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Nr. 126
Vermerk des Ministerialrats Vogels über eine Unterredung des Reichskanzlers mit Vertretern des Deutschen Städtetags. 1. Oktober 1930
Der Reichskanzler empfing am 1. Oktober in Gegenwart des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers eine Abordnung des Städtetages. Erschienen waren: Präsident Mulert, Vizepräsident Elsas und die Oberbürgermeister Adenauer (Köln), Jarres (Duisburg), Landmann (Frankfurt/ Main), Beims (Magdeburg), Goerdeler (Leipzig). Ferner nahmen teil: StS Dr. Pünder, MinDir. Dr. v. Hagenow, MinR Vogels.
Die Erschienenen trugen unter Bezugnahme auf den soeben veröffentlichten Wirtschafts- und Finanzplan der Reichsregierung vor, daß sie darin zu ihrem lebhaftesten Bedauern ein Sofortprogramm, d. h. Hilfsmaßnahmen für die Gemeinden zur Überwindung des zweiten Halbjahres 1930/31 vermißt hätten. Die finanzielle Notlage der großen Mehrzahl der Gemeinden des Reichs sei ungeheuer groß, und zwar in der Hauptsache wegen des alle Vorausberechnungen übersteigenden und noch unaufhörlich wachsenden Finanzbedarfs für die Wohlfahrtsfürsorge. Sie führten aus, daß die Haushaltspläne vieler Gemeinden schon bei ihrer Verabschiedung nicht hätten ausgeglichen werden können. Die durch die Notverordnung vom 26. Juli beschlossenen neuen Steuerquellen1 seien kaum ausreichend, die bereits bei Aufstellung der Haushaltspläne vorhanden gewesenen Defizite abzudecken. Für die über die Voranschläge hinausgehende Belastung durch die Wohlfahrtslasten seien irgendwelche Mittel nicht vorhanden. Das Reich müsse daher durch Zuwendung neuer Steuerquellen oder durch Zuschüsse helfend eingreifen. Sie nannten eine Summe von mehreren hundert Millionen, die nötig sei. Andernfalls sei bei einer Reihe von Gemeinden der Konkurs und der Ausbruch von Unruhen wegen Nichtzahlung der Wohlfahrtsunterstützungsgelder in nicht ferner Zukunft unvermeidlich.
Oberbürgermeister Landmann bezifferte den nicht zu deckenden Fehlbetrag der Stadt Frankfurt a. Main auf rund 8 Millionen RM. Die Übersendung genauen Zahlenmaterials stellte er in Aussicht.
[478] Oberbürgermeister Goerdeler nannte für Leipzig folgende Zahlen: Schon jetzt seien 7000 Personen mehr in der Wohlfahrtsfürsorge als in den Berechnungen des Haushaltsplans 1930/31 vorgesehen seien. Für die Zeit vom 1. Oktober ab rechne Leipzig mit einem monatlichen Zuwachs von 1500 Personen, d. h. bis zum Schluß des Rechnungsjahres mit einem Zuwachs von 9000 Personen insgesamt, so daß am Jahresschluß 16 000 Personen über den Voranschlag hinaus in der Wohlfahrtspflege sein würden.
Der Finanzbedarf für 7000 Erwerbslose für 3/4 Jahre betrage 6 Millionen; der Finanzbedarf für weitere 9000 Personen für 3 Monate beziffere sich auf 3,5 Millionen, so daß der Mehrbedarf insgesamt 9,5 Millionen RM betrage. Von dieser Summe könne durch die auf Grund der Notverordnung erschlossenen Steuerquellen ein Betrag von 2 Millionen abgedeckt werden. Ein weiterer Betrag von 2,5 Mill. lasse sich durch Abstriche am Etat freimachen. Der durch die Erwerbslosenfürsorge entstehende Fehlbetrag berechne sich auf diese Weise auf 5 Mill. RM.
Durch Steuerausfälle und Mindereinnahmen der Städtischen Werke erleide Leipzig einen weiteren Ausfall von 2 Mill. RM. Dieser lasse sich durch Gehaltsverkürzung um 1,5 Mill. auf 0,5 Mill. RM ermäßigen. Das ungedeckte Defizit betrage mithin 5 Millionen + 0,5 Millionen = 5,5 Millionen RM.
Oberbürgermeister Jarres bezifferte den durch Rückgang der Einnahmen und die Mehrbelastung aus der Wohlfahrtspflege entstehenden Fehlbetrag des städtischen Haushalts in Duisburg auf 13 Millionen RM. Hiervon seien durch die Steuerquellen der Notverordnung im Rechnungsjahre 1930 900 000 RM und durch Abstriche an den Sachausgaben weitere 1 Million RM, insgesamt also 1,9 Mill. RM abzudecken. Für den Rest von 11,1 Millionen RM sei eine Deckung nicht vorhanden.
Ferner baten die Erschienenen um möglichst weitgehende Beteiligung der Gemeinden an den Vorarbeiten für die gesetzgeberischen Maßnahmen der Reichsregierung, weil neben dem Reich die Gemeinden die Hauptleidtragenden der allgemeinen Wirtschaftsnöte seien. Sie meinten, die jetzigen Zeiten glichen den Kriegszeiten, die schon damals dazu geführt hätten, daß das Reich die Gemeinden zu enger Mitarbeit, insbesondere auf dem Gebiete der Kriegsernährung, herangezogen habe.
Schließlich äußerten sie die Befürchtung, daß die Städte bei dem Rückgang der Überweisungen des Reichs von den Ländern benachteiligt werden würden und regten daher an, daß das Reich bei den Überweisungen die Beteiligungsquote der Städte gesetzlich festlegen möge.
Der Reichskanzler ließ den Erschienenen keinen Zweifel daran, daß an die Zuweisung neuer Steuerquellen an die Gemeinden nicht zu denken sei. Abgesehen davon, daß aus parlamentarisch-technischen Gründen mit einer schnellen Verabschiedung neuer Gesetze nicht gerechnet werden könne, ständen außer der Umsatzsteuer neue Steuerquellen nicht mehr zu Verfügung. Eine Erhöhung der Umsatzsteuer komme jedoch nicht in Betracht, da sie der Grundtendenz des Finanz- und Wirtschaftsplans der Reichsregierung zuwiderlaufen würde. Die Reichsregierung müsse mit allen Mitteln auf eine Preisentwicklung bedacht[479] sein, die Deutschlands Anschluß an den Weltmarkt nicht gefährde und unterbinde. Die Reichsregierung habe für die Nöte der Städte vollstes Verständnis und habe sich bei den Beratungen über ihr Programm sehr stark von der Rücksicht auf die Lage der Gemeinden leiten lassen. Den Gemeinden müsse es überlassen bleiben, sich nach dem Vorbild des Reichs durch äußerste Kürzung der Sach- und Personalausgaben in erster Linie selbst zu helfen. Insbesondere steht nichts entgegen, daß in den Ländern und Gemeinden die Gehaltskürzungen, soweit nötig, noch im Laufe dieses Jahres durchgeführt würden. Hierdurch würden sich sicherlich erhebliche Ersparnisse erzielen lassen. Der Reichsetat weise im laufenden Jahre starke Fehlbeträge auf, die nur durch einen Überbrückungskredit abgedeckt werden könnten2. Ob das Reich diesen Kredit vom Ausland bekommen werde, hänge ausschlaggebend von der beschleunigten Annahme und Durchführung des neuen Finanz- und Wirtschaftsplans der Reichsregierung ab. Wenn dieser Plan in irgendeinem wesentlichen Punkte scheitern würde, sei es überhaupt zu Ende. Er müsse daher größtes Gewicht darauf legen, daß auch die Erschienenen zu ihrem Teil dazu beitragen möchten, breiteste Schichten über den wahren Ernst der Lage aufzuklären und mit dahin zu wirken, daß das Programm der Reichsregierung baldigst verwirklicht werden könne. Vielleicht werde sich nach Annahme des Programms der Reichsregierung und der dadurch mit ziemlicher Sicherheit zu erwartenden Rückkehr des Vertrauens des Auslands in die Sicherheit der deutschen Verhältnisse im späteren Verlauf des Jahres die Möglichkeit eröffnen, durch den Reichsbankpräsidenten über einen Kredit zu Gunsten der Gemeinden mit ausländischen Geldgebern zu verhandeln.
Der Reichsminister der Finanzen bestätigte die Ausführungen des Reichskanzlers, daß irgendwelche Reichsmittel, die den Gemeinden über die im Wirtschafts- und Finanzplan vorgesehenen Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden könnten, nicht vorhanden seien. Auch er empfahl den Erschienenen, sich in der Hauptsache selbst zu helfen, und nach dem Vorbild des Reichs die städtischen Haushalte bis auf das äußerste Maß zurückzuschrauben. Er zweifle nicht, daß auch die Städte mehr als bisher sparen könnten. Erfahrungsgemäß werde mit wirklichen Ersparnissen erst dann Ernst gemacht, wenn der Konkurs vor der Türe stehe.
Der Reichsarbeitsminister erläuterte die im Programm der Reichsregierung angekündigten Maßnahmen zur Reform der Arbeitslosenhilfe. Er teilte mit, daß die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bereits angeordnet sei, und daß er die Krisenfürsorge mit Wirkung vom 1. November ab grundlegend ändern werde3. Durch diese Änderung werde eine Reihe von Gemeinden eine fühlbare Entlastung erfahren. Mehr zu tun, sei er nicht in der Lage. Er versprach auch, daß er den Spitzenvertretungen der Städte vor dem Erlaß der Verordnung zur Änderung der Krisenunterstützung Gelegenheit zur Stellungnahme geben werde.
Vogels