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[Bericht Stresemanns und Luthers über Locarno]
Der Herr Reichspräsident eröffnet die Sitzung und fordert die deutschen Delegierten der Konferenz von Locarno zum Bericht über Gang und Ergebnis der Konferenz auf.
[781] Reichsminister Dr. Stresemann geht in der Berichterstattung von der deutschen Note vom 20. Juli d. J.1a aus und legt dar, daß der hier festgelegte deutsche Standpunkt in den Abmachungen von Locarno voll durchgesetzt worden ist. Im einzelnen betont er, daß im Text des Sicherheitspaktes selbst der deutsche Standpunkt <in den Abmachungen von Locarno voll durchgesetzt wor->2a Vertrages ist eine Fassung dahin durchgesetzt worden, daß die Worte „pour stabiliser le status quo“ ersetzt worden sind durch die Worte „pour assurer la paix“; allerdings wird im Artikel 1 noch einmal von der Wahrung des Status quo gesprochen, aber nur im Sinne der folgenden Paragraphen, d. h. daß der Status quo nur garantiert werden soll durch Verzicht auf einen Angriff, so daß also in keiner Weise ein Verzicht auf früheres deutsches Gebiet hieraus entnommen werden kann. Neben dem Sicherheitspakt sind Schiedsverträge abgeschlossen worden, aber nur Schiedsverträge nach unserem System, d. h. wir unterwerfen uns in allen Rechtsfragen Schiedssprüchen, nicht aber in politischen Fragen. – Der Hauptkampf ist um die zwei großen Fragen entbrannt: Französische Garantie für den Osten und Stellung Deutschlands zum Völkerbund. Dem Gedanken der Garantie Frankreichs für den Osten lag die Idee zu Grunde, das französische Bündnis mit Polen und Tschechen2 hineinzuarbeiten in den Westpakt und die Schiedsgerichtsverträge, und zwar so, daß Frankreich selbst sich das Recht der Entscheidung sicherte, wer Angreifer wäre3. Der Gedanke eines „non aggression-Pakts“ im Osten4 ist vollständig fallengelassen worden, und es sind mit dem Osten nur Schiedsverträge nach unserem System abgeschlossen worden, und zwar in einer Formulierung, die eine Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen nicht in sich schließt. Die Garantie Frankreichs ist in vollem Umfange ausgeschieden worden, und das Verhältnis ist jetzt so, daß Frankreich nicht mehr Rechte und Pflichten hat gegenüber diesen beiden Staaten, als es nach den Völkerbundssatzungen haben würde; nur dann, wenn der Völkerbund einstimmig uns als Angreifer bezeichnen würde, hätte Frankreich das Recht, dem Angegriffenen zu Hilfe zu kommen. Die jetzt von Frankreich mit Polen und Tschechen abgeschlossenen Verträge5 haben nur den Inhalt, daß Frankreich den Polen bei Konflikten zu Hilfe kommen würde, soweit es die Satzung des Völkerbunds erlaubt. Damit ist das bisherige französisch-polnische Bündnis hinfällig, es ist jetzt hineingearbeitet worden in die Satzung des Völkerbunds und enthält über diese Satzung hinaus keine Verpflichtung. Dazu kommt noch, daß die englische Garantie, die an sich sich nur auf den Westpakt bezieht, jetzt auch in gewissem Zusammenhang mit dem Osten besteht; falls Frankreich im Falle eines deutsch-polnischen Krieges Polen zu Hilfe kommen sollte, ohne daß Deutschland nach Völkerbundssatzung als Angreifer erklärt wird, so ist England verpflichtet, uns zu Hilfe zu kommen. Daß Polen diese Lösung[782] als vollkommene Niederlage ansieht, zeigt das persönliche Verhalten des polnischen Außenministers6 ebenso wie die Stimmung der polnischen Presse7.
- 1a
S. Dok. Nr. 123, dort bes. Anm. 1.
- 2a
<...> zu ersetzen durch: völlig zum Siege gekommen ist: In der Präambel dieses [Korr. durch die Onlinefassung]
- 2
S. Anm. 7 zu Dok. Nr. 173.
- 3
Der Gedanke einer frz. Garantie für die Schiedsverträge Dtlds. mit Polen und der Tschechoslowakei war erstmals in der frz. Sicherheitsnote vom 16.6.25 präzisiert worden. S. Dok. Nr. 110, dort bes. Anm. 3 und 10.
- 4
S. Anm. 5 zu Dok. Nr. 190.
- 5
S. Anm. 4 zu Dok. Nr. 190.
- 6
Hierzu Stresemann in einer Rede vor der Arbeitsgemeinschaft dt. Landsmannschaften am 14.12.25 in Berlin: „Herr Skrzynski konnte seine Erregung nicht verbergen. Wenn Sie gelesen haben, daß der polnische Außenminister den Saal nach der Paraphierung zuerst verlassen hat, so wünschte ich, daß Sie die Art dieses Verlassens miterlebt hätten, um sich zu fragen, ob Polen Locarno als einen Erfolg ansieht.“ (Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 234).
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Der dt. Gesandte in Warschau, Rauscher, hatte am 13. 10. telegrafisch nach Berlin berichtet: Die sich anbahnende Kompromißbereitschaft der Alliierten in der Frage der frz. Garantie für die Ostschiedsverträge werde von der poln. Presse als „Schmälerung polnischer Rechte und Vernichtung französisch-polnischen Bündnisses“ bezeichnet (R 43 I/426, Bl. 53).
Der zweite schwierige Fall war die Frage unseres Eintritts in den Völkerbund. Ich legte hier der anfangs starren gegnerischen Haltung gegenüber dar, daß der Zustand unserer Entwaffnung gegenüber voller Rüstung anderer Völker nicht von uns, sondern von unseren Gegnern gewollt wäre, und daß daher unsere Gegner jetzt auch nicht von uns ein militärisches Auftreten verlangen könnten in Fällen, wo ihnen ein solches erwünscht wäre. Ich habe ferner dargelegt, daß wir die „unmoralische Hintertür“ des Artikel 16, d. h. Vereitelung eines einstimmigen Beschlusses des Völkerbundsrats, nicht benutzen wollten, sondern ehrlich verlangten, daß man den tatsächlichen Entwaffnungsverhältnissen Rechnung trüge. In diesem Zusammenhang habe ich auch die Kriegsschuldfrage erneut erwähnt; ich habe hierbei das Memorandum der Regierung Marx vom September vorigen Jahres8 mit allen Bedingungen vorgetragen und betont, daß das jetzige Kabinett erneut diese Gesichtspunkte aufrechterhalte und bestätige. Ich habe mich auch überzeugt, daß im französischen Protokoll über diese Sitzung steht, daß der deutsche Außenminister die Bedingungen des Memorandums vom September 1924 über den Eintritt in den Völkerbund wiederholt hat. Es wurde schließlich vereinbart, daß die Gegner in der Form der Kollektivnote uns eine Erklärung über Artikel 16 abgeben, der unserem Standpunkt inhaltlich voll gerecht wird. Nach dieser Kollektivnote ist die Entscheidung, ob wir auf Grund Artikel 16 uns an einer Aktion gegen einen anderen Staat wirtschaftlich oder militärisch beteiligen wollen, vollständig in unsere Hand gelegt. Nach unserer Auffassung ist damit erreicht, was wir erreichen wollten. Ich habe dieser Erklärung gegenüber noch ausdrücklich betont, daß auch wirtschaftliche Maßnahmen von der militärischen Situation abhängen und auch wegen solcher wir die Freiheit unserer Entschließungen behielten. Die Gegenseite hat dies durch Chamberlain ausdrücklich bestätigt.
Im Laufe der Debatten erklärten Briand und Chamberlain, daß es nach Abschluß dieses Vertrages keine Alliierten mehr gäbe.
Auch die Frage der Abrüstung wurde in diesem Zusammenhang behandelt; wir verlangten, daß hier etwas geschieht, und daß die militärischen Kräfte auf ein Minimum, und zwar im Prinzip gleichmäßig für alle Mächte, herabgesetzt werden müßten. Die Gegner gaben hierzu allgemein entgegenkommende Erklärungen ab, und im Schlußprotokoll sind auch solche Erklärungen enthalten.[783] Chamberlain hat allerdings bemerkt, daß Frankreich und England nicht so weit abrüsten könnten wie wir.
Die wichtige Frage der Rückwirkung des Vertragswerks auf die besetzten Gebiete haben wir naturgemäß erst gegen Ende vorbringen können, nachdem wir den Entwurf des Paktes auf eine annehmbare Form gebracht hatten. Als ich zum ersten Male die ganze Liste unserer Wünsche vortrug, erwiderte Briand stark betroffen, diese Darlegungen seien sehr mutig, ja waghalsig, und man brauche, um diese lange Reihe der Wünsche zu behandeln, eine große besondere Konferenz; schließlich erklärte er aber hier wie bei späteren Gelegenheiten, daß die Franzosen prinzipiell sich damit einverstanden erklärten, Erleichterungen der Besatzungen usw. herbeizuführen; Briand erklärte hierbei, daß er persönlich ein Gegner jeder Okkupation wäre. Am weitesten Entgegenkommen zeigten Frankreich und Belgien in bezug auf die Kontumazial-Urteile. Solche Verfahren würden künftig nicht mehr eingeleitet werden9. Wir versuchten, auch die noch ausstehenden Fragen der Entwaffnung zu regeln: Chamberlain war bereit, in der Polizeifrage uns entgegenzukommen, während er in den militärischen Fragen (Chef der Heeresleitung, Ausbildung und Ausrüstung) zögernder war; schließlich einigten wir uns auf folgender Grundlage:
- 9
Urteile dieser Art waren, wie Köpke am 16. 10. nach Locarno telegrafierte, noch während der Konferenz von einem Kriegsgericht in Lüttich gegen drei dt. Generale (zweimal Todesstrafe, einmal 20 Jahre Zuchthaus) ausgesprochen worden. Köpke weiter: „Besonderes Aufsehen in der Öffentlichkeit wird voraussichtlich aber das nach heutigem ‚Nation belge‘ vom Kriegsgericht in Antwerpen ausgesprochene Urteil gegen General[oberst v.] Beseler erregen, der in Abwesenheit (ohne Rücksicht darauf, daß der General bereits gestorben ist) wegen der angeblichen Inbrandsteckung eines Ortes zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist.“ (R 43 I/426, Bl. 125 f.).
Deutschland richtet eine Note über den gegenwärtigen Stand der Entwaffnungsfrage an Frankreich10; Frankreich wird dann antworten, daß mit Rücksicht auf die geringen Reste der Entwaffnungsfrage die Räumung der ersten Zone nicht mehr länger verschoben wird und zu einem bestimmten Datum erfolge, wobei es allerdings die Erwartung ausspricht, daß auch die letzten Punkte[784] bald erledigt würden11. Briand erklärte wiederholt, es sei eine Selbstverständlichkeit, daß die Abmachungen von Locarno weitgehende Rückwirkungen für das Rheinlandregime und Besatzung hätten; er müßte aber erst sein Kabinett fragen; solche Rückwirkungen für das Rheinland dürften auch nicht Handelsobjekte für diese Verhandlungen sein; Frankreich werde sie freiwillig eintreten lassen. Der Reichskanzler wie ich sind überzeugt, daß Briand diese Versprechen hält. Schon heute beginnen in Paris, wie wir wissen, Besprechungen über die Räumung und andere Maßnahmen.
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Diese Note wird von Botschafter Hoesch am 23. 10. an den Präs. der all. Botschafterkonferenz (Briand) in Paris übergeben. Beigefügt sind vier listenmäßige Zusammenstellungen über den Stand der Durchführung der all. Kollektivnote vom 4.6.25 (s. Dok. Nr. 96, dort bes. Anm. 1). In der Note heißt es u. a.: Eine erhebliche Zahl der in Teil III, Anlage I der Kollektivnote aufgeführten Forderungen sei inzwischen erfüllt (lt. beigefügter Liste 1 insges. 14 Punkte betr. u. a.: Dt. Werke Spandau, Hanau und Haselhorst; Zerstörung von 11 Pressen bei Krupp; Beseitigung von Hilfspolizisten und Polizeifreiwilligen), die überwiegende Mehrzahl der übrigen Forderungen (Liste 2: insges. 20 Punkte betr. u. a.: industrielle Abrüstung; Beseitigung überzähliger Ersatzteile für Handfeuerwaffen; Pioniergerät; Gasmasken) soweit gefördert worden, daß ihre restlose Erledigung bis zum 15.11.25 in sichere Aussicht gestellt werden könne. Bei einigen weiteren Punkten (Liste 3: insges. 23 Punkte betr. u. a.: Verringerung der Polizei auf 150 000 Mann; industrielle Abrüstung; Großer Generalstab; Ablieferung von Plänen versch. Festungen) werde die Durchführung hingegen sehr umfangreiche Maßnahmen erfordern, die trotz größter Beschleunigung voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen werden können. „Von den gesamten in der Kollektivnote aufgestellten Einzelforderungen bleiben hiernach nur wenige Fragen übrig [Liste 4: Polizei: Amtsbezeichnungen, Personalstatut, Kasernierung; Oberbefehl; Verbot der Ausbildung an bestimmten Waffen; Artillerie der Festung Königsberg; Verbände], deren Erledigung infolge der ihnen innewohnenden besonderen Schwierigkeiten und infolge der Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen deutschen Ländern noch nicht entscheidend gefördert werden konnte.“ (R 43 I/419, Bl. 86-88). Die Note ist gedr. (ohne Anlagen) in: Schultheß 1925, S. 409 f.
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S. Anm. 2 zu Dok. Nr. 220.
Auch das Investigationsprotokoll haben wir zur Sprache gebracht12; die Gegenseite erklärte uns, daß das Recht der Investigation nicht als dauernde Einrichtung angesehen werde, sondern daß nur in bestimmten Fällen und bei besonderen Verdachtsgründen auf Mehrheitsbeschluß des Völkerbundsrates eine Investigation zulässig wäre. Wir haben hiervon Kenntnis genommen.
Für die letzte Sitzung in Locarno hatten wir erwogen, deutscherseits eine Erklärung über die Rheinlandfrage abzugeben. Briand machte aber den Gegenvorschlag, daß er von sich aus in seiner Schlußrede eine Erklärung zu diesen Fragen abgeben würde. Das ist auch geschehen. Briand und Chamberlain haben uns mitgeteilt, daß sie in ihren Kabinetten unverzüglich den Antrag einbringen wollten, die Ziffer der Besatzungstruppe herabsetzen.
Die Paraphierung bedeutet, daß an dem Wortlaut der Verträge nichts mehr geändert werden kann. Das ist durchaus in unserem Interesse. Die Entscheidung, ob wir die Verträge zeichnen, haben wir bis zum 1. Dezember noch in der Hand, um der Gegenseite die Möglichkeit zu geben, bis dahin entweder die Kölner Zone zu räumen, oder mindestens doch bis dahin einen bestimmten Termin für die Räumung festzulegen. Ich habe die feste Überzeugung, daß bis dahin die Rückwirkungen unserer Abmachungen im Rheinland sich deutlich und erkennbar zeigen werden. In der Zwischenzeit werden auch Briand und Chamberlain in ihren Parlamenten, die früher als unser Reichstag zusammentreten, ihre Erklärungen abgeben. Bei dieser Sachlage haben wir es als richtig angesehen, zu paraphieren.
Ich bemerke zum Schlusse noch, daß während der ganzen Verhandlungen in Locarno zwischen dem Herrn Reichskanzler und mir wie in der ganzen Delegation absolute Übereinstimmung bestand und keinerlei Meinungsverschiedenheiten aufgetreten sind.
Reichskanzler Dr. Luther ergänzt den Vortrag des Außenministers durch folgende Darlegungen:
Künftig fallen Rheinlandabkommen13 und die auf ihnen fußenden Ordonnanzen auch unter die Schiedsgerichtsbarkeit, obwohl wir mit England selbst keine Schiedsgerichtsverträge abschließen, was jetzt ausdrücklich festgelegt ist; auch früher erlassene Ordonnanzen usw., die jetzt noch wirksam sind, unterliegen dem Schiedsgericht. Ebenso unterliegt der ganze Vertrag von Versailles in seiner Auslegung nunmehr der Schiedsgerichtsbarkeit. Das ist von[785] sehr erheblicher praktischer Bedeutung. – Bezüglich der französisch-polnischen und der französisch-tschechischen Verträge ist jetzt rechtens:
Ein Eingreifen Frankreichs auf Grund Artikel 16 zu Gunsten von Polen ist nur möglich bei einstimmigem Beschluß des Völkerbundsrats. Ein Eingreifen auf Grund Artikel 15, 714 würde nicht erfolgen auf Grund Völkerbundsrecht, sondern auf Grund eigener Souveränität des betreffenden Staats, d. h. in diesem Falle kann jeder Staat frei handeln, sich also auch auf seiten des Angreifers stellen. Diese an sich gegebene Situation ist nun durch Artikel 2 Absatz 215 ausgeschaltet, weil hier bestimmt ist, daß ein Eingreifen Frankreichs gegen Deutschland nur erfolgen könnte, wenn Deutschland Angreifer ist. Praktisch gesprochen heißt dieses, daß England entscheidet, ob Polen oder Deutschland der Angreifer ist. Das bedeutet eine große Verschiebung der Verhältnisse im Osten. – Auf eine Frage des Herrn Ministers Schiele bemerkt der Herr Reichskanzler Die neue französisch-polnische und französisch-tschechische Konvention16 können und dürfen nichts enthalten, was dem widerspräche, oder es wäre wirkungslos.
Über die gesamte politische Situation möchte ich folgendes sagen:
Wir stehen nach wie vor auf dem Boden unserer Note vom 20. Juli. Die letzten Ratschläge des Kabinetts, die kurz vor der Schlußsitzung bei uns eintrafen17, konnten wir nicht befolgen, weil es politisch und diplomatisch unmöglich war, die Paraphierung durch ein Schlußprotokoll zu ersetzen. Es ist auch aus persönlichen Gründen mir unmöglich erschienen, den Außenminister allein zeichnen zu lassen und selbst nicht mitzuparaphieren; ich habe aber nur den Westpakt und das Schlußprotokoll paraphiert, während die anderen Verträge nur die Paraphe Stresemanns tragen. –
Wir stehen nunmehr vor drei Entscheidungen:
1) ob das Kabinett das Verhalten der Delegation billigt; das ist Voraussetzung jeder weiteren Arbeit;
2) haben wir später den Beschluß zu fassen, ob wir in London unterzeichnen sollen; auch diese Entscheidung liegt lediglich in der Zuständigkeit der Reichsregierung.
Die dritte Entscheidung ist die Annahme der Verträge durch die gesetzgebenden Körperschaften und die Ratifikation. Da der Reichstag am 20. November zusammentritt, ergibt sich wahrscheinlich eine Verbindung zwischen der Zeichnung und dem Beschluß der Ratifikation. –
Außenpolitisch zerfällt die Situation in zwei Teile, der eine Teil ist Locarno, der hinter uns liegt, der zweite Teil ist die Fortsetzung der Arbeiten von Locarno, die noch zu erledigen ist. Wir haben in Locarno eine neue Geschäftsgrundlage gewonnen, auf der von uns wie von der Gegenseite weiterzuarbeiten ist.
So sehr ich mit Stresemann überzeugt bin, daß Deutschland nach diesem Vertrag eine erheblich bessere Stellung in der Welt hat, so ist doch die Situation[786] für England und Frankreich die, daß beide Länder neben dem Werk von Locarno noch das Kriegsinstrument von Versailles in der Hand haben, und daß in beiden Ländern uns auch Töne des Kriegsinstruments entgegenschallen werden. Stresemann und ich haften für unsere Person voll und ganz dafür, daß die versprochenen Rückwirkungen auch eintreten, so daß wir unser Amt aufgeben, wenn wider Erwarten das nicht der Fall ist. Wir müssen jetzt in der Öffentlichkeit zwei Fehler vermeiden, einmal dürfen wir das Werk von Locarno nicht überschwenglich als Beginn einer neuen Zeit rühmen, das würde außenpolitisch uns schädlich sein und die Gegner zum Glauben bringen, sie brauchten nun nichts Besonderes mehr zu leisten; wir müssen aber auch vermeiden, daß wir das Werk von Locarno nicht anerkennen, aber gleichzeitig Rückwirkungen fordern; das würde als Zeichen bösen Willens angesehen werden, zwar die Vorteile der Rückwirkungen zu erreichen, aber dann die Hauptverträge nicht zu ratifizieren. Deshalb müssen wir die Abmachungen als richtig und bindend anerkennen und dazu erklären, es ist aber noch nicht alles erreicht, und es ist für Deutschland nicht möglich, daß wir nun immer noch unter der Last fremder Besatzung leben.
Reichsminister Schiele: Ehe das Kabinett die Haltung der Delegation billigt, muß es Einsicht in die gesamten Unterlagen haben. Ich möchte auch glauben, daß der Gedanke der Billigung des Verhaltens der Delegation durch das Kabinett nicht als parlamentarisches Vertrauensvotum so gedacht ist, daß man alle Einzelheiten und die ganze Entwicklung mitträgt. Ich hielte es auch nicht für zweckmäßig, daß man die von Luther und Stresemann angedeutete persönliche Entscheidung der künftigen Entwicklung jetzt schon vorwegnähme. Ich kann jetzt schon sagen, daß, wenn es sich um eine allgemeine Billigung der Arbeit der Delegation im Sinne der Richtlinien des Kabinetts handelt, ich mit lautem „Ja“ antworten werde, aber die Entscheidung in allen Einzelheiten und Konsequenzen kann ich noch nicht übersehen; diese Entscheidung wird auch beeinflußt durch die sich jetzt anschließende Entwicklung, ob der Geist von Locarno sich durch die Tat zeigt. Ich glaube, einer Meinung mit den Delegierten zu sein, wenn ich sage, wir müssen abwarten, ob das geschaffene Gerippe sich in den nächsten Wochen praktisch ausfüllt. Das wird für unsere Entscheidung maßgebend sein.
Ich glaube auch, daß durch die Kollektivnote zu Artikel 16 das Recht unserer Neutralität in Konflikten uns zweifellos zugestanden ist. Ich frage aber noch, ob die Gegenseite eine Erklärung hiernach abgegeben hat, diese Auffassung auch im Völkerbundsrat zu vertreten.
Reichsminister Stresemann: Die Gegenseite beruft sich in der Kollektivnote ausdrücklich darauf, daß in diesem Sinne Beratungen in Völkerbundsvollversammlung und Völkerbundsrat stattgefunden haben.
Reichsminister Schiele (fortfahrend): Ferner bitte ich um eine Erklärung, ob das Kündigungsrecht jetzt einer ⅔ Mehrheit bedarf18.
[787] Reichsminister Stresemann bejahte die Frage.
Reichsminister Schiele (fortfahrend): Betreffs der Voraussetzungen und Rückwirkungen vermisse ich bei der bisherigen Erwähnung der Einzelheiten die Rückwirkungen auf die Fristen der 2. und der 3. Zone und des Saargebiets. Ich nehme an, daß hier unser Standpunkt festgehalten ist und daß wir auch hier Kürzung der Fristen erwarten.
Reichsminister Stresemann bejaht diese Frage.
Reichsminister Dr. Brauns: Ich glaube, daß wir allen Grund haben, der Delegation unseren Dank auszusprechen für die mühevolle und auch schon in ihrem bisherigen Ergebnis erfolgreiche Arbeit, die sie für Deutschland geleistet hat. Das Ergebnis ist ein Fortschreiten in der Entwicklung; diese Entwicklung kann nur in Etappen uns zur Freiheit führen, Locarno ist eine wesentliche Etappe im Abbau des Versailler Vertrags. Die Bande der Alliierten untereinander sind wesentlich gelockert worden, Deutschland hat eine andere Position als früher, der Versailler Vertrag wird nicht mehr von den Alliierten allein ausgelegt, wie wir nicht mehr bloß Diktate entgegennehmen. Von einem Rechtsverzicht auf deutsche Gebiete kann man meines Erachtens nicht reden, was nach meiner Meinung das Wichtigste des Erreichten ist. Unsere Delegierten betrachten die Billigung des Kabinetts, die sie beantragen, nur als eine bedingte, deren Endentscheidung von der weiteren Entwicklung abhängig ist, und ich glaube, diese Billigung müssen wir ihnen gewähren. Wir können aus inner- wie außenpolitischen Gründen nur als eine einheitliche Regierung handeln. Unsere Aufgabe muß nun sein, die Frage der Rheinlande mit vollem Erfolg zu lösen; das wird gelingen; wir haben die öffentliche Meinung der ganzen Welt hierbei auf unserer Seite, namentlich die in Amerika.
Reichsminister Dr. Geßler: Das Mandat ist von unserer Delegation gewissenhaft erfüllt worden. Die Situation hat sich in Locarno taktisch für uns günstig gestaltet, die Gefahren, die ursprünglich im Sicherheitspakt lagen, sind glücklich vermieden worden, ebenso die Gefahren des Völkerbunds. In der Frage der Rückwirkung für die Rheinlande werden wir fest auftreten können, weil wir die Ideologie der ganzen Welt für uns haben. Wir müssen hier fest bleiben und möglichst geschlossen das ganze Volk hier hinter uns bringen. Das Kabinett soll dem Ausland gegenüber sein Schicksal mit dieser Rückwirkung für das Rheinland fest verknüpfen.
Graf Kanitz: Auch ich sehe das, was in Locarno erreicht worden ist, als einen großen Erfolg an. Für die Ostmark ist durch Ausscheidung der Garantie Frankreichs für Polen eine große Erleichterung geschaffen, für die ich den Delegierten besonders dankbar bin. Für die Entwicklung im Rheinland bin ich auch optimistisch gestimmt, da hier der finanzielle Druck Amerikas auf Frankreich im Notfalle helfen wird. Die deutsche Delegation hat nach meiner Ansicht viel mehr erreicht, als ich von vornherein annahm.
Reichsminister Dr. Stingl schließt sich den anerkennenden Worten des Vorredners an. Artikel 16 und die Frage eines Territorialverzichts können als geklärt angesehen werden, und es bleibt nun zu hoffen, daß die besetzten Gebiete die versprochene Rückwirkung bald erfahren; er bittet, bei den besetzten Gebieten auch der Rheinpfalz besondere Beachtung zu widmen.
[788] Reichsminister Dr. Krohne schließt sich grundsätzlich den Vorrednern an und fragt, ob die Kollektivnote betr. Artikel 16 als Teil des Vertragswerks anzusehen sei.
Reichsminister Dr. Stresemann bejaht diese Frage.
Reichsminister Dr. Krohne (fortfahrend): Die Luftfahrtfrage19 ist dringend geworden. Ist hierüber in Locarno auch gesprochen worden?
- 19
Zur bisherigen Entwicklung in dieser Frage s. Dok. Nr. 170, P. 4 c, dort bes. Anm. 18. Zum Fortgang s. Dok. Nr. 219, P. 4.
Der Reichskanzler Über diese Einzelheiten ist nicht gesprochen worden, weil die Delegierten über die Einzelheiten nicht informiert waren und man die Vergrößerung der Konferenz vermeiden mußte. Mit ihrer Bedeutung ist auch die Luftfahrt erwähnt worden, konkretisiert wurde aber nicht.
Notwendig ist, daß nunmehr in unseren Veröffentlichungen, am besten nach Abschluß der morgigen Beratung, festgestellt wird, daß das Kabinett das, was in Locarno als Ergebnis vorliegt, für richtig erklärt, daß es aber seine Entscheidung über die Zeichnung, genau wie wir beide selbst, vom Ablauf der nächsten Zeit abhängig macht, ohne sich hierbei vorzubehalten, das, was in Locarno abgeschlossen ist, zu verwerfen. Nur auf dieser Grundlage können wir in Paris und London mit Aussicht auf Erfolg weiterverhandeln.
Reichsminister Schiele: Wir werden nüchtern abwarten, ob die Rückwirkung, die wir erhoffen, eintritt. Aber ich verstehe es an sich nicht, daß, wenn diese Erwartungen nicht eintreten und wir dann nicht unterzeichnen, Luther und Stresemann zurücktreten sollen, sie sind ja dann nicht geschlagen, sondern die Gegenseite hat sich ins Unrecht begeben.
Der Reichskanzler Ich empfinde die Dinge anders: Wir tragen die Verantwortung dafür, daß die Erwartungen verwirklicht werden. Die Hoffnung auf diese Verwirklichung war der Grund für unsere Entschließung zu paraphieren. Wenn ich mich in dieser Voraussetzung geirrt habe, so ist meine Politik falsch gewesen, und ich muß die Konsequenzen ziehen. Das ist auch außenpolitisch notwendig zur Überwindung der Gegenkräfte in anderen Ländern. Der Kern der ganzen Situation ist nun der, daß die Tatsache der Paraphierung vom Kabinett gebilligt wird, da wir sonst mit den anderen Mächten nicht weiterverhandeln können.
Reichsminister Dr. Brauns: Wir müssen die Paraphierung unserer Delegation im Kabinett decken, sonst werden wir der Zwiespältigkeit beschuldigt werden, und die noch weiteren Verhandlungen werden keinen Erfolg haben. Später ergibt sich dann für das Kabinett die zweite Frage, ob wir unterzeichnen oder nicht. Sind dann die Voraussetzungen, mit denen wir rechnen, nicht gegeben, werden wir nicht zeichnen; dann ist Locarno erledigt, es sei denn, daß innerpolitisch eine Neuorientierung und eine neue Regierung kommen.
Reichsminister Schiele stimmt dem Reichskanzler zu bis auf die Schlußfolgerung des Reichskanzlers auf persönlichem Gebiete. Die parlamentarische Entwicklung werde man allerdings abwarten müssen.
Der Herr Reichspräsident Das Ergebnis der Aussprache zusammenfassend, kann ich mit Befriedigung auf diese Besprechung zurückblicken. Wir haben nun[789] genauen Einblick in die Verhandlungen bekommen, und manche Bedenken, die man hier hatte, die ich auch persönlich hatte, sind geschwunden. Ich stelle mit Befriedigung fest, daß jetzt schon das Verhalten der Delegation durchaus gebilligt und dankbar anerkannt wird, ebenso, daß auch für die Paraphierung grundsätzlich die Zustimmung gegeben ist. Ich hoffe, daß wir auch weiterhin zu gutem Resultate kommen. Dazu wird nun gehören, daß der Pressechef geschickt manövriert, und ich möchte auch die Minister bitten, bei ihren Parteien und auf die Presse in diesem Sinne einzuwirken, so daß diese Fragen nicht vom Parteienstandpunkt, sondern nach dem Nutzen für das Vaterland behandelt werden. – Ich bitte den Herrn Reichskanzler und die Minister noch um eins, daß sie trotz dieser Fragen nun die weiter sehr wichtige Frage der Bekämpfung der Teuerung nicht aus den Augen verlieren.
Der Reichskanzler stimmt letzterem zu.
Auf Vorschlag des Reichskanzlers wird sodann beschlossen, für morgen, Dienstag, den 20. Oktober, 10.30 Uhr, eine Fortsetzung der heutigen Beratung anzuberaumen20, nachdem bis dahin die urkundlichen Unterlagen in der Hand der Minister sein werden.
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Eine Aufzeichnung oder Vermerke über diese Sitzung in den Akten der Rkei nicht ermittelt. Lt. Pressemeldungen (z. B. „Tägliche Rundschau“ vom 20. und 21. 10.) habe zum oben vereinbarten Zeitpunkt eine kurze Kabinettssitzung unter Vorsitz des RPräs. stattgefunden, in der das Verhalten der dt. Delegation einstimmig gebilligt worden sei. Dagegen vermerkt Stresemann unter dem 27. 10.: „Am nächsten Tage [20. Oktober] sollte die Schlußsitzung unter Vorsitz Hindenburgs stattfinden. Da begann das Eingreifen der deutschnationalen Fraktion, die Schiele direkt untersagte, seinerseits abzustimmen, ohne die Meinung der Fraktion erfahren zu haben. Er stände in so engem Konnex mit der Fraktion, daß er nicht allein vorgehen dürfe.“ (Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, S. 205 f.).
Schluß der Sitzung: 2.15 mittags.