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2. Politische Lage.
Der Reichskanzler teilte mit, daß der Herr Reichspräsident den Stellvertreter des Reichskanzlers, Reichsminister Dietrich, unter Entbindung von seinem Amte als Reichswirtschaftsminister, zum Reichsminister der Finanzen ernannt habe3.
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Beglaubigte Abschrift der Ernennungsurkunde Dietrichs zum RFM vom 26.6.30 in R 43 I/1308, S. 583. Abschrift der Entlassungsurkunde des RK als amtierender RFM vom 26.6.30 in R 43 I/1308, S. 581.
Der Reichsminister der Finanzen erörterte sodann nochmals die Einzelheiten der in der Ministerbesprechung vom 25. Juni 1930 bereits grundsätzlich genehmigten Gesetzentwürfe4:
1. | über eine Reichshilfe der Personen des öffentlichen Dienstes, |
2. | über einmalige außerordentliche Zuschläge zur Einkommensteuer im Rechnungsjahr 1930. |
Die fertiggestellten Texte dieser Gesetzentwürfe lagen vor.
[241] Der Reichspostminister regte an, bei der Ausgestaltung des Zuschlages zur Einkommensteuer der Ledigen nach Möglichkeit in stärkerem Maße wie bisher geschehen, auf soziale und wirtschaftliche Bedürftigkeit der Steuerpflichtigen Rücksicht zu nehmen in der Weise, daß Personen, denen gesetzliche Unterhaltspflichten obliegen, in geringerem Maße zur Besteuerung herangezogen werden.
Der Reichsminister der Finanzen sagte die Erfüllung des Wunsches zu, sofern dies ohne erhebliche Schmälerung des finanziellen Ertrages des Gesetzes sich als möglich erweisen sollte5.
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Der Vorschlag des RPM wurde im Art. I § 2 (2) a) berücksichtigt: „Bei Berechnung der Einnahmen bleiben außer Ansatz für jedes zur Haushaltung der Beitragspflichtigen zählende minderjährige Kind 240 Reichsmark jährlich (20 Reichsmark monatlich)“.
Im übrigen wurden bezüglich der Gesetzestexte Abänderungswünsche nicht geltend gemacht.
Der Reichskanzler stellte daher die Zustimmung des Reichskabinetts zu den Entwürfen fest mit der Maßgabe, daß beide Gesetzentwürfe in einem einzigen Gesetzentwurfe vereinigt werden sollen.
Der Reichskanzler berichtete sodann kurz über seinen dem Herrn Reichspräsidenten in Neudeck erstatteten Vortrag. Er teilte mit, daß der Herr Reichspräsident die bisherigen Beschlüsse des Reichskabinetts über die Deckungsvorlagen und die geplante Methode ihrer Durchbringung genehmigt habe.
Ferner übermittelte er die Bitte des Herrn Reichspräsidenten an den Reichsminister des Auswärtigen, Dr. Curtius, im Kabinett zu verbleiben, und zwar unabhängig von etwaigen Beschlüssen der Deutschen Volkspartei6.
Anschließend stellte der Reichskanzler ausdrücklich fest, daß diese Bitte des Herrn Reichspräsidenten vom Gesamtkabinett einstimmig unterstützt wird.
Zurückkommend auf die in der Ministerbesprechung vom 25. Juni 1930 gefaßten Beschlüsse über die Deckung des Fehlbetrages, stellte der Reichskanzler nochmals die unbedingte Notwendigkeit der einmütigen Bindung aller Ressorts an den Beschluß über die Haushaltsabstriche im Gesamtbetrage von 100 Millionen RM fest.
Generalmajor v. Schleicher erklärte, daß er für seine Person nicht in der Lage sei, der Entscheidung des abwesenden Reichswehrministers vorzugreifen. Er werde Reichsminister Groener in den nächsten Tagen in Karlsbad zur Sache Vortrag halten und hoffe, die nachträgliche Zustimmung des Reichswehrministers zu erhalten7.
Der Reichsminister der Finanzen erwiderte, daß er sich vorbehalten müsse, für den Fall der Verweigerung der Stimme des Reichswehrministers, für seine Person die Konsequenzen zu ziehen.
Das Reichskabinett erörterte sodann die Frage der taktischen Weiterbehandlung der Vorlagen und kam nach längerer Beratung zu dem Ergebnis, daß der Reichskanzler und der Reichsminister der Finanzen die Vorlagen am kommenden Tage im Reichsrat in öffentlicher Sitzung den Staats- und Ministerpräsidenten der deutschen Länder unterbreiten und auf schleunigste Erledigung[242] im Reichsrat dringen sollen, um sie dann möglichst noch im Laufe der nächsten Woche auch dem Reichstag zur Entscheidung vorzulegen8.
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Die Reden des RK und des RFM vor den vereinigten Ausschüssen des RR wurden vom WTB (Nr. 1294 vom 28.6.30, R 43 I/2365, Bl. 134–139) veröffentlicht. Der RR billigte die Deckungsvorlage am 3.7.30 (Ausführungen des RR-Berichterstatters MinDir. Hog in Vollsitzungen des RR, 1930, S. 406–407). Die erste Beratung des GesEntw. (RT-Bd. 443, Drucksachen Nr. 2247) fand im RT am Montag, dem 7.7.30 statt (RT-Bd. 428, S. 6188).
Ferner wurde in Aussicht genommen, die Parteiführer der hinter der Regierung stehenden Fraktionen im Anschluß an die Reichsratssitzung über die Vorlage kurz zu unterrichten9.