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[703]2) Finanzfragen.
Der Herr Reichskanzler legt dar, daß sich in den letzten Besprechungen der Reichsregierung zwei Meinungen gegenüberstanden, von denen die eine wesentlich und fast ausschließlich die Finanzgesundung auf die große Anleihe, die andere auf neue Steuern stellen wollten2. Inzwischen sei ein Mittelweg beschritten und als richtig befunden worden. Vor 10 Tagen habe der Herr Reichskanzler, als er von einem Urlaub weniger Tage hierher zurückkam, den Plan des Finanzministeriums vorgefunden, eine Anleihe im Betrage von 25 Millionen Mark aufzunehmen, der später allerdings weitere Anleihebegebungen bis zu 100 Millionen Mark folgen sollten, und zwar ohne Garantie und Steuervorrechte3. Inzwischen sei es gelungen. in vielfachen Besprechungen mit Banken usw. zum Ausschreiben einer großen Anleihe zu kommen, die zwei Aufgaben erfüllen solle, einmal eine wertbeständige Anleihemöglichkeit zu eröffnen, und die Papiergeldempfänger von der Flut in Effekten und Devisen abzuhalten, auch den Beamten die Möglichkeit wertbeständiger Anleihe zu eröffnen, zum andern ein gewisses Vertrauen in die Mark dadurch wiederherzustellen, daß jeder, was er bar erhalte, sofort wertbeständig anlegen könne und damit die große Gefahr eines völligen Versiegens des Lieferverkehrs zwischen Stadt und Land, aber auch sonst aufzuhalten. Insbesondere aber werde auch gehofft, Devisen aus dem Verkehr herauszuziehen, nicht wegen des um 50% günstigeren Zeichnungskurses4, sondern weil Handel und Verkehr in schnellere Bewegung geraten könnten. Voraussetzung für wirkliche Besserung der Verhältnisse aber sei, im Reichshaushalt die gute Ordnung und möglichsten Ausgleich zu schaffen. Die Wirtschaft hat in den mehrfachen Besprechungen, die er hier hatte und an denen der Herr Reichsminister der Finanzen teilzunehmen verhindert war, Erkenntnis der Lage und den Willen zu helfen gezeigt5.
Nun sei die Frage, ob unsere Finanzen dadurch in Ordnung gebracht werden sollen, daß man das Bestehen des Steuersystems erhalte und durch Vervielfältigungszahlen erträglicher mache, oder ob man andere Maßnahmen ergreifen solle. Daß die Einkommensteuer der Lohnsteuer angeglichen werden[704] müsse, nicht durch Vervielfältigungszahlen, sondern auf der Grundlage des Tageskurses, sei allgemeine Auffassung. Aber ebenso werde allgemein darauf hingewiesen, daß unser gegenwärtiges Steuersystem zu schwierig und verwickelt sei, aber auch viel[e] Entziehungsmöglichkeiten biete, als daß die Vervielfältigungszahl die Lösung bieten könne6. Aus der Wirtschaft sei der Gedanke einer Arbeitgebersteuer entfacht, aus der jeder Arbeitgeber auf den Kopf 1 Million zu entrichten habe. Die Steuer habe den Vorzug der Einfachheit und Klarheit, der Raschheit und Unentziehbarkeit7.
Minister Hermes hält einen völligen Stillstand der Inflation nicht für möglich. Das Defizit sei nicht zu beseitigen, wohl aber müsse man möglichste Verbesserung anstreben …
Minister Albert …
Minister Brauns: Die Arbeitgebersteuer sei jedenfalls nicht roher als das geplante Ruhropfer8. Worauf es ankomme sei, daß die Steuer möglichst rasch, möglichst hoch, möglichst regelmäßig eingehe. Die Regierung solle, wenn sie bei Prüfung den Gedanken billige, die Führung nicht aus der Hand geben, sondern selbst allenfalls bereits beschlossene Teile der Vorlage zurückziehen.
Reichskanzler Um zu einer Sanierung zu kommen, müsse man sich ganz auf die Notwendigkeit der Sanierung einstellen. Wenn man nicht das Ganze wolle, kann man nicht das Genügende erreichen. Zunächst müsse geprüft werden, wie die Vorlage des Finanzministeriums finanziell wirke. Er ersuche daher dringend, wie bereits mehrfach geschehen, um eiligste Darlegung der Finanzlage für August und September9.
Minister Becker: Solcher Überblick über die Finanzlage sei sehr erwünscht, die Frage aber, ob Arbeitgeber- oder Einkommensteuerzuschläge, solle davon nicht abhängig gemacht werden. Er hält die vorgeschlagene Steuerreform für gerechter. In der Theorie sei die Einkommensteuer zweifellos gerechter. Aber was von vornherein an ihr fehlerhaft war, potenziere sich mit der Geldentwertung. Die Arbeitgebersteuer sei nicht etwa von der ganzen Wirtschaft vorgeschlagen,[705] sondern bisher nur von einzelnen Banken und einzelnen Wirtschaftern, hinter denen erfahrungsgemäß nicht die ganze Wirtschaft stehe. Die Ziffern seien ungeheuer, je Kopf monatlich 1 Dollar = monatlich 1 Million Papiermark. Ein Betrieb mit 100 Arbeitern zahle also monatlich 100 Millionen, jährlich 1,2 Milliarden. Die Sozialdemokratie schlage ihre Einkommensteuer für den Arbeitgeber vor neben dem Ruhropfer10. Trotzdem würde er die Arbeitgebersteuer annehmen und vielleicht selbst vorschlagen, wenn sie parlamentarisch durchzubringen sei. Aber natürlich könne sie nicht neben das Ruhropfer gesetzt werden. Es sei möglich, die Landwirtschaft nach den sozialen Vorschlägen zu belasten.
Minister Oeser schildert die innenpolitische Lage und verweist besonders auf die Ansätze einer gewissen Ideenübereinstimmung von Kommunisten und Deutschvölkischen, wie sie heute in der „Roten Fahne“ zum Ausdruck komme11. Die anderen Parteien seien demgegenüber gelähmt. Die Sozialdemokratie erklärt, finanziell nicht mehr zu Flugblattverteilungen in der Lage zu sein. Er wolle sich aber mit den Parteien erneut ins Benehmen setzen. Die Arbeitgebersteuer sei wissenschaftlich höchst unvollkommen wie jede Kopfsteuer. Man müsse sie durcharbeiten. Sie sei ja auch nicht auf längere Zeit, sondern auf kürzeste Wirksamkeit gedacht.
Minister Hermes: Die schwebende Schuld mehre sich täglich um 2 Billionen. Es sei unmöglich, in den nächsten Monaten zur Bilanzierung zu kommen. Die Vorschläge des Reichsfinanzministeriums erbrächten aus Einkommen- und Körperschaftssteuer, einschließlich des Ruhropfers, für den August mehr als 20 Billionen12. Er werde Sonnabend [4. 8.] früh die Ziffern darlegen und zur Arbeitgebersteuer Stellung nehmen. Dagegen könne er nicht, wie Minister Albert vorschlägt, einen Gesetzentwurf für Arbeitgebersteuer in Aussicht stellen. Man solle nicht Handel und Banken mit einer gleich hohen Kopfsteuer belegen, wie die mit Kurzarbeit belastete Industrie.
Minister Becker verweist auf die notwendigen Folgen der Preisteuerung. So würden bei einer täglichen Kohlenhauerleistung von ½ Tonne Kohle sich die Selbstkosten je Tonne um 80 000 M erhöhen (?). Erhöhung für ½ Tonne eine Goldmark, also für eine Tonne zwei Goldmark = 500 000 Papiermark13.
Minister Albert verweist auf Vorzüge der Arbeitgebersteuer.
[706] II. Minister Hermes schlägt vor, durch Gesetzentwurf die monatliche Erhebung der Umsatzsteuer dermaßen zu beantragen, daß die Vorauszahlung für den nächsten Monat jeweils erfolge. Widerspruch erhebt sich nicht14.
Fußnoten
- 2
Vgl. dazu den Ministerrat vom 27. 7. (Dok. Nr. 227).
- 3
S. Anm. 4 zu Dok. Nr. 225.
- 4
Der Zeichnungskurs für Devisen liegt nach dem Anleiheprospekt bei 95%, ist also um 5% günstiger, nicht um 50%!
- 5
Besprechungen mit Vertretern der Wirtschaft hatten am 31. 7. und 1. 8. stattgefunden (s. Dok. Nr. 234, Anm. 1). Der am 3. 8. vom RFMin. der Rkei übersandte Prospekt der wertbeständigen Anleihe sieht eine Ermächtigung der RReg. vor, „die einzelnen Vermögenssteuerpflichtigen nach dem Verhältnis ihres steuerbaren Vermögens zur Aufbringung des Kapitalbedarfs heranzuziehen. Es haften also für Kapital und Zinsen dieser Anleihe anteilig die gesamte deutsche Wirtschaft, Banken, Handel, Industrie, Landwirtschaft sowie jeder, der über steuerpflichtiges Vermögen verfügt.“ (R 43 I/2439, Bl. 19, 20 f.). Ein entsprechender „Gesetzentwurf über die Sicherung und die steuerliche Behandlung einer wertbeständigen Anleihe des Deutschen Reichs“ wird am 9. 8. an den RT gesandt (RT-Drucks. Nr. 6142, Bd. 379), dort in den Ausschußberatungen geringfügig abgeändert (RT-Drucks. Nr. 6157) und schließlich am 14.8.23 als Gesetz verkündet (RGBl. I, S. 777).
- 6
Steuerreformen mit Hilfe von Vervielfältigungszahlen waren bereits in der Denkschrift Alberts und Henrichs vom 27. 7. kritisiert worden (Dok. Nr. 229); der am 27. 7. angenommene Gesetzentwurf über die Erhebung eines Rhein-Ruhr-Opfers basiert jedoch auf Vervielfältigungszahlen der Einkommen- und Körperschaftssteuern (vgl. Gesetzestext in RGBl. 1923 I, S. 774 ff.).
- 7
Über die geplante Kopfsteuer findet sich ein Vermerk RegR Wiensteins vom 3. 8., in dem es u. a. heißt: „Daß die Steuer unter Umständen ungerecht wirken kann, ist nicht zu verkennen. Das liegt aber in dem Wesen jeder Kopfsteuer. […] Eine andere Frage ist die, ob nicht die Arbeitgeber versuchen werden, die Steuer auf den Konsumenten oder Arbeiter abzuwälzen, d. h. die Steuer in ihren Arbeitslohn einzukalkulieren. […] Was die Höhe der geplanten Steuer anbelangt, so wird es darauf ankommen, ob und in welchem Umfange die neuen Steuervorlagen vom RT bewilligt werden. Jedenfalls wird eine Steuer von 1 GM, die der Arbeitgeber pro Woche und pro Arbeitnehmer zu entrichten hat, zu hoch sein.“ (R 43 I/1134, Bl. 161 f.).
- 8
Den Grundgedanken des Rhein-Ruhr-Opfers hatte RFM Hermes am 27. 7. dargelegt (Dok. Nr. 227, insbes. Anm. 16).
- 9
Zuletzt hatte StS Hamm am 1. 8. an den RFM geschrieben: „Der Herr RK hat mich beauftragt, dafür zu sorgen, daß zu den laufenden Besprechungen eiligst ein überschlägiger Überblick über die gegenwärtige und voraussichtliche Finanzlage des Reichs gegeben werden möge, insbesondere, um abzusehen, welche Voraussetzungen für eine Minderung der Inflation geschaffen werden müssen und können.“ (R 43 I/2357, Bl. 157). Eine derartige Übersicht wird dem Kabinett am 4. 8. vorgelegt und diskutiert (Dok. Nr. 238).
- 10
Das Finanzprogramm der SPD wurde vom Abg. Hertz am 26. 7. und 1. 8. in zwei Artikeln im ‚Vorwärts‘ dargelegt.
- 11
Die Nr. 176 der ‚Roten Fahne‘ vom 2. 8. bringt einen Aufsatz des prominenten Deutschvölkischen Graf Reventlow unter dem Titel „Ein Stück Weges?“ Die Annäherung zwischen Kommunisten und Deutschvölkischen hatte schon vorher Ausdruck gefunden in der Schlageter-Rede Karl Radeks vom 20.6.23 (abgedruckt in Ursachen und Folgen Bd. V, S. 141 ff.).
- 12
Die am 4. 8. vom RFM vor dem Kabinett erläuterten Übersichten sehen aus der Einkommen- und Körperschaftssteuer 10,8 Bio und aus dem Rhein-Ruhr-Opfer 16,3 Bio M für das gesamte 2. Quartal vom 1. 7. – 30.9.23 vor (R 43 I/2357, Bl. 162).
- 13
Diese Rechnung ist undurchsichtig. Bei 26 Arbeitstagen im Monat stellt sich die monatliche Förderung eines Kohlenhauers auf 13 t. Die vorgesehene monatliche Kopfsteuer von 1 Dollar = 4,2 GM würde die t Kohle also mit 1/13 Dollar = ⅓ GM = 80 000 M belasten (Kurs 1 Dollar = 1 Mio M).