Text
[Grenzschutz im Osten]
Preußischer Minister Dominicus1 berichtet über die bisherige Entwicklung der Frage des Schutzes der Ostgrenze gegen äußere Bedrohung2 und hebt hervor, daß neuerdings die Sozialdemokratie zwei verschiedene Fälle unterscheide und hiervon ihre Stellungnahme abhängig mache, nämlich den Fall, daß irreguläre Banden aus Polen oder der Tschechoslowakei in deutsches Gebiet einfielen, und zweitens den Fall, daß ein Einmarsch polnischer oder tschechoslowakischer Truppen auf Grund von Mandaten oder Sanktionen erfolge. Während die Sozialdemokratie in ersterem Falle mit einer bewaffneten Abwehr derartiger Versuche einverstanden sei, würde sie im zweiten Falle einen bewaffneten Widerstand ablehnen und entschieden bekämpfen und zwar, wie Abgeordneter Severing ihm heute gesagt habe, auch mit dem Mittel der Weigerung der Truppenbeförderung durch die Eisenbahnerverbände und evtl. sogar durch Generalstreik. Die Frage müßte daher geklärt werden, namentlich nachdem am 21. April in einer Besprechung beim Reichskanzler beschlossen worden ist, auch im Falle von Sanktionen im Osten Widerstand zu leisten3. Nach seiner Besprechung mit dem Herrn Reichspräsidenten am letzten Sonntag [24. 4.] habe er geglaubt, daß auch der Herr Reichspräsident mit dieser Auffassung einverstanden sei4.
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A. Dominicus, DDP, seit 21.4.1921 PrIM im Kabinett Stegerwald (Schultheß 1921, I, S. 120).
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Siehe dazu Dok. Nr. 207.
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Über die Besprechung vom 21.4.1921 wurde laut einer Aktennotiz MinR v. Bornstedts wegen des streng vertraulichen Inhalts kein Protokoll angefertigt (R 43 I/355, Bl. 50). Nach einer Abschrift für die Rkei hatte der PrIM zu dieser Besprechung die OPräs. von Ostpreußen, Niederschlesien, Grenzmark Posen-Westpreußen und Oberschlesien eingeladen (Einladungsschreiben des PrIM vom 19.4.1921, R 43 I/355, Bl. 50). Siehe dazu auch Dok. Nr. 242, P. 5.
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Über diese Besprechung zwischen dem RPräs. und dem PrIM am 24. 4. ließ sich in R 43 I nichts ermitteln.
[655] Der Reichspräsident Zur Vermeidung von Mißverständnissen möchte ich gleich bemerken, daß mir von der letzt erwähnten Besprechung beim Reichskanzler am 21. April bis heute noch nichts bekannt war. Insbesondere war mir bei der Besprechung, die ich am Sonntag mit Minister Dominicus hatte, nichts von der Stellungnahme der beteiligten Minister in dieser Besprechung bekannt. Ich weiß nur von einer am 16. März in der Reichskanzlei stattgehabten größeren Sitzung, wo beschlossen wurde, einem irregulären Einfall bewaffneten Widerstand entgegenzusetzen, die Entscheidung über unser Verhalten im Falle eines Einmarsches auf Grund eines Entente-Mandats aber noch vorbehalten wurde5; so war auch mein Standpunkt bei einer früher bei mir im kleinen Kreis in dieser Frage stattgehabten Besprechung.
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Besprechung mit den örtlichen Stellen über die Lage an der poln. Grenze am 16.3.1921; s. Dok. Nr. 207.
Die vom RPräs. angeführte Unterscheidung, bei einem irregulären Einfall der Polen Widerstand zu leisten und bei einem Einmarsch auf Grund eines Mandats sich das Verhalten vorzubehalten, läßt sich aus dem Protokoll der Besprechung nicht nachweisen.
Reichsminister Dr. Simons: Bei der Besprechung am 21. April ist die Frage unseres Verhaltens im Falle Einmarsches auf Grund von Mandaten zum ersten Male besprochen worden. Hierbei wurde uns die Stimmung der Bevölkerung dahin geschildert, daß die Bevölkerung Schlesiens und der Ostmarken in jedem Falle Widerstand leisten würde, einerlei ob der Einmarsch auf Grund von Mandaten oder ohne solche erfolgt. Ich habe mich und mit mir haben sich der Reichskanzler und die anwesenden Minister ebenfalls dahin ausgesprochen, daß in jedem Falle Widerstand geleistet würde, einesteils aus der Erwägung, daß wir die Bevölkerung, die sonst ohne uns losschlüge, in die Hand bekommen, unseren Formationen angliedern und sie so vor dem Schicksal, als Franktireure6 behandelt zu werden, bewahren, andererseits aus der Erwägung, daß Polen und Tschechoslowaken gewahr werden, daß wir erheblichen Widerstand leisten und sich deshalb bei ihrer nicht sehr großen Neigung zu diesem Unternehmen abhalten ließen, dem Drängen Frankreichs nachzugeben; sie würden dieses aber tun, wenn sie sicher sind, keinen Widerstand zu finden. Deshalb habe ich es für wichtig gehalten, den Unterschied zwischen Einmarsch auf Grund von Mandat und Einfall nicht zu machen.
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Einwohner eines besetzten Landes, die – entgegen den völkerrechtlichen Bestimmungen – hinter der militärischen Front Kleinkrieg führen.
Der Reichskanzler bemerkt ergänzend hierzu: In der Besprechung am 21. April wurde insbesondere vom Oberpräsidenten Zimmer gesagt, die Bevölkerung ließe sich nicht halten; bis in den Kreis der Unabhängigen hinein würde sie unbedingt Widerstand leisten. Das Vorgehen des Oberpräsidenten Zimmer und seiner Regierungspräsidenten und die Agitation, die sie hieraufhin unternahmen, geht aber weit über das in der Besprechung vom 21. April Geplante hinaus und ist wenig geschickt7. Nach dem, was jetzt über das Verhalten der[656] Gewerkschaften festgestellt ist, sind die Voraussetzungen, von denen wir am 21. April bei unserer Entschließung ausgingen, hinfällig geworden; die Sache ist eine ganz andere, und wir müssen auch unsere Stellungnahme danach einrichten8.
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Der OPräs. der pr. Provinz Niederschlesien, Zimmer, hatte seit dem 21. 4. begonnen, einen bewaffneten Selbstschutz in seiner Provinz gegen einen möglichen poln. und tschechischen Einfall aufzubauen. Zimmer hatte dabei erklärt, daß er in Übereinstimmung mit der RReg. handle. Siehe dazu die Rede des Abg. Dißmann (USPD) am 25.4.1921 im RT, RT-Bd. 349, S. 3391.
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Die Gewerkschaften hatten sich bald gegen den Aufbau eines bewaffneten Selbstschutzes in Schlesien gewandt. In Gewerkschaftskreisen fürchtete man vor allem, daß rechtsstehende Kreise Einfluß auf den Selbstschutz gewinnen könnten (Reichszentrale für Heimatdienst an die Pressestelle der RReg. am 29.4.1921, R 43 I/355, Bl. 104–105).
Reichsminister Koch: Die Verhältnisse im Falle von Sanktionen im Osten liegen anders als im Westen. Die Truppen, die über die Ostgrenze kommen, werden wilde Horden sein, denen wir die Bevölkerung nicht ausliefern können. Auch in rechtlicher Beziehung unterscheiden sich Sanktionen im Osten von denen im Westen; es fehlt jeder Rechtsgrund. Die Art des Vorgehens des Oberpräsidenten Zimmer entspricht nicht unserer Absicht.
Abgeordneter Severing: Wenn die Regierung nicht abbläst, werden es die Organe der sozialistischen Partei tun, was der Sache nicht zuträglich wäre. Ich habe von der 2. Sitzung am 21. April nichts gewußt; in der Sitzung vom 16. März war nur die Rede von einem Widerstand im Falle des eigenmächtigen Einmarsches. Mir war der Meinungsumschwung der Arbeiterschaft im Osten im Gegensatz zu der Auffassung des Oberpräsidenten Zimmer bekannt. Die Behandlung, die der mitteldeutsche Aufstand [durch] das Vorgehen der Regierung im Landtag, insbesondere durch die Rechte, erfahren hat, hat diesen Umschwung herbeigeführt. Es muß also abgeblasen werden, sonst gibt es ein fürchterliches Durcheinander, Streiks usw. Ich würde empfehlen, darauf hinzuweisen, daß die Vorbereitung nur getroffen wird gegen einen Einfall irregulärer Banden, und zwar im Interesse der Bevölkerung, und in geeigneter Form, ähnlich wie es Reichsminister Simons heute im Reichstag getan hat, darauf hinzuweisen, daß ein Widerstand gegen den Friedensvertrag und auf ihn gestützte Sanktionen nicht beabsichtigt ist9.
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Rede von RAM Simons im RT am 28.4.1921, RT-Bd. 349, S. 3471 f. Simons hatte sich in seiner Rede zu einer loyalen Durchführung des Friedensvertrages bekannt.
Ministerpräsident Stegerwald: Die Sache ist jedenfalls von seiten Zimmers und anderer falsch gemacht worden. Für den Fall des Einmarsches irregulärer Truppen sind wir einig, Widerstand zu leisten, im Falle des Mandats müssen wir uns klar werden, was zu tun ist, und alsdann unseren Organen, insbesondere dem Oberpräsidenten, klare Weisung geben.
Reichsminister Dr. Simons bittet zu prüfen, ob man nach diesen Eskapaden den Oberpräsidenten Zimmer noch im Amte belassen könne. Der Minister zitiert dann noch den Text der auf Polen bezüglichen Stelle aus seiner heutigen Rede im Reichstag. Jetzt abzublasen, sei eine große Gefahr; das zöge gerade herbei, was wir verhindern wollten, und bedeute eine carte blanche für die Polen und die Tschechoslowaken einzufallen, die nun wüßten, daß sie nichts riskierten; das aber gerade hätten unsere Vorbereitungen verhindert. Andererseits gebe er zu, daß nichts zu wollen ist, wenn die Sozialdemokratie Schwierigkeiten macht und den Generalstreik in Aussicht stellt. Es empfiehlt sich, baldmöglichst[657] mit den Gewerkschaften Fühlung zu nehmen, vielleicht läßt sich eine vorsichtige Fassung für die Erklärung finden.
Minister Dominicus tritt dieser Ausführung bei; ein Abblasen würde eine große Unruhe in die Bevölkerung der Ostgrenzen bringen.
Der Reichspräsident bedauert, daß er über die Abmachung vom 21. April nicht verständigt worden war, da diese erneute Stellungnahme seine verfassungsmäßige Stellung als Oberbefehlshaber der Reichswehr berühre und von ihm der Befehl zur Einsetzung der Reichswehr gegeben werden müsse10. Zur Zeit sei er ohne weiteres nicht in der Lage, einen solchen Befehl zu geben, dessen Durchführung er aus innerpolitischen Gründen für unmöglich halte oder die dem Lande zum Unglück gereichen müsse, denn er brächte den Kriegszustand gegen die Westmächte mit sich. Wir waren früher zwar einig und entschlossen, die Ostgrenze vor feindlichen Einfällen zu schützen, soweit es sich darum handelte, für Oberschlesien, sei es vor, sei es nach der Abstimmung, von polnischer Seite ein fait accompli zu schaffen; unsere Stellung für den Fall, daß ein Einmarsch der Polen und Tschechen auf Grund eines Entente-Mandats erfolgte, ist bei der Entschließung vorbehalten geblieben. Er sei aber auch der Meinung, jetzt nicht offen zum Rückzug zu blasen, sondern eine Form zu suchen, in der man sich vorsichtig umstellt.
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Daraufhin hatte der RPräs. bereits früher in einem persönlichen, streng vertraulichen Schreiben vom 16.3.1921 an den RWeM hingewiesen. In diesem Schreiben hieß es u. a.: „Die Lage an unserer Ostgrenze kann unter Umständen militärische Entschließungen und Maßnahmen notwendig machen, die von erheblichen innen- und außenpolitischen Wirkungen sein können. Ich bitte Sie daher, mich über die militärische Lage in Bezug auf Polen auf dem laufenden zu halten und vor jeder wichtigen Entscheidung oder Anordnung für die Ostgrenze meine Zustimmung einzuholen.“ (R 43 I/118, Bl. 192).
Reichsminister Dr. Simons: Auch wenn die Polen auf Grund von Sanktionen einmarschieren, so fehle doch jede Rechtsbasis. Ein großer rechtlicher Unterschied liege nicht darin, daß Einmarsch auf Grund Mandats erfolge, denn auch die Sanktionen verstoßen gegen den Friedensvertrag. Der Unterschied sei ein politischer; kämen die Polen als Mandatar, so sei ein Widerstand gegen sie zugleich Widerstand gegen die Westmächte, der Eintritt des Kriegszustandes im Westen zur Folge hätte.
Minister Dominicus bittet nunmehr, eine Stellungnahme der Reichsregierung zu den Beschlüssen am 21. April herbeizuführen, d. h. festzustellen, ob diese frühere Stellungnahme nunmehr aufgehoben werden soll.
Reichsminister Dr. Simons macht darauf aufmerksam, daß es sich damals nicht um einen Beschluß der Reichsregierung, sondern um eine Besprechung einiger Minister mit Vertretern der preußischen Regierung gehandelt habe. Ebenso könne auch heute kein Beschluß gefaßt werden; das Kabinett müsse die Konsequenzen aus der heutigen Besprechung ziehen.
Der Reichspräsident Ich will nur wiederholen, daß ich die Befehlsgebung für die Verwendung von Reichswehr mir vorbehalten habe und daß ich nach Lage der Dinge die Einsetzung der Truppen im Kampfe gegen Sanktionen aus den derzeitigen inner- und außenpolitischen Gründen für höchst bedenklich halte. Im übrigen muß ich mit dem Kabinett die Sache weiter beraten, eine endgültige Entscheidung ist damit heute von mir noch nicht gegeben.
[658] Ministerpräsident Stegerwald: Die Sache erscheine in einem anderen Bilde als heute morgen11. Die Annahme, die wir heute morgen hatten, daß der Herr Reichspräsident auch im Falle des Mandats zur Einsetzung der Truppen bereit wäre, trifft nicht zu, ebenso trifft auch die zweite Voraussetzung nicht zu, daß die Bevölkerung geschlossen hinter einem solchen Vorgehen stehe. Es ist richtig, daß zunächst das Reichskabinett Stellung nehmen muß, einstweilen kann aber der Oberpräsident in Breslau durch den anwesenden Oberpräsidialrat von dem Ergebnis der Besprechung verständigt und angewiesen werden, [sein] bisheriges Vorgehen zu mäßigen. Wenn das Kabinett Stellung genommen hat, muß eine Formulierung für ein Abblasen der bisherigen Aktion gefunden werden12.
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Offenbar hatte am Morgen des 28. 4. bereits schon eine Besprechung stattgefunden; nähere Einzelheiten über das Thema und die Teilnehmer dieser Besprechung waren in R 43 I jedoch nicht zu ermitteln.
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RIM Koch notierte dazu in seinen „Aufzeichnungen“ unter dem Datum des 29. 4.:
„Die Sozis machen Ernst mit ihrem Widerstand gegen die deutsche Verteidigung gegen polnische und tschechische Sanktionen. In einer Besprechung gestern abend beim Reichspräsidenten, veranlaßt auf meinen Rat durch Dominicus, haben Simons und ich vergeblich dargelegt, daß ein Rat an unsere Bevölkerung, den Einmarsch zu dulden, gleichbedeutend sei mit der Aufforderung zum Einmarsch an die Polen und Tschechen, daß die Sanktionen im Osten sich von denen im Westen tatsächlich unterschieden, indem im Osten brennende und mordende Horden über die Grenzen brächen, denen die Bevölkerung sich einfach nicht unterwerfen könnte, und rechtlich, indem auch kein Schatten von Recht hinter den Sanktionen dieser Ostvölker stünde, sowie endlich daß wir die braven Verteidiger unserer Heimat nicht zu Franktireurs werden lassen dürften. Als ich am Schluß erklärte, daß die Reichsregierung nach allem, was vorbereitet sei, nicht abblasen könne, begann Severing (der zu dieser Besprechung von Reichs- und preußischen Ministern von Ebert merkwürdigerweise zugezogen war) seine Gegenausführungen damit, daß, wenn die Reichsregierung nicht abblase, die sozialdemokratischen Organisationen abblasen würden. Er drohte mit Verweigerung von Truppentransporten, mit dem Generalstreik und anderem. Ebert rückte sichtlich ab. Als er am Sonntag [24. 4.] eine Einheitsfront gegenüber polnischen Angriffen herzustellen sich bemüht habe, habe er von dem Fall des Einmarsches auf Grund von Sanktionen nichts gewußt. Er bestreitet die entgegengesetzte Darstellung Dominicus’. Wenig glaubhaft! Ebert ging dann so weit, daß er ankündigte, er werde als oberster Kriegsherr die Reichswehr nicht marschieren lassen. Nun soll das Kabinett heute entscheiden.“ (Nachlaß Koch-Weser 27, Bl. 473–475).
Siehe dazu weiter Dok. Nr. 242, P. 5.