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Finanzielle Notlage der preußischen Gemeinden.
Staatsminister SeveringSevering streifte kurz die in der Besprechung vom 2. März 1931 behandelte Frage der Gewährung eines Reichszuschusses zur Überwindung der finanziellen Schwierigkeiten einiger preußischer Gemeinden beim Abschluß des Rechnungsjahres 1930/311. Er erklärte, daß er sich zur Sache am Vortage mit dem Reichsminister der Finanzen ausgesprochen habe, mit ihm aber noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen sei. Er wolle das Thema heute nicht vertiefen. Heute komme es ihm ausschlaggebend darauf an, Gewißheit darüber zu erhalten, wie den preußischen Gemeinden im kommenden Rechnungsjahr geholfen werden könne, damit sie den finanziellen Anforderungen aus der Wohlfahrtsfürsorge entsprechen könnten, ohne finanziell zusammenzubrechen. Es stehe fest, daß die Gemeinden aus eigener Kraft der Schwierigkeiten nicht Herr werden könnten. Ihnen müsse daher in irgendeiner Weise geholfen werden. Eine Festlegung darüber, wie dies geschehen könne, sei im Augenblick nicht nötig. Notwendig aber sei es, grundsätzlich festzulegen, daß geholfen werden müsse.
Der Reichskanzler erwiderte, daß das Reich gegen eine Reform der Fürsorgeeinrichtungen, insbesondere der Krisenfürsorge und der Wohlfahrtsfürsorge, grundsätzlich nichts einzuwenden habe und durchaus bereit sei, an Reformvorschlägen mitzuarbeiten. Er könne aber keinen Zweifel daran lassen, daß das Reich für die Fürsorge im kommenden Rechnungsjahr keinen Pfennig mehr beisteuern könne wie im Reichsetat vorgesehen sei.
Der Preußische Finanzminister führte aus, daß bei einzelnen preußischen Gemeinden schon jetzt eine akute Notlage bestehe, daß die Preußische Staatsregierung dieser Schwierigkeiten und der Schwierigkeiten der nächsten Monate aus eigener Kraft Herr werden könne durch Heranziehung des bekannten[945] Ausgleichsfonds von 70 Millionen für das Rechnungsjahr 1931 für die Senkung der Realsteuern2. Wenn dieser Ausgleichsfonds aber erschöpft sei, ein Zustand, der nach wenigen Monaten erreicht sein werde, werde man vollständig festgefahren sein. Nach seiner Überzeugung habe alsdann weder das Reich noch Preußen eine Möglichkeit, zur Überwindung der Schwierigkeiten neue kurzfristige Kredite aufzunehmen. Zum Ausgleich des Preußischen Staatshaushalts 1931 müsse ein Defizit von rund 200–210 Millionen RM überbrückt werden. Hierdurch werde der gesamte preußische Staatskredit vollständig erschöpft. Weitere Abstriche im Etat seien unmöglich. Die bisherigen Kreditquellen Preußens seien versiegt, da die Sparkasseneinlagen von Monat zu Monat geringer würden. Die Gemeinden und Gemeindeverbände seien über die Grenze des Möglichen hinaus kurzfristig verschuldet, und daß auch das Reich angesichts seiner schwierigen Etats- und Kassenlage nicht ohne weiteres neue Kredite finden könne, stehe für ihn fest. Man müsse sich daher fragen, was auf die Dauer geschehen könne, um den Zusammenbruch der Gemeinden aufzuhalten. Er sehe kaum einen anderen Weg, als den über eine weitere Kürzung der Beamtengehälter.
Der Reichskanzler erwiderte, daß die Erschließung neuer Steuern ausgeschlossen sei. Die einzige Steuerquelle, die noch verfügbar sei, sei die Umsatzsteuer. Diese komme für den zur Erörterung stehenden Zweck unter keinen Umständen in Frage3.
Staatssekretär Dr. SchäfferSchäffer führte aus, daß er die Dinge im großen und ganzen ebenso sehe wie der Preußische Finanzminister. Eine Reichshilfe glaubte er Ländern und Gemeinden unter keinen Umständen in Aussicht stellen zu können, zumal, da die Lage der Länder, verglichen mit der des Reichs, weniger schwierig sei.
Staatsminister SeveringSevering meinte, daß es unumgänglich notwendig sei, daß, wenn man jetzt zu keiner Regelung komme, in absehbarer Zeit der Zusammenbruch der Gemeinden, beginnend im Westen des Reichs und von da in den übrigen Landesteilen fortschreitend hereinbrechen werde. Die wirksamste Hilfe erhoffe er von einer Gehaltskürzung.
Ministerialdirektor von LeydenLeyden unterstrich diese Ausführungen. Er glaubte mit Bestimmtheit vorhersagen zu können, daß der Zeitpunkt, zu dem geholfen werden müsse, in wenigen Monaten unvermeidbar da sein werde, Vorkehrungsmaßnahmen seien daher unerläßlich. Er nahm Bezug auf die den Sitzungsteilnehmern zugegangene Denkschrift des Preußischen Innenministers […], in der der finanzielle Bedarf der preußischen Gemeinden dargestellt ist4. Hierzu bemerkte er, daß die Hilfe des Gesamtaufwandes der Gemeinden für die Wohlfahrtsfürsorge gleich hoch sei wie das Gesamtdefizit der preußischen Gemeinden.[946] Wenn man daher den Gemeinden die Hälfte der Wohlfahrtslasten abnehme, sei das Schuldenproblem der preußischen Gemeinden gelöst.
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In der pr. Denkschrift vom 5. 3. war das Defizit der Gemeinden für das Rechnungsjahr 1930 mit rd. 350 Mio RM, für 1931 mit rd. 427 Mio RM geschätzt worden (R 43 I/2321, Bl. 260–290, hier Bl. 262–263).
Ministerialdirektor WeigertWeigert machte eingehende Darlegungen über die im Reichsarbeitsministerium angestellten Erwägungen zur Frage der voraussichtlichen Entwicklung des Arbeitsmarktes im kommenden Rechnungsjahr. Er führte aus, daß im Reichshaushaltsplan bei der Finanzierung der Arbeitslosigkeit davon ausgegangen worden sei, daß die Arbeitslosigkeit im Jahre 1931/32 den Durchschnitt des Jahres 1930/31 nicht übersteige. Es stehe aber schon jetzt fest, daß man an diesem Ausgangspunkt nicht festhalten könne, das Jahr 1931/32 werde sicherlich schlechter werden als das vorhergehende. Selbst wenn in absehbarer Zeit ein Konjunkturanstieg erfolgen sollte, werde sich dies nach den Erfahrungen früherer Jahre auf dem Arbeitsmarkt erst sechs Monate später auswirken. Das Jahr 1931 werde daher noch ein Krisenjahr erster Ordnung sein. 1932 dagegen dürfe man mit ziemlicher Sicherheit auf eine Besserung rechnen. Das Jahr 1931 sei auch um deswillen so stark belastet, weil die im Finanz- und Wirtschaftsplan vorgesehene Umstellung des Baumarktes nur mit großen Schwierigkeiten vonstatten gehen werde. Der Präsident des Instituts für Konjunkturforschung schätze den Durchschnitt der Arbeitslosen im Jahre 1931 auf 4 Millionen gegenüber etwa über 3 Millionen im Jahre 1930. Das Reichsarbeitsministerium komme aufgrund anderer Erwägungen zu ungefähr der gleichen Schlußsumme, nämlich zu einer Durchschnittszahl von 4,1 Millionen Arbeitslosen5. Eine Aufteilung der Durchschnittszahl des Jahres 1930 auf die drei Fürsorgeeinrichtungen Alo, Kru. und Wohlfahrtsfürsorge für 1930 ergebe folgende Prozentzahlen:
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Die Zahl der Arbeitslosen betrug im Durchschnitt 1930 3.075.580 (Stat. Jb. für das Dt. Reich 50 (1931), S. 301), 1931 4.519.704 (Stat. Jb. für das Dt. Reich 51 (1932), S. 291).
Alo. | 57% | |
Kru. | 13% | |
Wohlfahrt | 16%. |
Der Rest von 14% entfalle auf nichtunterstützte Arbeitslose. Die Vorschätzungen des Jahres 1931 verteile die Hundertsätze wie folgt:
Alo. | 48% | |
Kru. | 20% | |
Wohlfahrt | 21% | |
Nichtunterstützte | 11% |
Bei Zugrundelegung dieser Zahlen ergebe sich für die Alo. ein durch die 6½% Beiträge nicht gedecktes Defizit von 262 Millionen RM. Wie dieses Defizit gedeckt werden könne, stehe noch nicht fest. Man könne hier an eine Einschränkung der Leistungen oder an eine Beitragserhöhung oder an eine Verbindung beider Maßnahmen denken. Die Krisenunterstützung habe unter den vorgenannten Voraussetzungen ein Defizit von 150 Millionen RM zu erwarten. Die Abdeckung dieses Defizits sei äußerst schwierig, da eine Verminderung[947] der Leistungen in der Kru. kaum noch möglich sei. Die Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen werde, für das ganze Reich berechnet, auf 880 000 im Jahresdurchschnitt berechnet. Die daraus erwachsende finanzielle Belastung der Gemeinden sei jedenfalls geringer wie die des laufenden Jahres 1930. Der in der preußischen Denkschrift angenommene Unterstützungssatz von 700 RM je Wohlfahrtsunterstützter sei entschieden zu hoch. In den ländlichen Gemeinden gehe man immer mehr dazu über, Unterstützungen in Bargeld für die Wohlfahrtsfürsorge abzuschaffen. Statt dessen werde Unterstützung in Naturalien gewährt. Die Aufwendungen hierfür seien erheblich geringer wie 700 RM jährlich.
Die Entscheidung der Frage, ob eine Verschmelzung der Krisenunterstützung mit der Wohlfahrtsunterstützung stattfinden könne, sei noch nicht spruchreif. Sie beschäftige zur Zeit noch den Gutachterausschuß6. Dieser werde aber in den nächsten Wochen zu positiven Vorschlägen kommen.
Der Reichskanzler warf sodann die Frage auf, welche Maßnahmen zur Konsolidierung der kurzfristigen Verschuldung der Gemeinden ergriffen seien und noch ergriffen werden könnten. Er fügte hinzu, daß es ausschlaggebend darauf ankomme, auf diesem Gebiet in den nächsten Wochen zu entscheidenden Fortschritten zu kommen.
Der Preußische Finanzminister erwiderte, daß dieser Fragenkomplex sehr schwer übersehbar sei. Vielleicht werde es einigen großen Städten gelingen, binnen kurzem durch Einsatz ihrer Werte zu einer Konsolidierung ihrer Schulden zu kommen. Er nannte beispielsweise die Städte Berlin und Köln.
Ministerialdirektor von LeydenLeyden meinte, daß im ganzen wohl nur ein halbes Dutzend Städte in Frage komme, die dieses Ziel erreichen könnten.
Staatssekretär Dr. SchäfferSchäffer hielt es für dringend geboten, Fortschritte auf diesem Gebiet nachdrücklichst zu forcieren. Denn die Sanierung der großen Städte werde soviel Luft schaffen, daß man den kleineren Gemeinden bei der Erreichung des gleichen Zieles wesentlich besser Hilfe leisten könne. Er empfehle, den Fragenkomplex baldigst nochmals mit dem Reichsbankpräsidenten zu besprechen. Man dürfe den Städten nicht gestatten, die Liquidierung ihres Aktienbesitzes jetzt zu verweigern, weil die Kurse im Augenblick besonders gedrückt seien. Auch das Reich gebe ja seinen Besitz an Eisenbahnvorzugsaktien in der jetzigen Notlage zu sehr ungünstigen Kursen ab.
Hiermit waren die preußischen Herren einverstanden.
Der Reichskanzler bemerkte noch, daß die allzu starke Verschuldung der Städte für die Situation der Großbanken bedenklich sei, daß infolgedessen auf die Dauer auch die Wirtschaft gefährdet werde. Er rate daher eindringlichst zu intensiver Einwirkung auf die Städte.
Der Preußische Finanzminister berechnete, daß die in der Schätzung des Reichsarbeitsministers genannten Zahlen von Wohlfahrtserwerbslosen für 1931 (21% von 4,1 Millionen) einen Kostenaufwand von etwa 160 Millionen RM verursachen werden. Dieser Betrag entspreche in seiner Höhe einer 6%igen[948] Gehaltskürzung. Die letzte Gehaltskürzung von 6 v.H. habe nämlich für den Preußischen Staat 80 Millionen und für die preußischen Gemeinden etwas mehr wie den gleichen Betrag ausgemacht.
Der Preußische Minister des Innern stellte die Frage, wann die Preußische Staatsregierung die Verhandlungen zur Sache im Preußischen Staatsrat fortsetzen könne.
Der Reichskanzler erwiderte, daß er bitte, den Zeitpunkt nicht vor Mitte Mai zu legen.
Die preußischen Herren waren damit einverstanden.
Der Preußische Handelsminister bemängelte an der bisherigen Aussprache, daß zu wenig darüber gesprochen worden sei, wie man dem Arbeitslosenproblem durch eine verstärkte Belebung des Arbeitsmarktes beikommen könne. Er verwies auf die früheren Vorschläge der Preußischen Staatsregierung zu diesem Fragenkomplex7.
Der Reichskanzler stellte daraufhin eine Fortsetzung der Aussprache mit den preußischen Herren über dieses Thema für die nächsten Wochen in Aussicht8.
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Über eine derartige Besprechung war in den Akten der Rkei nichts zu ermitteln.