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[2135] Nr. 615
Der Erzbischof von Breslau an den Reichskanzler. Breslau, 24. Dezember 1931
[Betrifft: Bekämpfung der Gottlosenbewegung]
Hochverehrter Herr Reichskanzler!
In den Weihnachtstagen und im Hinblick auf das herannahende neue Jahr sind meine Gedanken oft bei Ihnen und Ihren Sorgen. Ein herzinniges Memento trage ich zum Altare um das Wollen der Vorsehung inmitten der Ihnen bevorstehenden neuen Kämpfe.
Ein offenes Wort bitte [ich] mir in folgender Angelegenheit zu gestatten.
An den Episkopat treten immer von neuem Vorhaltungen des Inhalts heran, daß die Reichs- und Staatsregierung dem Bolschewismus und der Gottlosenbewegung gegenüber nicht klar und fest genug auftrete. Der Reichsinnenminister Dr. Wirth hat uns versichert, daß es daran nicht fehle, hat auch eine Konferenz mit Vertretern des Episkopats zur Beratung über diese Aufgaben einberufen. Sein Nachfolger hat den Episkopat ersucht um Mitwirkung gegen innere Unruhen; dem ist gern entsprochen, wie die Anlage als Beispiel zeigt1. Der Preußische Justizminister hat versprochen, den Klagen über Unzulänglichkeit der Rechtspflege gegenüber Angriffen auf Religion und Kirche stets wirksame Aufmerksamkeit zu schenken, was aber nicht durchgreifend helfen wird; die Staatsanwaltschaften stellen bei so manchen Fällen niederträchtigster Anwürfe für ein Eingreifen der Justiz eine ungünstige Prognose.
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Kardinal Bertram hatte seinem Schreiben seine Kanzelabkündigung für den 27.12.31 „Mahnung zur Friedensgesinnung in stürmischer Zeit“ beigefügt (R 43 I/140, Bl. 228).
Es kann wohl nicht geleugnet werden, daß der staatliche Schutz für Religiosität des Volkes sehr schwach geworden ist. Damit wird nicht geleugnet, daß geistige Kämpfe mit geistigen Waffen ausgefochten werden müssen; sondern nur das in Rechnung gestellt, daß es sich bei der Gottlosenbewegung gar nicht um geistige Kämpfe handelt, sondern um brutalste Vergewaltigung, denen geistige Waffen allein nicht gewachsen sind.
Ich mache der Regierung damit keine Vorwürfe, weil ich die Konstellation der Machtfaktoren des öffentlichen Lebens nicht vollständig übersehe. Aber dieselbe Regierung, die zum Schutz staatlicher Autorität eine starke Hand in Anwendung der Mittel der Verwaltung zeigt, ist gegenüber der Gottlosenbewegung nach Anschauung der allerbesten Kreise des katholischen Volkes nicht stark genug. Das Mißtrauen dieser Kreise wächst in bedenklichem Maße.
Der Leiter der apologetischen Abteilung des Volksvereins schreibt mir am 18. Dezember Folgendes:
„Für besonders bedenklich halte ich die Sorglosigkeit der Regierungsstellen in Berlin. Ich beobachte in den letzten Monaten eine dauernde Mißstimmung bei Klerus und führenden Kreisen des Volkes gegen die Regierung, weil mit zu wenig Energie sowohl gegen die antireligiöse und kulturzersetzende Agitation Rußlands in[2136] Deutschland, wie auch gegen die immer mehr überhand nehmende Flut von Schmutz und Schund vorgegangen wird. Man wünscht von vielen Seiten …, daß durch schärfste Maßnahmen diesen tatsächlich unerträglichen Zuständen ein Ende bereitet wird. Bezeichnend für die Sorglosigkeit der Regierung ist z. B. auch die Tatsache, daß z. Zt. Lunatscharski, der bis 1929 Volkskommissar für das öffentliche Unterrichtswesen in der Sowjet-Union war, Deutschland bereist zwecks Abhaltung öffentlicher Vorträge über die Kulturideale des Bolschewismus.“
Zu der gut gemeinten Aufforderung des Herrn Reichsinnenministers, die Kirche wolle zum Frieden im Volke mahnen, bemerkt am 21. Dezember d. J. der Bischof einer der sturmvollsten Lande Westdeutschlands:
„Es kommt mir eigentümlich vor, daß die Regierung, die bisher der Agitation des Unglaubens und des staatlichen Umsturzes von allen gesitteten Ländern am meisten freie Hand ließ, nun die Bischöfe angeht, daß sie auftreten sollen. Es ist ganz unmöglich, daß durch die Freidenker- und kommunistische Presse das Volk nicht täglich mehr verhetzt werde. Diese Presse arbeitet mit Verleumdungen in ungeheurem Maße. Mir ist kein Zweifel, daß der Staat hier seine Pflicht bis jetzt nicht erfüllt hat.“
Aus dem Auslande sendet mir ein Herr, der Mitglied einer bedeutsamen Internationalen Organisation ist und große Sorge um die Entwicklung der kulturellen Dinge in Deutschland hat, am 20. November d. J. eine Darstellung von christentumsfeindlicher Arbeit in Deutschland, die ich in Abschrift beifüge2.
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Die ungezeichnete Schrift „Generale bolschewistische Mobilmachung in Deutschland – Die Mitschuldigen – Was ist zu tun?“ gab den dt.-sowjetischen Verträgen von Rapallo 1922 und Berlin 1926 die Schuld für die bolschewistische Infiltration Dtlds. und forderte die dt. Christen zur „generalen Mobilmachung gegen den Bolschewismus“ auf (R 43 I/140, Bl. 237–244). Ebenso hatte Pater Stephan Liedl in einem Schreiben vom 13.10.31 aus Lima den RK vor jeder Beziehung zur UdSSR gewarnt (R 43 I/140, Bl. 214–215). Der Vorsitzende der Katholischen Aktion Berlin, Klausener, protestierte am 8.12.32 gegen eine atheistische Sendung des Russischen Gewerkschaftssenders in dt. Sprache (R 43 I/140, Bl. 247–249). Das AA hatte durch die dt. Botschaft in Moskau gegen diese Sendung Verwahrung einlegen lassen (Aufzeichnung des AA vom 29.1.32, R 43 I/140, Bl. 267).
Das sind Beispiele dessen, was in diesen letzten Tagen mir als Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz von beachtenswerten Kennern des Volkslebens zugeht. Alles läßt die Schärfe der Krisis des Kampfes um Christus und seine Kirche wenigstens einigermaßen ahnen. Der Ruf des Propheten „Custos, quid de nocte?“3 ist mehr als je heute aktuell.
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Jesaia 21, 11: „Custos, quid de nocte? Custos, quid de nocte?“ (Wächter, ist die Nacht schon vorbei?).
Eure Exzellenz wissen, daß ich nicht kritisieren will. Die Prüfung der Frage, was möglich ist, steht im Staatsleben anderen Stellen zu4. Aber die Verantwortung zwingt mich zu offener Aussprache, für die ich um wohlwollende Aufnahme nicht vergeblich bitte5.
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Zu den Maßnahmen der RReg. gegen die Gottlosenbewegung siehe Dok. Nr. 733, P. 1.
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In seiner Antwort vom 20.1.32 führte der RK u. a. aus: „Wegen des übrigen Inhalts Ihres gefälligen Schreibens, dessen große Bedeutung für unser Volk ich mir durchaus bewußt bin, habe ich sogleich noch einige Erhebungen veranlaßt, nach deren Erledigung ich mir weitere Nachricht vorbehalten darf“ (Konzept in R 43 I/140, Bl. 245).
In tiefster Verehrung und treuer Ergebenheit
A. Card. Bertram.