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6. Erwerbslosenfürsorge.
Geheimrat Weigert (Reichsarbeitsministerium): Es entsteht die Frage, was dann geschehen soll, wenn die für die Erwerbslosenfürsorge im besetzten Gebiet zur Verfügung gestellte Summe verbraucht ist. Wir hoffen, mit dem Betrag von 86 Millionen Rentenmark16 bis zum 15. Dezember 1923 auskommen zu können, wir zahlen allerdings dieselben Sätze im besetzten wie im unbesetzten Gebiet17. Die Beträge sind zeitlich und regional kontingentiert. Wenn die Länder den ihnen obliegenden Anteil wieder übernehmen, dann läßt sich die Erwerbslosenfürsorge mit der vom Reich zur Verfügung gestellten Summe noch um ⅓ der Zeit verlängern.
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Auf Drängen der Vertreter des besetzten Gebiets hatte das Kabinett Stresemann Mitte November 1923 beschlossen, zur finanziellen Unterstützung des besetzten Gebiets für eine kurze Übergangsperiode einen einmaligen Betrag von 100 Mio GM bereitzustellen; hiervon waren 88 Mio GM (nicht 86 Mio) für die Erwerbslosenfürsorge im besetzten Gebiet bestimmt.
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Die Sonderzuschläge, die früher zu den normalen Fürsorgesätzen im besetzten Gebiet gewährt wurden, waren ab Mitte November fortgefallen. Zwischen dem 19. 11. und dem 10.12.23 betrug der allgemeine Höchstsatz für männliche Erwerbslose über 21 Jahre in Ortsklase A pro Tag 780 Mrd. M (= 0,78 GM); als Familienzulage wurden für den Ehegatten 200 Mrd. M (= 0,20 GM) und für jedes Kind 150 Mrd. M (= 0,15 GM) gezahlt. In Gebieten mit besonders niedriger Kaufkraft der Papiermark sollte die Unterstützung nach Möglichkeit in Form von Sachleistungen (Lebensmitteln) gegeben werden. S. die Bekanntmachungen des RArbMin. über die Höchstsätze in der Erwerbslosenfürsorge im RArbBl. 1923, amtlicher Teil, S. 730, 770.
Die Erwerbslosenfürsorge im besetzten und im unbesetzten Gebiet läßt sich vielleicht gleichmäßig auch weiter aufrechterhalten, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden:
a) | Die Länder müssen ihren Anteil an der Erwerbslosenfürsorge wieder übernehmen18, |
b) | [16]die Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen höhere Beiträge für Zwecke der Erwerbslosenfürsorge zahlen. |
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Auf Veranlassung des RArbM Brauns forderte RK Marx die Länder mit besetzten Gebietsteilen (Preußen, Bayern, Baden, Hessen, Oldenburg) durch Schreiben vom 1. 12. auf, unverzüglich den gesetzlich vorgeschriebenen Landesanteil an den Lasten der Erwerbslosenfürsorge zu übernehmen. Falls das Reich wie bisher die gesamten Ausgaben der Fürsorge im besetzten Gebiet allein aufbringen müßte, würde das zur Verfügung stehende Kontingent sehr bald erschöpft sein (R 43 I/2028, Bl. 373-375). Die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, der Gemeinden, der Länder und des Reichs sind festgelegt in der VO über die Aufbringung der Mittel für die Erwerbslosenfürsorge vom 15.10.23 (RGBl. I, S. 984).
Die Leistungen der Fürsorge können nicht durch Ausscheidung der Frauen oder der Jugendlichen beschränkt werden. Derartige Maßnahmen wären unsozial und ungerecht. Dagegen ist es möglich, die Kurzarbeiter, deren Zahl zur Zeit sich auf über 2 Millionen beläuft, aus der Fürsorge auszuscheiden19. Auf jeden Fall müssen die Beträge kontingentiert werden.
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Hierzu führte RFM Luther in einem Schreiben an RArbM Brauns vom 24. 11. u. a. aus: Im Auswärtigen Ausschuß hätten sich sämtliche Parteien für eine gleichmäßige Fortsetzung der Erwerbslosenfürsorge im besetzten und unbesetzten Gebiet ausgesprochen. Sollte sich die RReg. dieser Auffassung anschließen, so ergäbe sich die zwingende Notwendigkeit, die Leistungen künftig erheblich einzuschränken. „Ich bitte daher, sofort dahin Vorsorge zu treffen, daß von der Unterstützung ausgeschaltet werden die Jugendlichen, die weiblichen Personen und die Kurzarbeiter. Es wird angestrebt werden müssen, die Erwerbslosenfürsorge lediglich auf Haushaltungsvorstände zu beschränken, Einzelpersonen aber völlig auszuschalten.“ (R 43 I/2028, Bl. 381-384, 401-403; hier auch die Antwort Brauns vom 8. 12.).
Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß es von der politischen Entwicklung abhänge, ob man viele Erwerbslose im besetzten Gebiet künftig haben werde.
Der Reichsarbeitsminister wies zum Schluß darauf hin, daß die Preisbewegung genau beobachtet werden müsse und daß er gegen eine Aufrechterhaltung der Handelskartelle sei. Er regte ferner an, der Frage der Kultivierung von Ödland besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Es wurde hierauf beschlossen, am Dienstag, den 4. 12. nach der Reichstagssitzung eine Sitzung des Rhein-Ruhrausschusses des Reichskabinetts nach Möglichkeit stattfinden zu lassen20. Am Mittwoch, den 5. 12. soll möglichst – das Einverständnis des Reichskanzlers vorausgesetzt – eine Sitzung des gesamten Kabinetts stattfinden, in der endgültig über alle Rhein-Ruhrfragen Beschlüsse gefaßt werden sollen21.