1.143.1 (wir2p): [Wirtschaftliche und finanzielle Lage des Reiches.]

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[Wirtschaftliche und finanzielle Lage des Reiches.]

Exzellenz Havenstein: Der außenpolitische Druck, der auf Deutschland nach wie vor laste, habe die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Reichs weiterhin auf das Schwerste geschädigt. Insbesondere mit dem Scheitern der Bankierkonferenz habe die Geldentwertung sich fortgesetzt. Die Erklärung unserer Zahlungsunfähigkeit1, die Hetzreden Poincarés und der Tod Rathenaus hätten diese Bewegung verstärkt. Der Kurs des Dollars sei bis auf 2400 gestiegen und allmählich wieder auf 1400 zurückgegangen. Die Wirkung dieses Marksturzes nach innen habe sich in einer weiteren Angleichung der inneren Kaufkraft an die äußere Weltgeltung der Mark gezeigt, wodurch ungeheure Preissteigerungen eingetreten seien. Die Angstkäufe im Innern und der Auskauf von außen hätten diese Bewegung weitergetrieben.

Bei einer reinen Scheinhochkonjunktur der deutschen Wirtschaft sei die Arbeitslosigkeit weiter zurückgegangen. Die Zahl der Arbeitsuchenden sei heute nicht höher als die offenen Stellen2.

[1105] Durch die Verteuerung aller Rohstoffe und die Entwertung des Betriebskapitals sei eine gewaltige Kredit- und Kapitalnot eingetreten, die die Produktion und jede Kalkulation erschwerte. Vereinzelt mache sich daher bereits eine Verringerung der Produktion geltend.

In allerletzter Zeit sei das Herabgleiten der deutschen Wirtschaft durch das Zustandekommen der bekannten Vereinbarung mit Belgien aufgehalten worden3. (Reichsbankpräsident Havenstein schildert nunmehr die Entwicklung des Reparationsproblems in großen Zügen und die Verhandlung mit Belgien im einzelnen.)

In den drei Berichtsmonaten habe die Reichsbank Kreditansprüchen seitens des Reichs und des Verkehrs in einem Ausmaß standhalten müssen, wie nie zuvor.

Bemerkenswert sei, daß durch die starken Steuererhöhungen die Ausgaben des Reichs (ohne Reparationsleistungen) durch die Einnahmen mehr als gedeckt worden seien. In der Zeit vom April 1921 bis Juni 1922 hätten die Ausgaben für Reparation und ähnliches 151 Milliarden Papiermark betragen; die schwebende Schuld sei in dieser Zeit um 135 Milliarden Mark gewachsen. Demnach hätten aus laufenden Einnahmen nach Deckung der Reichsausgaben noch 16 Milliarden für Reparationsverpflichtungen bezahlt werden können. Diese günstige Entwicklung sei durch den letzten Valutasturz wieder in Frage gestellt. Alle Ausgaben seien sprunghaft gestiegen, so daß das Reich wie der Verkehr die Reichsbank auf das stärkste in Anspruch genommen hätten. Bei der Befriedigung dieser Ansprüche sei die Reichsbank an die Grenzen gebunden, die die Pflichten einer Zentralnotenbank ihr auferlegen. Nur wirklich verfügbare Gelder könne sie für diese Kreditansprüche zur Verfügung stellen, sie dürfe nicht durch Gewährung dauernden Anlagekredits fiktives Kapital schaffen. Der hierdurch gebotene wirtschaftliche Schmachtriemen hätte besonders gegenüber den Kommunen angewandt werden müssen.

Die Gesamtkapitalanlage der Reichsbank, also ihre Bestände an Wechseln, Schecks und Schatzanweisungen zuzüglich der Lombarddarlehen und der eigenen Effekten erfuhr in der Berichtszeit eine Steigerung von 176 Milliarden Mark auf 310,7 Milliarden Mark.

[1106] Der Bestand der Reichsbank an Schatzanweisungen stieg in den drei Berichtsmonaten um 102,8 Milliarden Mark, darunter allein von Mitte August bis Mitte September um 56,3 Milliarden Mark.

Das „Wechselkonto der Reichsbank vermehrte sich um mehr als 31 Milliarden Mark, nämlich von noch nicht 4 Milliarden Mark auf über 35 Milliarden.

Die Darlehnsbestände bei den Darlehnskassen, die seit Kriegsausbruch das Lombardgeschäft in der Hauptsache übernommen haben, stiegen von 18,7 Milliarden auf 41,7 Milliarden, also um 23 Milliarden Mark. Unter diesen Darlehen befinden sich 4,1 Milliarden Darlehen auf Waren und Aktien, nachdem seit dem Juli die Beleihungsgrenze der Aktien unter dem Zwang der Kreditnot erweitert worden ist (aber nicht für Spekulationszwecke).

Das Goldkonto hat sich nicht wesentlich verändert. Es stieg von 1003,9 Millionen auf 1004,9 Millionen. Das Golddepot bei der Bank von England in Höhe von etwa 50 Millionen Mark blieb unverändert.

Die Goldankäufe der Reichsbank für das Reich haben bisher im ganzen 29,8 Millionen Goldmark ergeben.

Die Silberankäufe für Rechnung der Reichsbank erbrachten in der Berichtszeit 30 000 kg. Trotzdem verminderte sich der Silberbestand von 900 000 kg auf 830 000 kg infolge von Verpflichtungen, die sich noch aus der Zahlung der ersten Milliarde an die Reparationskommission ergaben.

Auf der Passivseite der Reichsbankbilanz haben die fremden Gelder eine Vermehrung von 36,8 Milliarden Mark auf 67,4 Milliarden Mark erfahren.

Die starke Mehrbelastung der Reichsbank drückte sich hauptsächlich in einer Zunahme des Notenumlaufs aus, der sich von 155,3 Milliarden auf 271,6 Milliarden erhöhte. Die Erhöhung des letzten Monats allein betrug 66,3 Milliarden Mark.

Der Umlauf an Darlehnskassenscheinen nahm von 9,4 Milliarden Mark auf 13,8 Milliarden Mark zu, also um 4,4 Milliarden Mark.

Der Gesamtumlauf an Reichsbanknoten, Darlehnskassenscheinen und Reichskassenscheinen betrug am 15. September 285,6 Milliarden Mark, was eine Zunahme in der Berichtszeit um 120,6 Milliarden Mark bedeutet.

Dieser ungeheure Bedarf des Verkehrs an papierenen Zahlungsmitteln stellte Anforderungen an die Notenpresse, die technisch kaum zu bewältigen waren, zumal durch den elftägigen Streik in der Reichsdruckerei ein Ausfall von 14 Milliarden Mark eingetreten war. Neuerdings macht sich eine Erleichterung im Zahlungsmittelverkehr geltend, der zu der Hoffnung berechtigt, daß die Ultimozahlungen vom 1. Oktober keine Schwierigkeiten bieten werden. Die Reichsdruckerei ist leistungsfähiger gemacht, Hilfsnoten über 500 und 100 Mark wurden gedruckt, daneben sind Privatdruckereien in Berlin und Leipzig tätig. Für die nächste Zeit kann mit einer täglichen Ablieferung von 7–8 Milliarden Mark gerechnet werden.

Vorübergehend wurde die Genehmigung zur Ausgabe von Notgeld erteilt, bisher in einem Umfang von 1,5 Milliarden Mark, jedoch immer nur auf kurze Fristen und gegen volle Sicherheit.

Die Gesamtsumme der vom Reich begebenen Schatzanweisungen stieg in der Berichtszeit von 290,1 Milliarden Mark auf 350,6 Milliarden Mark, also um[1107] 60,5 Milliarden. Bei dieser Vermehrung der schwebenden Reichsschuld spielt die Hauptrolle die Belastung des Etats durch den Friedensvertrag; allein für Beschaffung ausländischer Zahlungsmittel zur Erfüllung des Friedensvertrages sind vom 1. April 1922 bis 10. September 1922 rund 40 Milliarden Mark aufgewendet worden. Hierin sind nicht enthalten die in Papiermark oder Schatzanweisungen an Inländer gezahlten Beträge für Auslandsschäden, für die Recoveryabgabe, für Sachlieferungen, für Besatzung und ähnliches.

Die ungünstige Wirkung der ungeheuren Vermehrung der schwebenden Schuld wurde dadurch verschärft, daß sie zusammenfiel mit der starken Kreditnot der Privatwirtschaft.

Von den von der Reichsbank im Verkehr untergebrachten Schatzanweisungen flossen in der Berichtszeit 42,3 Milliarden zur Reichsbank zurück. Hierzu treten die 60,5 Milliarden Schatzwechsel, die in der Berichtszeit neu begeben wurden, so daß sich der Bestand der Reichsbank an Reichsschatzwechseln in der Berichtszeit um 102,8 Milliarden Mark vermehrt hat. Demgegenüber sind im Verkehr nur noch 75,9 Milliarden Mark an Schatzwechseln von einem Gesamtbestande von 350,6 Milliarden. Die Reichsbank hat jetzt also fast 4/5 aller vom Reich begebenen Schatzwechsel in ihrem Portefeuille liegen.

In den Berichtsmonaten hat also die Reichsbank an Kredit gewähren müssen:

1. dem Reich

60,5 Milliarden,

2. dem Verkehr

42,3 Milliarden,

3. für Handelswechsel

31,7 Milliarden.

Zusammen mit den Darlehnskassen hat die Reichsbank also für einen Bedarf von 157,5 Milliarden Mark eintreten müssen.

Der Rückgang des Absatzes an Schatzanweisungen ist ebenso wie die Zunahme des Wechselportefeuilles der Reichsbank verursacht durch die schon seit einigen Monaten beobachtete, zuerst allmählich, in der Berichtszeit aber mit ungeheurer Wucht auftretende Kapital- und Kreditnot der deutschen Volkswirtschaft, die ihrerseits eng zusammenhängt mit der Entwertung der deutschen Mark.

Die deutsche Ausfuhr stieg im Jahre 1922 in Papiermark ständig. Sie stieg von 14,4 Milliarden Mark im Januar 1922 auf 35,6 Milliarden Mark im Juli. In Goldmark dagegen stellt sich die deutsche Ausfuhr im Januar auf 321,6 Millionen gegen 302,9 Millionen im Juli.

Infolge der fortschreitenden Währungsverschlechterung geben wir die Ausfuhren viel zu billig an das Ausland ab und müssen die notwendigen Einfuhren an Rohstoffen vielfach teurer bezahlen, als wir für verarbeitete Fertigfabrikate aus dem gleichen Quantum Rohstoffe im Export erlöst haben. Es zeigt sich also derselbe Kapitalschwund bei der deutschen Volkswirtschaft, wie bei dem einzelnen Unternehmer. Daher steigt die Einfuhr in stärkerem Maße als die Ausfuhr, so daß wir im Juli ein Monatsdefizit der Außenhandelsbilanz von über 10 Milliarden Papiermark hatten.

In welchem Umfange die für den deutschen Wirtschaftsbetrieb im wesentlichen in Betracht kommenden Kapitalien unter dem Einfluß der Geldentwertung zusammengeschmolzen sind, das zeigt z. B. die Tatsache, daß das Aktienkapital[1108] aller deutschen Aktiengesellschaften, das vor dem Kriege rund 17 Milliarden Goldmark Nennwert und ca. 25 Milliarden Kurswert betrug, heute nur noch einen Nennwert von rund 75 Milliarden Papiermark aufweist. Der Kurswert des gesamten deutschen Aktienumlaufs berechnet sich in Goldmark auf rund 2 Milliarden Mark, also auf weniger als 1/10 der Friedensziffer.

Es ist berechnet worden, daß 700 Millionen Dollar genügen, um sämtliche deutschen Aktienunternehmungen zu erwerben, während allein das Aktienkapital des Amerikanischen Stahl-Trust 1000 Millionen Dollar beträgt.

Ein weiteres Beispiel für den Kapitalschwund ist das folgende:

Die acht größten Berliner Banken haben zur Zeit ein Aktienkapital von 4500 Millionen Papiermark gleich 11 Millionen Friedensmark. 1913 betrug ihr Kapital – ohne Reserven – 1100 Millionen Goldmark. Berücksichtigt man bei dieser Gegenüberstellung, daß die Banken beträchtliche Reserven, Gebäudewerte und Beteiligungen an anderen Aktiengesellschaften haben, sowie, daß starke Abschreibungen vorgenommen sind, so beträgt immerhin ihr heutiges Kapital nicht mehr 10% des Friedenskapitals.

Bis Ende 1921 konnten Industrie und Handel sich die fehlenden Betriebsmittel am offenen Kapitalmarkt durch Ausgabe neuer Aktien verschaffen. Dies ist jetzt nur in sehr beschränktem Umfange möglich, weil die neuen Aktien keine Aufnahme mehr am Markt finden, sondern in den Portefeuilles der Banken verbleiben.

Bei der starken Kreditnot bedurfte es keiner Propaganda für die Wiedereinbürgerung des bewährten Kreditinstruments, des Wechsels. Der Widerstand dagegen wurde durch die Macht der Verhältnisse beiseite geräumt. In den Berichtsmonaten mußten an Wechselkrediten über 31 Milliarden Mark eingeräumt werden. Die Reichsbank dehnt den Begriff des Handelswechsels soweit wie möglich aus. Sie kann aber nicht neben den Regierungslasten auch noch den ganzen Verkehrsbedarf tragen. Daher kann sie nur kurzfristige Wechselkredite geben, muß den Verwendungszweck kontrollieren und darf nicht durch Gewährung dauernden Anlagekredits fiktives Kapital schaffen.

Aus der Entwicklung der Geldmarktlage ergab sich für die Reichsbank die Notwendigkeit, ihren Diskontsatz zu erhöhen. Sie erhöhte ihn im Juli auf 6%, im August auf 7% und im September auf 8%.

Im Anschluß hieran wurde die Entwicklung der Valuta dargestellt.

Eine bedauerliche Folge der Währungsentwertung ist die ständig zunehmende Fakturierung in Auslandswährung. Der Reichswirtschaftsrat hat sich nur mit Einschränkung gegen die Fakturierung in Auslandswährung im Inlandsverkehr ausgesprochen und hat sie für berechtigt anerkannt für den Teil der Waren, der aus importierten Rohstoffen entstanden ist. Diese Maßnahme wird im praktischen Verkehr nur äußerst schwer durchzuführen sein. Gegen Firmen, von denen ein Mißbrauch in Auslandsfakturierung bekannt wird, wird die Reichsbank mit Diskontverweigerung vorgehen.

Fußnoten

1

Siehe dazu Dok. Nr. 314 Anm. 6.

2

Den Begriff Scheinkonjunktur hatte Havenstein schon in früheren Kuratoriumssitzungen angewandt, so z. B. am 22.6.22, in der u. a. ausführte: „Daß aber die ganze lebhafte Beschäftigung doch nur eine Scheinkonjunktur ist, bei der auch hohe Betriebsgewinne den Rückgang und die Entwertung der Mark einholen können, bei der das Betriebskapital immer knapper und enger wird, die Kapital- und Kreditnot immer weiter steigt, habe ich in der letzten Sitzung bereits eingehend dargelegt, und ich darf heute nur darauf hinweisen. Die Gründe dafür, daß in Deutschland die Arbeitslosigkeit so gering ist, sind teils persönlicher, teils sachlicher Natur. – Auf dem persönlichen Gebiet liegen sie darin, daß uns zunächst jetzt über 1 Million ausländischer Arbeiter, die wir vor dem Kriege beschäftigten, fehlen, daß wir von allen Ländern und namentlich gegenüber unserem Hauptkonkurrenten England, wo die Arbeitslosigkeit ja sehr stark ist, – und in Amerika –, einen weit größeren Verlust im Kriege an Schwerbeschädigten erlitten haben, 0,3 Millionen, und endlich, worin wir uns allerdings auch mit den anderen Ländern finden, durch den Achtstundentag, wodurch die Arbeit selbst viel weniger intensiv und kürzer geworden ist und wodurch auch das Maß der Arbeit geringer wird. Auf dem sachlichen Gebiete liegt es daran, daß bei uns eine stärkere Produktion im Gang gehalten wird durch die Entwertung der Mark und des Geldes, die auf der einen Seite die fortgesetzten Ausverkäufe durch das Ausland bewirkt, ebenso zu periodischen Angstkäufen des Publikums führt. Die Waren müssen immer wieder neu hergestellt werden, die Aufträge werden dadurch aufs Neue vermehrt. – Es liegt ferner daran, daß in der sinkenden Valuta eine Exportprämie für uns liegt, die nicht imstande ist, gegenüber Antidumpingmaßnahmen des Auslandes unseren Export wesentlich zu heben, aber ihn doch in seiner bisherigen Stärke ungefähr zu erhalten. Und es liegt endlich daran, daß, weil die Kaufkraft unseres Geldes gegenüber dem Ausland so außerordentlich gering ist, hierdurch für Deutschland der Zwang entsteht, daß wir eine große Anzahl von Stoffen, die wir sonst nur einführten, heute selbst produzieren müssen, wozu ja die großen Anfänge im Kriege gemacht worden sind.“ (R 43 I /631 , Bl. 226-260, hier: Bl. 227-229).

3

Siehe dazu u. a. Dok. Nr. 375.

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