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1. [Stellung der Parteien zur Locarno-Politik; Besetzung der freigewordenen Ministerposten]
Der Herr Reichskanzler berichtete eingangs, daß er in den Mittagsstunden dem Herrn Reichspräsidenten Vortrag über die Beschlüsse des Reichskabinetts von heute vormittag gehalten habe. Sodann berichtete der Herr Reichskanzler über seine Empfänge der verschiedenen Parteiführer (diese Empfänge haben nach Maßgabe der Anlage1a stattgefunden) und die mit diesen stattgehabten Besprechungen. Insbesondere seitens der Sozialdemokraten und Demokraten sei er nach dem Vorgehen der Reichsregierung gefragt worden, das diese nach den Schlußabstimmungen im Reichstage und dem Gesamtergebnis über den Vertrag von Locarno am 1. Dezember einzuschlagen gedenke. Er habe hierzu eine Erklärung ausdrücklich abgelehnt. Insbesondere zu der konkreten Frage, ob die Reichsregierung je nach dem Ergebnis am 1. Dezember den Reichstag aufzulösen gedenkt oder zurücktreten werde, habe er sich absichtlich nicht geäußert. Darüber habe er allerdings keinen Zweifel gelassen, daß im Falle nicht genügender Rückwirkungen er persönlich entsprechend der bereits in Locarno gegebenen Erklärung2 zurücktreten werde. Im übrigen habe er sich mit Betonung darauf beschränkt, die gegenwärtigen Aufgaben der Reichsregierung den Parteiführern klarzulegen. Nach dieser Richtung hin habe er ausgeführt, daß das Streben der Reichsregierung auch nach dem Ausscheiden der deutschnationalen Minister unverwandt darauf gerichtet sein müsse, das Werk von Locarno zu einem sachlichen Ende zu führen. Im ganzen hätten sich auf dieser Basis die Erörterungen mit den Parteiführern so vollzogen, daß der Standpunkt der Reichsregierung als der natürliche und logische anerkannt worden sei. Der für die Deutschnationalen erschienene Graf Westarp sei ihm persönlich über die Vorgänge der letzten Tage tief erschüttert vorgekommen, während der gleichfalls anwesende deutschnationale Abgeordnete Dr. Oberfohren der schärferen Richtung anzugehören schien. Beide Herren hätten aber von sich aus erklärt, bei einer vorzeitigen Einberufung des Reichstags würden die Deutschnationalen ein Mißtrauensvotum nicht einbringen, wenn das Kabinett die Dinge bis zur Entwicklungsreife zu bringen gedächte. Sie hätten allerdings hinzuzufügen,[808] die Deutschnationale Fraktion käme dann in eine schwierige Lage, wenn ein solches Mißtrauensvotum von den Sozialdemokraten eingebracht werde. Für die Sozialdemokraten habe der Abgeordnete Wels stark mit dem Auflösungsgedanken gespielt, während der Abgeordnete Müller-Franken nach dieser Richtung hin gedämpft habe. Das Zentrum und die Deutsche Volkspartei hätten volles Verständnis für das Vorgehen der Reichsregierung gehabt und hätten den Wunsch geäußert, daß die Reichsregierung sofort unsere ausländischen Missionen mit entsprechenden Weisungen versehen möchte.
Sodann fuhr der Herr Reichskanzler fort, daß er im Anschluß an die Parteiführerbesprechungen die Staatssekretäre Fischer, Popitz, Zweigert und Trendelenburg empfangen habe, um sie von den Plänen der Reichsregierung hinsichtlich der kommissarischen Besetzung der drei freigewordenen Ministerposten zu orientieren3.
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Hierüber vermerkt Wachsmann unter dem 27. 10.: Luther habe den Staatssekretären u. a. mitgeteilt, „daß geschäftsordnungsmäßig die vertretenen Minister nur für ihre Person je eine Stimme haben würden, daß er aber bäte, von seiten des Reichsfinanzministeriums möchten, sofern Streitigkeiten bei beiden Abteilungen nicht vorher durch seine Entscheidung beglichen worden seien, stets, aber auch sonst nach Möglichkeit, beide Abteilungen vertreten sein“ (R 43 I/1307, Bl. 24 f.).
In der sich an den Bericht des Herrn Reichskanzlers anknüpfenden Aussprache wurde allgemeine Zustimmung zu dem Vorgehen des Herrn Reichskanzlers festgestellt. Zur Orientierung der Öffentlichkeit über das künftige Vorgehen der Reichsregierung wurde sodann die nachfolgende Pressenotiz vereinbart, die durch den Pressechef der Presse noch am Abend bekanntgegeben werden solle:
„Das Reichskabinett hat seine heute mittag begonnenen Beratungen am Abend fortgesetzt und ist zu folgender Stellungnahme gelangt:
Das Reichskabinett betrachtet als seine selbstverständliche politische Pflicht, auf dem in Locarno begonnenen Wege fortzuschreiten, um dem Reichstag rechtzeitig vor dem 1. Dezember, dem Tage, der für die Zeichnung des in Locarno paraphierten Vertrages vorgesehen ist, ein Gesamtergebnis zur Beschlußfassung unterbreiten zu können. Aus dieser Erwägung erachtet es das Reichskabinett für geboten, von einer Demission abzusehen und die Reichsgeschäfte weiterzuführen.
Der Reichskanzler, der im Laufe des Nachmittags Vertreter der Reichstagsfraktionen empfangen hatte, hat dem Herrn Reichspräsidenten über die politische Lage Vortrag erstattet und zugleich seine Vorschläge wegen der zukünftigen Gestaltung des Reichskabinetts unterbreitet. Der Herr Reichspräsident hat die Entlassungsgesuche der Herren Reichsminister Neuhaus, Schiele und von Schlieben genehmigt und hat, unter Billigung der Fortführung der Reichsgeschäfte durch das jetzige Kabinett, mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Reichsministers der Finanzen den Reichskanzler Dr. Luther, des Reichsministers des Innern den Reichswehrminister Dr. Geßler und des Reichswirtschaftsministers den Reichsverkehrsminister Dr. Krohne beauftragt.“4
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In diesem Wortlaut veröffentlicht z. B. in „Tägliche Rundschau“ vom 27. 10.