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Nr. 342
Aufzeichnung des Ministerialrats Wever über den Besuch des Bayerischen Gesandten beim Reichskanzler. 17. August 1922, 13 Uhr
Der Bayerische Gesandte hatte um Empfang bei dem Herrn Reichskanzler gebeten und trug folgendes vor:
In München sei man noch nicht zu einem Abschluß gekommen. Die heftigsten Kämpfe hätten innerhalb der Fraktionen und der Koalitionsparteien geschwebt. Die Bayerische Volkspartei habe gestern abend beschlossen, sich auf den Boden der Vereinbarungen zu stellen unter gewissen Ergänzungen, d. h. Aufklärung der Erklärungen der Reichsregierung, die neulich mündlich gegeben seien, die sie aber schriftlich zu haben wünschten, ohne daß etwa ihre Veröffentlichung stattfinden sollte1. Die Mittelpartei habe sich dagegen auf einen ablehnenden Standpunkt gestellt und ihren Vertreter, den jetzigen Justizminister Gürtner, desavouiert. Graf Lerchenfeld versuche, die Mittelpartei zur Raison zu bringen und hoffe, daß ihm das gelingen werde2. Insofern würde es daher nicht möglich sein, daß die Sache bis zum morgigen Termin beigelegt wäre, und er bäte daher, doch noch einige Tage mit der Stellung des Verlangens zur Aufhebung der Verordnung durch den Herrn Reichspräsidenten zuzuwarten.
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Entschließung der BVP siehe Dok. Nr. 340 Anm. 1.
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Die Haltung der Mittelpartei wird auch aus einer Notiz verdeutlicht, die Wever am 18.8.22 nach einem Telefonat mit Minister Fehr verfaßte: „Herr Minister Fehr teilt soeben folgendes mit auf Grund eines Telefonats mit Münchener Parteifreunden: Die radikalen Anträge der bayerischen Mittelparteien seien gestern von den beiden anderen Koalitionsparteien abgelehnt worden; die Mittelpartei hätte daraus aber nicht die Konsequenz gezogen, sondern sei in der Koalition verblieben. Die getroffenen Vereinbarungen beträfen lediglich formale Sachen, die man mit der Reichsregierung ohne Schwierigkeiten zu regeln hoffe. Herr Minister Fehr reist heute abend auf Wunsch seiner Partei nach München und wird vorher noch bei Herrn Reichskanzler vorsprechen.“ (R 43 I/2261, Bl. 171).
Der Reichskanzler warf ein, daß ihm das nicht möglich erscheine. – Herr von Preger fuhr fort, daß es seiner Auffassung nach doch auf die Aufhebung der Verordnung ankomme und nicht auf den Termin. Wenn jetzt die Aufhebung der Verordnung von der Reichsregierung verlangt würde, so würde eine solche[1017] Lage eintreten, daß die Bayerische Regierung für nichts mehr garantieren könne. Die Stimmung im Lande sei leider ohne Zutun der Regierung außerordentlich erregt, und es hätte gestern der vollen Energie der Münchner Polizei bedurft, daß keine Ausschreitungen vorgekommen seien. Im Landtag seien Deputationen erschienen, die energisch das Festbleiben der Regierung gegenüber den Berliner Vereinbarungen verlangt hätten3. Graf Lerchenfeld tue alles, um der Vereinbarung zum Siege zu verhelfen. Der Herr Reichskanzler möchte aber doch die Schwierigkeit der Lage einsehen und nicht auf dem Schein des 18. bestehen. Im übrigen sei ja auch die Erklärung der Bayerischen Regierung damals abhängig gemacht worden von der Zustimmung des Ministerrats und der Koalitionsparteien, die sich eben noch nicht schlüssig gemacht hätten. Besser sei es doch zuzuwarten, als die ganze Vereinbarung zum Scheitern zu bringen.
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Am 17.8.22 um 13 Uhr wurde folgendes Telefonat aus München, vermutlich mit der Vertretung der RReg. in der Rkei aufgezeichnet (unsigniert): „Der Druck der Straße, der bereits gestern früh eingesetzt hatte, hat sich inzwischen verschärft. Unter anderem fand gestern abend eine hauptsächlich vom Ordnungsblock und den Nationalsozialisten inszenierte Demonstration auf dem Königsplatz statt, die vielleicht deswegen Interesse verdient, weil Herr von Kahr wie einst zur Einwohnerwehrzeit über den Zug Revue abhielt. In ähnlicher Weise wie die Stadt wird aber auch das platte Land bearbeitet. Das hiesige Landwirtschaftsministerium z. B. wird von Telegrammen überschwemmt, die Festigkeit gegen Berlin fordern. Die verantwortlichen Stellen bleiben offensichtlich stark unter der Pression, die ausgeübt wird, und geben ganz offen zu, daß hinter einem großen Teile der Mache verabschiedete Offiziere stehen. Es gebricht aber allgemein an Kraftmitteln, um dem Sturm Widerstand zu leisten. Unter den gleichen mißlichen Verhältnissen arbeiten auch die Koalitionsparteien im Landtag. Es scheint nunmehr so gut wie sicher, daß die Berliner Vereinbarungen seitens der Koalitionsparteien für unzureichend erklärt und weitere Veränderungen für erforderlich erklärt werden. Im Landtag scheint man anzunehmen, daß die Parteien sich darüber klar sind, daß Berlin zu neuen Verhandlungen die Hand nicht bieten kann und wird. Dieser Ansicht zufolge würde die heute zu erwartende Ablehnung der Abmachungen ein momentanes Zurückweichen vor der Straße bedeuten, und die Parteien wären sich auch darüber klar, daß der Bissen später, wenn der Lärm abgeflaut ist, doch geschluckt werden muß. An den verschiedenen verantwortlichen Stellen, mit denen zu sprechen ich heute Gelegenheit hatte, sah man ebenfalls vollkommen ein, daß neue Verhandlungen nicht in Frage kommen. Man hoffte dort aber ein Regiemittel zu finden, welches erlauben würde, ohne Verhandlungen aus dem Dilemma zu kommen. Die größte Sorge hat man vor einem ernsten innerpolitischen Konflikt, da bei evtl. Landtagsauflösung die Wahlparole der Partikularisten ‚Kampf gegen Berlin‘ eine verhängnisvolle Zugkraft haben würde. Falls es nun wirklich, wie es den Anschein hat, heute zur Ablehnung der Vereinbarungen kommen sollte, so wäre in praktischer Hinsicht zu empfehlen, daß die norddeutsche Presse sich weniger gegen Bayern und seine Koalitionsregierung als gegen die Tätigkeit des Ordnungsblocks und der Nationalsozialisten wendet. Danach wäre zu erwägen, in welche Form man die Unmöglichkeit, erneut zu verhandeln, kleidet, um den hiesigen Ultras, welche den Bruch der Berliner Regierung zuschieben wollen, das Spiel zu verderben. Es ist immerhin noch möglich, daß der heutige Beschluß der Parteien in sehr vorsichtiger Form abgefaßt wird, da dieselben sich über den Ernst der Lage durchaus klar sind, auf der anderen Seite aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung stehen.“ (R 43 I/2261, Bl. 152).
Der Reichskanzler erwiderte, daß er die Mitteilung zur Kenntnis nehme und sofort mit dem Herrn Reichspräsidenten sich in Verbindung setzen werde. Er werde dem Reichspräsidenten auch von den Schwierigkeiten Mitteilung machen. Er sehe, was für Elemente sich in Bayern an die Regierung herandrängten. Die Gewerkschaften seien nie so hervorgetreten wie in München diese radikalen Elemente. Er freue sich, daß die Münchner Polizei sich gehalten habe und daß die Bayerische Staatsregierung sich diesem Treiben widersetze. Wir[1018] hätten die Vereinbarungen getroffen, und die Parteien, insbesondere die Sozialdemokratie, hätten sich dahinter gestellt in der sicheren Erwartung, daß die Verordnung aufgehoben würde. Wenn nun für ein weiteres Zuwarten plaidiert würde – es komme ja nicht auf den Tag an –, aber wenn wir am 19. auch noch zögern, so würde das als ein Sieg jener radikalen Elemente in Bayern angesehen werden. Er wolle beim Herrn Reichspräsidenten nicht dafür plaidieren, daß die Verordnung mit dem Glockenschlag aufgehoben werden müsse, aber zugewartet werden dürfe nicht mehr.
Herr von Preger erwiderte, daß er voraussichtlich morgen bereits in der Lage sein werde, eine Erklärung bezw. Wünsche zu übergeben, zu denen die Reichsregierung noch Stellung nehmen müsse4. Von einer Verschleppung sei keine Rede. Die Bayerische Regierung arbeite wie wild seit Samstag, um die Koalitionsparteien zur Vernunft zu bringen. Die radikalen Elemente (Ordnungsblock usw.) hätten keinen Einfluß auf die Regierung. Graf Lerchenfeld habe gestern 6 oder 7 Deputationen – Studenten, Arbeiter, Bauern usw. empfangen und ihnen gegenüber seine Politik erklärt. Die Hauptsache sei doch, daß die Regierung Lerchenfeld nicht zum Opfer falle. Dies sei bisher nicht geschehen. Im Falle einer Auflösung der Koalition und vielleicht einer Landtagsauflösung würde ja eine ganz andere Regierung, die er nicht zu nennen brauche, ans Ruder kommen. Die Bayerische Regierung arbeite, was sie könne, um die Vereinbarungen den Parteien als tragbar erscheinen zu lassen.
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Am 18.8.22, 12.20 Uhr zeichnet Wever ein Telefonat LegR von Frerichs aus München wie folgt auf: „Die Verhandlungen der Koalitionsparteien seien gestern Nacht zu Ende gegangen. Der Ministerrat habe gleichzeitig Stellung genommen. Graf Lerchenfeld zeigte sich von dem Resultat sehr befriedigt, da er erreicht habe, daß das Berliner Protokoll vollständig aufrechterhalten bleibe. Er habe dies mit Erfolg zur Conditio sine qua non gemacht. Es handele sich nunmehr nur noch um einige Erläuterungen und Erklärungen zu gewissen Punkten des Protokolls. Um diese zu besprechen, reisten heute abend zwei Delegierte nach Berlin (Namen sind noch nicht bekannt). Ferner sei in allen Verlautbarungen der Ausdruck ‚Neue Verhandlungen‘ vermieden worden. Graf Lerchenfeld hofft bestimmt, daß der Zwischenfall in wenigen Tagen beigelegt sein würde.“ Um 14 Uhr zeichnet Wever folgendes Telefonat der Vertretung der RReg. in München auf: „Der Minister des Innern Schweyer und Minister Gürtner begeben sich heute Abend nach Berlin. Minister Schweyer sagte mir, daß er nicht ganz so optimistisch denke wie der Ministerpräsident. Die Delegation reise mit gebundener Marschroute, von der sie nicht abweichen könne. Grundsätzlich Neues werde freilich nicht verlangt werden. Die Einzelheiten der Instruktionen für die Delegation sind zu umfangreich, als daß der Minister sie mir genau mitteilen konnte; außerdem sind sie streng geheim, damit Presseindiskretionen verhindert werden. U. a. handele es sich z. B. um den Staatsgerichtshof, für dessen Kompetenz jetzt festgesetzt ist, daß gewisse Fälle in der Regel den Ländern überlassen werden. Dieses ‚in der Regel‘ möchte man präziser und juristischer fassen lassen, z. B. daß Vergehen stets den Ländern überwiesen werden und Verbrechen dem Staatsgerichtshof. Herr Schweyer ist wegen der Stimmung im Lande viel besorgter als der Ministerpräsident. Die Stimmung sei leider derart, daß eine erfolglos aus Berlin zurückkehrende Delegation mit Hurra begrüßt werden würde. Er bedauerte mir gegenüber, daß der Herr Reichspräsident in Hamburg sei, da er auf dessen Vermittlung besonders gebaut habe.“ Beide Aufzeichnungen tragen den Sichtvermerk des Reichskanzlers (beides R 43 I/2261, Bl. 172).
Der Reichskanzler wiederholte nochmals, daß er sofort mit dem Herrn Reichspräsidenten Rücksprache nehmen werde. Er betonte, daß auch der Reichspräsident in eine wirkliche peinliche Lage gerate, wenn der festgesetzte Termin für die Aufhebung zu lange überschritten würde. Der Reichspräsident würde auch bei denjenigen politischen Gruppen, die er auf den Boden der Vereinbarung[1019] gebracht hätte, in Mißkredit geraten. Im übrigen verstehe er die ultrarechtsgerichteten Kreise nicht mehr. Auch vom außenpolitischen Standpunkt aus gesehen, würden wir dadurch in eine gefährliche Situation gebracht werden.
Herr von Preger erwiderte, daß nicht die rechtsgerichteten Elemente allein erregt seien, sondern daß die Bewegung durch das ganze Land gehe. Deputationen von Bauern aus dem Allgäu, dem Oberland, von Franken, nicht nur aus dem Chiemgau, seien nach München gekommen, um der Regierung ein „Halt“ zuzurufen. Sie hielten die Regierung für schwach und wollten sie durch eine starke ersetzen, deren Namen ja wohl klar sei. Die Reichsregierung hätte seiner Ansicht nach ein großes Interesse, daß Graf Lerchenfeld bliebe. Es wäre im übrigen zu wünschen, und er hätte auch schon mit Direktor Müller darüber gesprochen, daß die Berliner Presse jetzt nicht mit Keulen dreinschlüge und etwa Bayern als vertragsbrüchig hinstellte. Schon die erste Veröffentlichung in Bayern hätte die Stimmung zu Ungunsten umgeschwenkt. Dies solle kein Vorwurf sein für die Reichsregierung, da die Veröffentlichung ja vereinbart gewesen sei. Bayern habe mit Rücksicht auf die Besprechungen mit dem Koalitionsparteien nicht so früh wie in Berlin das Abkommen in der von Berlin gewünschten Umstellung herausbringen können.
Der Reichskanzler schloß die Besprechung mit dem nochmaligen Bemerken, daß er sofort mit dem Herrn Reichspräsidenten sprechen und dem Herrn Gesandten im Laufe des Nachmittags eine Mitteilung zukommen lassen werde5.
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Handschriftlich hat der Protokollführer Wever folgendes unter das abgezeichnete Protokoll gesetzt: „Der Herr Reichskanzler hat hierauf telefonisch mit dem Herrn Reichspräsidenten gesprochen. Herrn von Preger soll geantwortet werden, daß der Herr Reichspräsident auf die Schwierigkeiten der Koalition aufmerksam machen und bitten läßt, auch seiner Lage Rechnung zu tragen.“