Text
[Streik der Eisenbahnbeamten1]
Der Reichskanzler begrüßt die Herren und stellt fest, daß die Besprechung auf Anregung der Gewerkschaften stattfindet2, da diese den Wunsch geäußert haben, der Regierung ihren Standpunkt zu dem Streik vorzutragen.
- 2
In den Akten liegt jedoch der Entwurf eines Schreibens des RK vom 3.2.22 an Leipart folgenden Inhalts: „Wie ich von dem Herrn Reichspräsidenten höre, wünschen die Gewerkschaften [an dieser Stelle sind die Worte: und der Deutsche Beamtenbund gestrichen] mir die Auffassung über die Lage vorzutragen. Ich bitte deshalb die berufenen Vertreter der Gewerkschaften, heute um 3 Uhr in der Reichskanzlei vorzusprechen.“ (R 43 I/2124, Bl. 70).
Herr Leipart führt gleichzeitig im Namen der anwesenden Gewerkschaftsführer folgendes aus: die Gewerkschaften seien sich dessen bewußt, daß der Streik in seinen Folgen die Arbeiterschaft treffe. Sie hätten sich daher zu dem heutigen Schritt entschlossen, obwohl sie den Streik der Eisenbahnbeamten aufs schärfste mißbilligten und zwar insbesondere deshalb, weil der Streik ohne Beachtung der elementarsten Grundregeln der Gewerkschaften angezettelt worden[535] sei. Nach Gewerkschaftsgrundsätzen sei es nicht zu billigen, daß eine einzelne Gruppe ohne Fühlungnahme mit dem Spitzenverband einen Streik proklamiere.
Er müsse jedoch dabei betonen, daß die Arbeiterschaft über die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten, den Streik betreffend, wenig erfreut sei3. Gerade diese Verordnung hätte große Teile der Arbeiterschaft dazu getrieben, mit den Eisenbahnbeamten zu sympathisieren. Von seiten der Arbeiterschaft würden die Gewerkschaften stündlich zu Protestaktionen gegen die Regierung aufgefordert. Die Gewerkschaften hätten dies jedoch abgelehnt, da sie der Regierung in diesem Augenblick keinerlei Schwierigkeiten bereiten wollten. Sie seien sich dessen bewußt, daß, wenn der Streik für die Regierung ohne Erfolg beendet werde, dies eine Niederlage der Regierung bedeute, aber andererseits dürfe auch für die Regierung der Streik nicht lange andauern. Die Gewerkschaften hätten sich daher entschlossen, der Regierung folgenden Vorschlag zu unterbreiten:
Die Spitzenvertreter der Gewerkschaften seien bereit, noch heute einen öffentlichen Aufruf zur Beendigung des Streiks zu erlassen. Allerdings wäre es wünschenswert, wenn in diesem Aufruf betont werden könnte, daß die Regierung nach wie vor bereit sei, die Verhandlungen über die Wünsche der Beamten fortzusetzen, und es würde fernerhin für die Zwecke der Gewerkschaften eine große Erleichterung bedeuten, wenn man hinzufügen könnte, daß die Regierung bereit sei, die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten wieder aufzuheben.
Gerade letzteres Moment wäre gerade deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Gewerkschaften sich nicht der Gefahr aussetzen wollten, daß ihr Aufruf ungehört verhalle.
Eine solche Erklärung sei natürlich für die Regierung heute ein schwerer Schritt, aber wenn die Arbeit wieder aufgenommen würde, sei die Verordnung ja sowieso gegenstandslos.
Der Reichskanzler legte den Standpunkt der Regierung im einzelnen dar und betonte, daß es nach Auffassung der Regierung kein Streikrecht der Beamten gäbe. Eine Regierung, die den Beamten ein Streikrecht zubillige, sei nicht denkbar.
Die Aufhebung der Verordnung nach Abbruch des Streiks könnte in Erwägung gezogen werden. Er halte es aber nicht für zweckmäßig, in dem Aufruf die Verordnung zu berühren, sondern schlage eine Formulierung des Aufrufs ohne Bezugnahme auf die Verordnung vor.
Herr Aufhäuser betont im Anschluß an die Ausführungen des Herrn Leipart nochmals, daß die Gewerkschaften besonderen Wert darauf legten, daß der Aufruf Erfolg habe, und einen solchen könne er nur haben, wenn auch die Verordnung darin berührt werde. Er führte weiter aus, daß der Deutsche Beamtenbund den Streik nicht gebilligt habe, so daß die Regierung sehr wohl in der Lage sei, auch mit diesen Spitzenverbänden eventuell später in Verhandlungen zu treten.
[536] Der Reichskanzler erklärte, daß er das ihm Mitgeteilte alsbald dem Kabinett zur Kenntnis bringen werde, und indem er den Herren für ihr Erscheinen dankte, bat er sie, gegen 6 Uhr nochmals in der Reichskanzlei vorzusprechen, und wenn möglich, eine Formulierung des Aufrufs dann vorzulegen4.
- 4
Protokoll der Besprechung, zu der später auch die Vertreter des Beamtenbundes zugezogen wurden, und die Formulierung des Aufrufs in R 43 I/2124, Bl. 163, 179-181. Der Aufruf ist in der Presse am 4.2.22 wie folgt veröffentlicht: „An die Beamten, Arbeiter und Angestellten! Unter völliger Nichtachtung der anerkannten gewerkschaftlichen Grundsätze hat die Reichsgewerkschaft deutscher Eisenbahnbeamten und Anwärter anläßlich einer noch im Gang befindlichen Lohnverhandlung durch Aufforderung zum Streik den Eisenbahnverkehr – auch den für die Ernährung des Volkes nötigen – lahmgelegt. Obwohl gerade die werktätige Bevölkerung unter den Folgen am schwersten zu leiden hat, und die Besoldungsordnung der Beamten mit den zurzeit stattfindenden Verhandlungen über die Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten in Staatsbetrieben im engsten Zusammenhange steht, hat es die Reichsgewerkschaft absichtlich unterlassen, dem Wunsche der übrigen betroffenen Gewerkschaften nach einem gemeinsamen Vorgehen nachzukommen. Dieselbe Reichsgewerkschaft, die jetzt Hilfe von den Arbeitern und Angestellten fordert, hat auch diesmal ihre Sonderbestrebungen den gemeinsamen Interessen aller Arbeitnehmer übergeordnet. – Es ist unerträglich, wenn eine einzelne undisziplinierte Gruppe in solch unverantwortlicher Weise mit dem Schicksal der gesamten Bevölkerung spielt. Dieser Lohnstreik einer Beamtengruppe muß bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage auch bei nur kurzer Dauer die Lebensbedingungen aller Arbeitnehmer, besonders in den Großstädten, aufs verhängnisvollste gefährden. – Geradezu katastrophal aber wirkt dieser Streik bereits jetzt drei Wochen vor der Konferenz von Genua auf die Außenpolitik Deutschlands ein. Die Verantwortung gegenüber den von ihnen vertretenen Beamten, Arbeitern und Angestellten, wie gegenüber dem gesamten Volke legt deshalb den unterzeichneten Spitzenorganisationen aller Gewerkschaftsrichtungen die gebieterische Pflicht auf, alle im Streik befindlichen Eisenbahner aufzufordern, die Arbeit sofort wieder aufzunehmen. – Von der Reichsgewerkschaft wird erwartet, daß sie sich ebenso ihrer schweren Verantwortung bewußt wird und den Streik unverzüglich beendet. Die für diesen besonderen Streikfall der Reichsbahnbeamten erlassene Verordnung des Reichspräsidenten wird mit der Beendigung des Streiks gegenstandslos. – Die unterzeichneten Spitzengewerkschaften haben bei ihren Verhandlungen mit der Reichsregierung von dem folgenden Stand der Besoldungsfrage Kenntnis genommen: Die Reichsregierung hat gemäß ihrer bei der Verabschiedung der letzten Besoldungsvorlage gemachten Zusage bereits am 25. Januar dieses Jahres, also vor Ausbruch des Streiks, die Frage der Gewährung von Wirtschaftsbeihilfen an Beamte in Orten mit besonders schwierigen Verhältnissen in Anlehnung an die den Arbeitern bewilligten Überteuerungszuschüsse mit dem 23er Ausschuß des Reichstages eingehend geprüft. Das Reichskabinett hat bald darauf den Gesetzentwurf, welcher die für die Gewährung der Wirtschaftsbeihilfen nötigen Mittel bereitstellen soll, genehmigt, sowie die erforderlichen Maßnahmen für eine beschleunigte Verabschiedung der Vorlage durch die gesetzgebenden Körperschaften des Reiches und für eine möglichst baldige Ausführung der Zahlungen getroffen. Auch hat die Reichsregierung ihre Bereitwilligkeit erklärt, mit den Spitzenverbänden, die Beamte vertreten, in Erörterungen über die weiteren grundsätzlichen Besoldungsfragen und sonstigen Wünsche der Beamten einzutreten. – Die Reichsregierung erklärte ferner ausdrücklich, daß alle Gerüchte und Behauptungen über eine beabsichtigte Beschränkung des verfassungsmäßigen Koalitionsrechtes durchaus unbegründet sind. – Damit ist die Berücksichtigung der berechtigten Beamtenforderungen und der Schutz des Koalitionsrechtes aller Arbeitnehmer gesichert. Wir erwarten von der organisierten Arbeitnehmerschaft, daß sie sich ausschließlich an die Weisungen ihrer Spitzenorganisationen hält.“ (DAZ Nr. 59 vom 4.2.22).