1.36 (lut2p): Nr. 205 Vermerk des Staatssekretärs Kempner über eine Besprechung des Reichskanzlers mit dem Reichsminister des Innern am 23. Oktober 1925

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[795] Nr. 205
Vermerk des Staatssekretärs Kempner über eine Besprechung des Reichskanzlers mit dem Reichsminister des Innern am 23. Oktober 1925

R 43 I /429 , Bl. 42 f.

[Stellung der DNVP zum Locarno-Pakt]

Heute nachmittag erschien Herr Reichsminister Schiele beim Herrn Reichskanzler, um ihm über die Stimmung der Landesdelegierten der Deutschnationalen Partei bezüglich des Sicherheitspaktes zu berichten1. Er schilderte die Stimmung so, daß Ablehnung des gesamten Sicherheitspaktes mit ganz großer Mehrheit wahrscheinlich sei, wenn nicht bezüglich der sogenannten Verzichtsfrage2 ein neuer Tatbestand einträte, der es ermöglichte, die grundsätzlich ablehnende Stimmung der Versammlung zu verändern. Der Reichskanzler zog, da der Reichsaußenminister in Karlsruhe war, zur Besprechung die Herren Staatssekretäre Zweigert, von Schubert und Kempner und Herrn Ministerialdirektor Gaus zur Beratung heran. Die Besprechung wurde dadurch unterbrochen, daß Herr Schiele noch eine Rücksprache mit dem in die Reichskanzlei gekommenen Grafen Westarp hatte, der sich indessen nicht an der allgemeinen Aussprache beteiligte; vielmehr haben sich die beiden Vertreter der Deutschnationalen Partei nur untereinander besprochen.

1

Vgl. Dok. Nr. 204.

2

Betrifft die Auslegung des Art. 1 des Sicherheitspakts, in dem die Vertragspartner die Aufrechterhaltung des sich aus den dt.-frz. und dt.-belg. Grenzen ergebenden Status quo und die Unverletzlichkeit dieser Grenzen garantieren. Stresemann hatte dazu am 22. 10. vor dem Auswärtigen Ausschuß erklärt, „daß der Westpakt Deutschland zu nichts anderem verpflichte als zum Verzicht auf eine gewaltsame Änderung seiner Westgrenzen auf dem Wege des Angriffs“ („Tägliche Rundschau“ vom 23. 10.). Vgl. auch die Darlegung des RAM im Kabinettsrat vom 19. 10. (Dok. Nr. 201). Zum Standpunkt der DNVP-Fraktion s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 203. In einer Erklärung des deutschnationalen Parteivorstands vom 30. 10. heißt es: „Ein Verzicht auf deutsches Land und Volk ist im Sicherheitspakt weder durch einen klaren eindeutigen Wortlaut, noch durch wirksames Kündigungsrecht ausgeschlossen. Die Gegenseite konnte vor der Welt behaupten, daß Deutschland verzichtet habe.“ („Kreuzzeitung“ vom 30. 10., Ausschnitt in R 43 I /429 , Bl. 71).

Nachdem die verschiedensten Möglichkeiten erwogen waren, um dem oben gekennzeichneten Ziele des Vertrauensmannes der Deutschnationalen Partei entgegenzukommen, wurde Herrn Schiele der als Anlage beigefügte Entwurf einer Stellungnahme übergeben3. Zu diesem Entwurf sprach sich der Reichskanzler[796] vor Herrn Schiele und den übrigen eingangs genannten Herren dahin aus, daß er so verfahren werde, wie in dem Entwurf vorgesehen sei und daß er sich im Einverständnis mit dem Herrn Außenminister auch schon entsprechend verhalten habe, wie er denn auch in der gestern seitens des Reichsaußenministers Stresemann im Auswärtigen Ausschuß abgegebenen Erklärung4 einen solchen Schritt erblicke.

3

Der beiliegende Entwurf lautet: „Die Reichsregierung steht nach wie vor mit vollster Überzeugung auf dem Standpunkt, daß juristisch und logisch eine Meinungsverschiedenheit über den Sinn und Inhalt des Westpakts, insbesondere des Artikels 1, nicht möglich ist. Dieser Sinn und Inhalt gehen dahin, daß Deutschland durch den Pakt auf eine Änderung der Westgrenze durch Angriffskrieg oder andere aggressive Gewaltmaßnahmen verzichtet, daß dagegen die friedliche Entwicklung, insbesondere das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker, in keiner Weise berührt wird.

Da jedoch gewisse Auslassungen im Auslande anscheinend Zweifel darüber erweckt haben, ob der Sinn und Inhalt des Westpakts auch von der Gegenseite entsprechend dem feststehenden juristischen und logischen Aufbau ausgelegt wird, wird die Reichsregierung die gegebenen Möglichkeiten benutzen, einer etwaigen irrtümlichen Auslegung des Westpakts entgegenzutreten.“

4

S. Anm. 2.

Hingegen fügte der Reichskanzler hinzu, daß er in Abwesenheit des Reichsaußenministers außerstande sei, sich darüber zu äußern, ob er eine Erklärung solchen Inhalts gegenüber irgendeiner Stelle abgeben könne und welches die gegebenen Möglichkeiten bei der Ausführung der bestehenden Absicht seien.

Herr Reichsminister Schiele erklärte, daß er nur in diesem Sinne und nur gegenüber einigen wenigen seiner Parteifreunde, deren Verschwiegenheit er absolut sicher sei, den in seiner Hand befindlichen Entwurf verwerten werde5.

5

Die Bemühungen Schieles führen zu keinem Erfolg. Wie WTB am 24. 10. berichtet, faßt die Landesdelegiertenkonferenz der DNVP am Abend des 23. 10. folgenden Beschluß: „Das nunmehr vorliegende Vertragsergebnis von Locarno ist für die Partei unannehmbar.“ Graf Westarp kündigt hierauf an, die RT-Fraktion werde am Nachmittag des 25. 10. über die erforderlichen weiteren Schritte beraten (WTB-Ausschnitt in R 43 I /429 , Bl. 45). Zum Fortgang s. Anm. 1 a zu Dok. Nr. 208.

Der Versuch, den Herrn Reichsaußenminister am Fernsprecher zu erreichen, mißlang bis zum Schluß der Besprechung. Vorher, d. h. bevor die Erörterungen bestimmte Gestalt angenommen und besonders bevor der Entwurf der Anlage aufgestellt war, hatte der Herr Reichsaußenminister bei einem Ferngespräch mit mir geäußert, daß er einen Schritt bei allen Vertragsmächten von Locarno für völlig ausgeschlossen halte und sich als Reichsaußenminister dazu niemals hergeben könnte. Auf den ersten Blick dagegen erschiene ihm der ihm von mir telephonisch angedeutete Weg eines Einzelschritts bei Chamberlain möglich, jedoch auch dieser nur vorbehaltlich reiflicher Prüfung. Von diesem meinem Gespräch mit Minister Stresemann hatte ich im Laufe der Besprechung dem Herrn Reichskanzler und den anderen eingangs erwähnten Herren Mitteilung gemacht.

Die Besprechung endete gegen 6½ Uhr.

Kempner, 23. 10., 7 Uhr N.

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