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2. Wirtschaftspolitische Maßnahmen.
Der Reichsverkehrsminister berichtete über seine Verhandlungen mit der Reichsbahn wegen der Reichsbahntarife4. Die Gütertarife sollen um insgesamt 300 Millionen gesenkt werden. Auf Stückgutsätze entfallen 110 Millionen (Senkung um 20%). Durch Wegfall des 5%igen Bedeckungszuschlags würden 40 Millionen[2020] RM gespart, durch Ermäßigung gewisser Tarifklassen 36 Millionen. Die Senkung der Kohlentarife würde 75 Mill. ausmachen. Der Rest von 39 Millionen würde für einzelne Zugeständnisse verbraucht werden. So für Verbilligung der Getreide-, Mehl- und Futtermitteltarife. Düngemittel sollten allgemein ermäßigt werden. Holz für Siedlung auf 100% des Friedensstandes, Schlachtvieh und zu mästende Rinder auf 75% des Friedensstandes. Die Ausfuhr von Steinen, Papier und Textil-Waren aus gewissen sächsischen Bezirken, von Torfstroh, Kalkstein und anderen Waren würde begünstigt.
Zweidrittel des Gesamtbetrages würde durch Personalersparnisse, ein Drittel durch Vorleistungen der Reichsbahn gedeckt. Im übrigen sagte der Reichsverkehrsminister zu, daß wegen einzelner Wünsche, insbesondere des Reichswirtschaftsministeriums, noch Ressortbesprechungen stattfinden sollten.
Das Kabinett nahm zustimmend von dem Ergebnis der Verhandlungen Kenntnis. Mit der Notverordnung werden gleichzeitig die Tarifsenkungen im einzelnen bekanntgegeben werden müssen5.
Zur Frage der Löhne und Preise glaubte der Reichsarbeitsminister daß bei einer Ermäßigung der Kohlentarife um 75 Millionen und bei einer Senkung des Preises von seiten der Industrie um eine Mark die Tonne, die Kohle ungefähr wieder auf den Friedenspreis kommen werde. Die Verhandlungen mit der Kohlenindustrie werden vom Reichswirtschaftsminister rasch zu Ende geführt werden6.
Wegen der Eisenpreise hielt der Reichswirtschaftsminister zunächst die Festsetzung der Löhne für notwendig.
Der Reichsarbeitsminister berichtete von den bisherigen Ressortbesprechungen. Danach habe es sich herausgestellt, daß eine gleichzeitige Senkung der Löhne bei den 10 000 laufenden Tarifverträgen nicht möglich sei. Sie würde etwa 4–6 Wochen in Anspruch nehmen. Festsetzung eines Stichtages, etwa des 10. Januar 1927, müßte zu größten Ungleichheiten führen. Der Schlichter müsse diese ausgleichen. Dagegen habe das Reichswirtschaftsministerium das Bedenken, daß derartige Lohnsenkungen nicht in die Preise einkalkuliert werden können. In Frage käme die Gruppe, die in der ersten und zweiten Lohnsenkung erfaßt worden seien, nicht über 10%, diejenigen, die nur in der ersten Lohnsenkung betroffen wurden, etwa 15% im Lohn herabzusetzen; im übrigen aber bei besonderen Härten dem Schlichter freie Hand zu lassen. Wegen der Einwände des Reichswirtschaftsministeriums hinsichtlich der Preissenkung bei diesem Verfahren erklärte sich der Reichsarbeitsminister bereit, einer Senkung der Kohlenlöhne gleichzeitig mit dem Kohlenpreise durch eine Ausführungsverordnung zur Notverordnung zuzustimmen7. Auf dieser Basis sollen die Verhandlungen weitergeführt werden. Auch bei den Preisen der Düngemittel ist nach den Berichten des Reichswirtschaftsministers eine rasche Einigung mit den Unternehmern möglich, sobald die Lohnfrage mit ihnen offen besprochen werden kann.
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Tatsächlich sind in der 4. NotVo. vom 8.12.31 (RGBl. I, S. 699) Kohlenpreise und Kohlenlöhne gesenkt worden: Siehe den Ersten Teil, Kapitel I, § 3 (S. 700) und den Sechsten Teil, Kapitel I § 2 Abs. 2 (S. 726).
[2021] Der Reichskanzler war damit einverstanden, daß in vorsichtiger Weise mit Vertretern der Kohlen- und Eisenindustrie verhandelt wird. Vorleistungen in den Löhnen müßten ausgeschlossen sein. Bei Kali und Stickstoff müßten die Preise stark geworfen werden. Im übrigen müsse unter Androhung der Aufhebung der Kartelle ein starker Druck ausgeübt werden8.
Hinsichtlich der Werkstarife wies der Reichsverkehrsminister auf die starken Unterschiede bei den einzelnen Gemeinden hin; zum Teil werde ihre Finanzierung stärker auf diese Tarife gerichtet als auf einzelne Steuern.
Der Reichskanzler hielt es für geboten, daß vor der endgültigen Entschließung über die Löhne bereits die Frage der Werkstarife wie die der Preise fest geregelt sein müsse9. Es müsse Klarheit geschaffen werden, da nach Durchführung der allgemeinen Senkungsaktion mit weiterem Herabgehen der Preise nicht gerechnet werden könne.
Der Reichskanzler stellte fest, daß beim Bergbau die Reichsregierung ermächtigt werden solle, die Kohlenlöhne und -Preise gleichzeitig herabzusetzen. Im übrigen soll für die gesamte Arbeiterschaft ein allgemeiner Rahmen festgelegt werden.
Zur Frage der Beamtenbesoldung wies der Reichspostminister darauf hin, daß zahlreiche Gruppen bereits auf dem Niveau von 1924 wieder angelangt seien, zum Teil ständen sie darunter10. Wenn er gezwungen wäre, die Ersparnisse, die aus einer weiteren Herabsetzung der Gehälter erwüchsen, an das Reichsfinanzministerium abzuführen, dann sei er nicht in der Lage, Tarife zu senken. Er halte aber eine Tarifsenkung im Rahmen der gesamten Maßnahmen für notwendig.
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Wegen der befürchteten erneuten Kürzung der Beamtengehälter hatten sich verschiedene Beamtenverbände mit Eingaben an den RK gewandt. Der Reichsbund der höheren Beamten hatte am 28.10.31 eine Zusammenstellung über die Realbezüge der Beamten 1931 im Vergleich zu 1913 und 1924 übersandt und die Broschüre von Adolf Bohlen „Die höheren Beamten nach drei Gehaltskürzungen. Das Ergebnis der Notverordnungen in Zahlen“ beigefügt (R 43 I/2572, Bl. 266–295). Ähnliche Berechnungen hatte der Allgemeine Dt. Beamtenbund am 11.11.31 vorgelegt (R 43 I/2572, Bl. 305–309). Gleichen Tenor hatten auch das Schreiben des Dt. Beamtenbundes vom 28.11.31 (R 43 I/2572, Bl. 320–322) und mehrere Telegramme (a.a.O., Bl. 316–319).
Im weiteren Verlauf der Aussprache ergab sich, daß erwogen werden möchte, die Gebühren für Geschäftsdrucksachen, den Paketverkehr und für den Fernsprechverkehr herabzusetzen11, und daß auch die Gebühren der Rechtsanwälte und Notare, Gerichtsvollzieher, Patentanwälte und Ärzte sowie die Arzneitaxe ermäßigt werden müßten12. Eine allgemeine Senkung der Warenpreise und damit Entwertung der Läger würde zwar auch für die Banken eine gewisse Gefahr bedeuten. Ihr müßte aber durch Maßnahmen begegnet werden, die nicht in die Notverordnung aufgenommen werden brauchten. Die Preisfrage sowie die Erntesicherung außerhalb der Osthilfegebiete sollen in einer Chefbesprechung am 30. November vormittags unter dem Vorsitz des Herrn Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft behandelt werden13.