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1. Frage einer Amnestie.
Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung.
Der Reichsminister der Justiz wies auf die schweren Bedenken hin, die grundsätzlich gegen eine Amnestie sprächen1.
Staatassekretär Dr. Joel erläuterte sodann den anliegenden Referentenentwurf2. Er führte aus, daß es unzweckmäßig sei, die Delikte des § 92 Nr. 1 des Reichsstrafgesetzbuchs in den Regierungsentwurf aufzunehmen3. Preußen sei allerdings sehr dafür, Bayern und Mecklenburg-Schwerin hätten sich jedoch dagegen ausgesprochen4. Wenn später von preußischer Seite bei der[316] Beratung des Gesetzentwurfs der Antrag gestellt werde, die Delikte des § 92 Ziffer 1 des Strafgesetzbuchs in den Entwurf aufzunehmen, dann könne die Reichsregierung vielleicht diesem Wunsche entsprechen5. Dem Oberreichsanwalt werde es nicht unangenehm sein, wenn durch Einbeziehung des § 92 Nr. 1 in den Amnestiegesetzentwurf unter anderem die Verfahren gegen Zeigner6 und Quidde7 ihre Erledigung finden würden.
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Der beiliegende Referentenentwurf eines Gesetzes über Straffreiheit für politische Straftaten sieht in § 1 Straferlaß für noch nicht verbüßte Strafen wegen Zuwiderhandlung gegen die §§ 81–86, 128, 129 StGB, §§ 7, 8 des Gesetzes zum Schutze der Republik vom 21.7.22 (RGBl. I, S. 585), § 5 der VO vom 29.6.22 (RGBl. I, S. 532) vor, soweit der noch nicht verbüßte Strafrest höchstens Geldstrafe, einjährige Festungshaft oder einjähriges Gefängnis beträgt. Nach § 3 sollen bei den Gerichten des Reichs noch anhängige Verfahren wegen Zuwiderhandlung gegen §§ 81–86, 128, 129 StGB und § 7 des Gesetzes zum Schutze der Republik eingestellt werden, wenn die Tat vor dem 1.10.23 begangen wurde. Auszunehmen von der Straffreiheit sind nach § 4 des Entwurfs u. a. Personen, die Verbrechen gegen das Leben, Verbrechen der schweren Körperverletzung, des schweren Raubes und der Brandstiftung begangen haben (R 43 I/1403, Bl. 71-74).
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§ 92 Nr. 1 StGB lautet: „Wer vorsätzlich (1.) Staatsgeheimnisse oder Festungspläne, oder solche Urkunden, Aktenstücke oder Nachrichten, von denen er weiß, daß ihre Geheimhaltung einer anderen Regierung gegenüber für das Wohl des Deutschen Reichs oder eines Bundesstaats erforderlich ist, dieser Regierung mitteilt oder öffentlich bekannt macht; […] wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft.“ (Kohlrausch, StGB für das Deutsche Reich mit Nebengesetzen, S. 110).
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Hierbei handelt es sich wohl um das Ergebnis einer Besprechung mit Ländervertretern im RJMin. vom 25. 5. S. dazu den mit den Angaben Joels übereinstimmenden Vermerk Wiensteins vom 29. 5. in R 43 I/1242, S. 249 f..
Nach einer undatierten Zusammenstellung des RJMin., die am 4. 6. in der Rkei eingegangen war, hatten die Länder – ob gleichfalls während der Besprechung im RJMin. am 25. 5., ist hier nicht ersichtlich – ferner folgende Abänderungen angeregt: 1) Bayern und Hamburg: Abstellung des § 1 (s. Anm. 2) auf die Höhe der erkannten Strafen und nicht allein auf die des Strafrestes. Dem wird in der Endfassung des „Gesetzes über Straffreiheit“ vom 18.8.25 weitgehend entsprochen (RGBl. I, S. 313). 2) Preußen: Abänderung des in § 3 vorgesehenen Stichtages der Amnestie (1.10.23) auf den 1.7.23. Dieser Antrag findet in der endgültigen Gesetzesfassung keine Berücksichtigung. 3) Preußen und Baden: Änderung des § 3 wie folgt: „Niederschlagung auch nach dem Stichtag begangener Zuwiderhandlungen, sofern die Strafe in den Grenzen des § 1 bleibt.“ Die Endfassung des Gesetzes ist demgemäß ergänzt. 4) Preußen wünscht und erreicht die Einbeziehung der Verbrechen gegen § 7 des Sprengstoffgesetzes vom 9.6.1884 (RGBl., S. 61) in den § 4 der Endfassung des Gesetzes (R 43 I/1242, S. 389-395).
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S. dazu Dok. Nr. 103, P. 1.
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Dr. Erich Zeigner, 1923 MinPräs. von Sachsen, wurde im März 1924 wegen Vernichtung amtlicher Akten und Amtsbestechlichkeit zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.
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Prof. Dr. Ludwig Quidde, Vorsitzender des Deutschen Friedenskartells, wurde im März 1924 unter der Beschuldigung des Landesverrats in München verhaftet. Das Reichsgericht stellte das Verfahren am 28.3.25 ein.
Der Reichskanzler stellte die Zustimmung des Kabinetts zu folgenden Punkten fest:
a) Das Kabinett bittet den Reichsminister der Justiz, seine Bedenken gegen eine Amnestie zurückzustellen.
b) Der Antrag des Auswärtigen Amts, als Stichtag für die Amnestie den 1. März 1925 zu nehmen8, wird als unannehmbar bezeichnet. Als Stichtag soll vielmehr der 1. Oktober 1923 (vgl. § 3 des Entwurfs) genommen werden.
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Zur Begründung dieses Antrags hatte Stresemann mit Schreiben an das RJMin. vom 30. 5. u. a. ausgeführt: „Ich möchte […] bitten, […] den 1. März d. J. oder jedenfalls ein solches Datum zu wählen, das möglichst alle gegen Angehörige des Verbandes der schlesischen Aufständischen schwebenden Voruntersuchungen wegen politischer Straftaten der Amnestierung zuführt. Unter […] Betonung des starken außenpolitischen Interesses, das ich an der Beseitigung dieses die deutsch-polnischen Beziehungen in Oberschlesien und unser Verhältnis zum Präsidenten Calonder so stark vergiftenden Konfliktstoffes habe, scheint mir die Gelegenheit in der Tat sehr günstig, die gegen jene Insurgenten schwebenden Verfahren im Wege der Gesetzgebung niederzuschlagen.“ (R 43 I/1242, S. 363 f.).
c) Der von Staatssekretär Joel vorgetragene Standpunkt hinsichtlich der Einbeziehung des § 92 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs in den Regierungsentwurf wird vom Kabinett gebilligt.
d) Grundsätzlich erklärt sich das Reichskabinett mit der Aufstellung eines Amnestiegesetzentwurfs einverstanden, dessen Gestaltung im einzelnen dem Reichsjustizministerium überlassen bleiben soll, das zunächst abschließend mit den Ländern verhandeln9 und sodann mit den Parteien Fühlung10 nehmen soll.
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Aufzeichnungen hierzu in den Akten nicht ermittelt. Wienstein vermerkt am 9. 7. über Mitteilungen Werners, das RJMin. wolle nunmehr den Referentenentwurf unverzüglich dem RR und den Länderregierungen zuleiten (R 43 I/1242, S. 445 f.).
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S. dazu die Mitteilungen des RJM in der Kabinettssitzung am 13. 6. (Dok. Nr. 103, P. 1).
Zum Schluß bat der Reichskanzler den Reichsminister der Justiz, die Vorlage möglichst zu beschleunigen, da sonst der innere Zusammenhang mit dem Amtsantritt des Reichspräsidenten nicht mehr hinreichend erkennbar sei.
Der Reichsminister der Justiz erklärte, daß dieser Gedanke die einmütige Ablehnung aller Länder gefunden habe11.
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Ablehnende Stellungnahmen der Länder speziell zum Gedanken des „inneren Zusammenhanges mit dem Amtsantritt des Reichspräsidenten“ nicht bei den Akten. Grundsätzlich zustimmende Äußerungen s. in Anm. 5 zu Dok. Nr. 84. Nach einem Vermerk Wiensteins vom 11. 6. sind lediglich Sachsen, Mecklenburg-Schwerin und Oldenburg „immer noch grundsätzlich gegen jede Amnestie“ (R 43 I/1242, S. 401 f.).