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Rechtspolitische Lockerungen
Schon der sich im Übergang von Papen zu Schleicher ausdrückende Wille, zu einer Beruhigung des innenpolitischen Klimas beizutragen, hatte Anlaß zur Spekulationen gegeben, der Reichskanzler habe zur Stärkung seiner Verhandlungsposition gegenüber Parteien und Verbänden eine Amnestie für politisch motivierte, aus wirtschaftlicher Not oder sozialpolitischen Antrieben heraus begangene Straftaten in Aussicht gestellt. Der Reichskanzler verneinte zwar in der ersten Kabinettssitzung der neuen Reichsregierung eine Frage des Reichsjustizministers nach entsprechenden Vorleistungen, regte aber an, über Begnadigungsmaßnahmen nachzudenken und im bisherigen Staatsschutzrecht, das unter v. Papen der zahlreichen blutigen Ausschreitungen wegen noch verschärft worden war, „einige Lockerungen“ eintreten zu lassen161. Rechtspolitisch betrachtet stellte die von Sozialdemokraten, Nationalsozialisten und Kommunisten mittels unterschiedlicher Gesetzentwürfe162 aufgegriffene Materie nach Ansicht des zuständigen Fachministers „ein Unding“ dar163. Den Amnestievorschlägen zufolge sollten Zuwiderhandelnde gegen den § 218 StGB ebenso straffrei gestellt werden wie die Erzberger- und Rathenau-Attentäter und die Mörder von Potempa. Da eine so umfassende, je nach der politischen Interessenlage der Antragsteller in Einzelpunkten umstrittene Amnestie auch in die Kompetenz der Länderjustiz eingriff, war Widerstand zumindest von denjenigen Ländern zu erwarten, die nach dem „Preußenschlag“ eine weitere Hoheitsverlagerung zugunsten des Reichs nicht mehr hinzunehmen bereit waren164. Wenn sich das Kabinett v. Schleicher dennoch auf die Angelegenheit einließ und mit einem die Rechtssicherheit einigermaßen wahrenden Kompromißentwurf die Diskussion erfolgreich beeinflußte, geschah dies vor allem – wie Reichskanzler und Reichsjustizminister den intervenierenden süddeutschen Staats- und Ministerpräsidenten persönlich auseinandersetzten – aus „rein politischen“ Erwägungen: Eine Identifizierung der Reichsregierung mit den sachlich zutreffenden Ländereinwänden würde die Reichstagsparteien veranlassen, ihre bislang geübte Zurückhaltung aufzugeben und das Reichskabinett mit einem Mißtrauensvotum noch vor Weihnachten zu konfrontieren. Das aber würde den angestrebten gesamtgesellschaftlichen Entspannungsprozeß schon in seinem Ansatz vereiteln165. Im Ergebnis führte das Straffreiheitsgesetz vom 20. Dezember[LVII] 1932 zu der weitestgehenden nach 1918 gewährten Amnestie in Deutschland, die u. a. auch einem erklärten Pazifisten wie Carl v. Ossietzky die Freiheit vorzeitig zurückgab.
Tendenziell in die gleiche Richtung wiesen die Beschlüsse des Reichskabinetts, die zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen politische Ausschreitungen, gegen politischen Terror und über Sondergerichte erlassenen Notverordnungen und Gesetze im Bereich des Vereins- und Versammlungsrechts, des Presse- und Strafrechts entweder ersatzlos aufzuheben oder abschwächend zu ersetzen166. Die hinter diesen Maßnahmen stehende taktische Absicht wurde kaum verhehlt.
In einer öffentlichen Erklärung gab das Reichskabinett seiner Hoffnung Ausdruck, „daß die innerpolitischen Gegensätze in unserem Volke sich entspannen werden und daß durch die Beseitigung der bestehenden Ausnahmevorschriften die Entspannung gefördert wird“167. Dabei ging es der Reichsregierung nicht in erster Linie darum, „wieder zu normalen Rechtsverhältnissen zurückzukehren“ – auch wenn der Reichskanzler dies in seiner Regierungserklärung so formulierte –; denn neben das Zuckerbrot der Liberalisierung wurde sofort die Peitsche einer „scharfen Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes“ gelegt, die „fertig im Schubkasten“ liege und bei Bedarf sofort erlassen werden könne168. Die Warnung v. Schleichers war gleichermaßen an die Adresse der links- und rechtsradikalen Opposition gerichtet. Agitationsfreiheit einseitig den sich national gebärdenden Kräften zu gewähren, dazu war der Reichskanzler keineswegs bereit169. – Die Regierung Hitler sollte die angekündigte Verordnung als eine ihrer ersten Regierungsmaßnahmen erlassen.