmaßnahmen gegen die Dumping-Einfuhr von russischem und polnischem Holz erforderlich.
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S. den 8. Teil der NotVO: Maßnahmen zum Schutze der Landwirtschaft, RGBl. 1930 I, S. 600–603.
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Vgl. auch Dok. Nr. 190, P. 2.
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Der Dt. Landwirtschaftsrat hatte am 28.11.30 in Schreiben an den REM und den RFM eine Erhöhung des Beimischungszwangs von Spiritus zum Treibstoff von 5% auf 20% gefordert. Es sei für 1930 mit einer Kartoffelrekordernte von 45–46 Mio t zu rechnen. Da der dt. Speisekartoffelverbrauch nur 10–12 Mio t jährlich betrage, könnten durch die 20%ige Beimischungsquote weitere 4–5 Mio t verwertet werden. Einer stärkeren Verwendung von Spiritus zu Treibstoffzwecken stünden technisch keine Bedenken entgegen; in Schweden habe sich ein Beimischungszwang von 25% besonders bewährt, und in Frankreich seien sogar 50% Beimischung vorgeschrieben (Abschrift mit Begleitbrief von Brandes vom 29. 11. an den RK in R 43 I/2545, Bl. 100–107). Der RFM lehnte am 10.12.30 den Vorschlag mit der Begründung ab, daß die Motoren für 20% Spiritus Beimischung nicht eingerichtet seien, und daß die vorgeschlagene Beimischung die Benzinpreise um 30% verteuern würden (Abschrift in R 43 I/2545, Bl. 186–190).
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Der Pächterbund Dt. Obstzüchter forderte am 29.12.30 die Einführung beweglicher Zölle für Obst; außerdem sollte die RReg. bei neuen Handelsvertragsverhandlungen keine Meistbegünstigungen mehr gewähren und sich die Möglichkeit von Einfuhrverboten von Obst vorbehalten (R 43 I/2426, Bl. 144–147).
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Auf dem Gebiete der Steuerpolitik ist Freistellung der Landwirtschaft von den drückenden Barlasten notwendig. Reich, Länder und Kommunen müssen hier von der Landwirtschaft statt des baren Geldes Roggen nehmen zum Richtpreise des Reichs, das heißt 230 RM. – pro Tonne. Daneben müssen die laufenden Steuern des Reichs und der Länder für dieses Notjahr völlig niedergeschlagen werden. Die hierdurch entstehenden Steuerausfälle würden durch Einnahmen des vorerwähnten Südfruchtmonopols (100–150 Millionen Mark) gedeckt werden. Daneben ist erforderlich, daß den Landgemeinden die hohen Lasten für Schulen, Wege und soziale Fürsorge abgenommen werden7.
Wenn all diese Maßnahmen durchgeführt werden, können wir hoffen, die Landwirtschaft im Osten zu retten und neu aufzubauen.
Reichsminister Dr. Schiele: Ich sehe den Ernst der Lage genau so an wie Graf Kalckreuth. Die Frage ist nur, was geschehen kann und was zweckmäßig geschieht. Im Vordergrund steht eine bessere Fürsorge für die Veredelungsprodukte: Fleisch, Milchprodukte, Obst Gemüse. Das Kabinett hat sich bereits grundsätzlich für die Aufhebung der Zwischenzölle für Speck, Fleisch und Schmalz ausgesprochen8; die Durchführung wird in den nächsten Tagen erfolgen; die Reichsregierung bedarf hierfür nur der Zustimmung des Reichsrats und eines Reichstagsausschusses9. – Für die Molkereiprodukte besteht die[706] Möglichkeit, die Zölle für Butter, Quark und Kasein zu erhöhen10; bezüglich anderer Produkte sind wir durch Handelsverträge gebunden, die erst gekündigt werden müssen, bis wir die Zölle erhöhen können. – Die Frage, im Interesse der Kartoffelverwendung den Beimischungszwang auf 5% zu erhöhen, unterliegt gegenwärtig der Beratung der Reichsregierung. Ob es technisch möglich ist, darüber hinauszugehen, erscheint mir fraglich; aber auch schon ein Beimischungszwang von 5% Spiritus würde eine Erhöhung des Brennkontingents auf 90% bedeuten. Ich werde dem Kabinett an Hand des Ziffernmaterials Vorschläge unterbreiten, um für die Produkte der bäuerlichen Veredelungswirtschaft einen besseren Schutz zu erreichen, und bitte den Herrn Reichspräsidenten, mich nach Möglichkeit hierbei zu unterstützen.
Auf die Steuerfrage kann ich nicht eingehen, da dies das Ressort des Reichsfinanzministers ist. Ich halte aber die in dieser Richtung gemachten Vorschläge des Reichs-Landbundes für durchaus diskutabel.
Präsident Lind weist aus seiner Erfahrung als Bürgermeister einer Landgemeinde darauf hin, wie hoch die Belastung der Landgemeinden ist durch die großen Zoll-Lasten, die hohen Wegebaukosten und die Wohlfahrtsfürsorge. Die zu ihrer Deckung erforderlichen Gemeindesteuern bilden eine schwere Last für die Landwirte. Deshalb sei notwendig, die Übernahme der Schullasten auf Reich und Staat; dasselbe gilt auch für die Wegelasten, wenn man nicht zu einer Erhöhung der Kraftfahrzeugsteuer greifen wolle. Auch die Wohlfahrtslasten, die durch die Überweisung der ausgesteuerten Arbeitslosen an die Gemeindefürsorge immer noch stark steigen, müssen von den Gemeinden auf das Reich übernommen werden. – Der Herr Reichskanzler und der Herr Reichsfinanzminister haben zugesagt, die Frage der Natural-Steuerzahlung wohlwollend zu prüfen11; der Herr Reichspräsident wolle diesen Gedanken auch seinerseits fördern.
Präsident Bethge betont, daß die deutsche Milch- und Molkereiwirtschaft den Wert von 4½ Milliarden repräsentiere, und daß es gerade für die bäuerlichen Besitzer von großem Wert sei, daß die in diesem Wirtschaftszweig bisher entstandenen Verluste durch Erhöhung der Zölle und höhere Preise wieder gedeckt werden.
Graf Kalckreuth weist darauf hin, daß die Osthilfe, die inzwischen ihre Organisation aufgebaut habe, nun auch bald zu einer praktischen Hilfe schreite; die Hauptaufgabe der Osthilfe sei eine generelle Zins-, Steuer- und Lasten-Senkung.
Direktor Kriegsheim macht auf die zum Teil verbitterte Stimmung in der landwirtschaftlichen Bevölkerung aufmerksam, die die Sorge vor gewaltsamen Ausbrüchen nahelege. Wenn hier nichts Durchgreifendes geschehe, so sei zu befürchten, daß es zu Unruhen käme12. Der Reichs-Landbund wirke beruhigend, um die Landwirtschaft vor Handlungen zu bewahren, die einer Selbstzerstörung[707] gleichkämen. Die Reichsregierung möge hier auch Maßnahmen treffen, die zur Beruhigung dienen.
Der Herr Reichspräsident dankt den Herren für ihre Darlegungen und erklärt, daß er sich nach Möglichkeit für die hier gemachten Vorschläge einsetzen werde. Er müsse aber auch die Gelegenheit benutzen zu betonen, daß der Reichskanzler und die Reichsregierung in der aufopferndsten Weise für die Sanierung der deutschen Wirtschaft arbeiten und im Zusammenhang mit dem Sanierungsprogramm auch für die Landwirtschaft wertvolle Verbesserungen gebracht haben; er ist überzeugt, daß die Reichsregierung diese Arbeit fortsetzen und alles in ihren Kräften Stehende tun werde, um die immer noch drückende Lage der Landwirtschaft zu bessern.