Text
Nr. 317
Entwurf eines Aufrufs gegen das Volksbegehren zum Young-Plan 10. Oktober 1929
R 43 I/1889, Bl. 39-41, hier: Bl. 39-41 Durchschrift1
An das deutsche Volk!
Seit mehr als zehn Jahren kämpft das deutsche Volk gegen die ungeheuren Lasten, die ihm der Vertrag von Versailles als Folge eines heldenhaft geführten, aber verlorenen Krieges auferlegt hat. Nach einer Epoche, in der die Siegerstaaten durch Anwendung einer ungehemmten Machtpolitik Deutschland ihren Willen aufzuzwingen suchten, einer Epoche, die Deutschland nahe an den Rand des Abgrunds brachte, gelang es endlich den deutschen Bemühungen, einen Umschwung herbeizuführen. Andere Methoden der Politik kamen zur Geltung und schützten unser Vaterland vor den drohenden Gefahren. Auf die Zeit der Gewalt und der einseitigen Diktate folgte die Zeit der Unterhandlungen und der Verständigung. Die Vernunft setzte sich durch. Deutsche Männer traten hervor, festen Herzens und klaren Kopfes, unbekümmert um den Fanatismus, der ihnen aus dem eigenen Volk entgegenschlug: diese Männer wiesen den Weg in die bessere Zukunft. Es zeigte sich immer mehr, daß nur auf diesem Wege das Ziel der Befreiung Deutschlands erreicht werden konnte.
[1033] Das Ergebnis dieser mühsamen, aber allein möglichen Politik ist, daß sich die Stellung Deutschlands unter den Völkern wieder gefestigt hat. Jetzt steht in kurzer Frist die Befreiung des Rheinlandes von fremder Besatzung bevor. Die Reparationen sollen um erhebliche Jahresbeträge herabgesetzt werden, die dem Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft zugutekommen werden. Die Souveränität der deutschen Finanzen und der deutschen Wirtschaft soll wiederhergestellt werden. Es sind Verhandlungen eingeleitet, um auch das Saargebiet alsbald wieder restlos mit dem übrigen Deutschland zu vereinigen. Gewiß sind damit noch nicht alle Aufgaben der deutschen Politik erfüllt. Aber es ist der Weg eröffnet, um den Wiederaufbau Deutschlands zu Ende zu führen und unserem Lande die Zukunft zu sichern, auf die es ein Recht hat.
Diese Entwicklung soll jetzt mit einem Male abgeschnitten werden. Ein Volksbegehren soll zustandegebracht werden, das die grundsätzliche Abkehr von der Politik der Verhandlungen und der Verständigung verlangt, und das den Anschein zu erwecken sucht, als ob Deutschland jetzt seine Wünsche und Forderungen den Siegern des Weltkrieges aufzwingen könnte. Deutschland soll sich lossagen von den Haager Vereinbarungen über die Befreiung des Rheinlandes; man glaubt, durch einseitige deutsche Beschlüsse die fremden Truppen aus den besetzten Gebieten herausbringen zu können. Deutschland soll die schwebenden Verhandlungen über die Erleichterung der Reparationslasten abbrechen und an den unerfüllbaren Bedingungen des Dawes-Planes festhalten, um so eine finanzielle und wirtschaftliche Katastrophe herbeizuführen, deren unabsehbare Folgen jeder einzelne Deutsche zu tragen haben würde. Ein solcher Plan ist keine ernsthafte, verantwortliche Politik, sondern ein frivoles Abenteuer2. Kein vernünftig denkender Deutscher, dem der Wiederaufstieg seines Vaterlandes am Herzen liegt, kann ein solches Vorhaben fördern. Trotzdem wagen die Urheber dieses Planes, ein Gesetz vorzuschlagen, das diejenigen Deutschen, die sich in verantwortlicher Stellung zu ‹einer anderen, vernünftigen›3 Politik bekennen, als gemeine Landesverräter behandelt und mit Zuchthaus bedroht, ein Vorschlag, so ungeheuerlich, daß er als Versuch schlimmster Volksverhetzung gebrandmarkt werden muß.
Das ganze „Volksbegehren“ ist auf einer offenkundigen Unehrlichkeit aufgebaut. Es stützt sich auf die unsinnige Behauptung, daß die bisherige deutsche Außenpolitik auf der Anerkennung der Kriegsschuld Deutschlands beruhe, und daß die deutsche Regierung den Kriegsschuld-Artikel des Versailler Vertrages nur schriftlich zu widerrufen brauche, um Deutschland von allen Lasten und Fesseln des Vertrages zu befreien. Niemals hat Deutschland den einseitigen Schuldspruch des Versailler Vertrages anerkannt. Jede deutsche Regierung hat dieses Unrecht in feierlichen Erklärungen zurückgewiesen. Das ist zuletzt noch geschehen in dem Aufruf, den am zehnten Jahrestage der Unterzeichnung des[1034] Versailler Vertrages der Herr Reichspräsident von Hindenburg und die Reichsregierungen an das deutsche Volk gerichtet haben. Unermüdlich haben daneben die berufenen deutschen Stellen die Welt über die wahren Ursachen des Krieges aufgeklärt. Der Erfolg dieser Arbeit tritt immer deutlicher zutage; der Glaube an das Märchen von der Alleinschuld Deutschlands schwindet immer mehr. Das „Volksbegehren“ würde diese hoffnungsvolle Entwicklung um Jahre zurückwerfen.
Das deutsche Volk hat jetzt zwischen Vernunft und Unsinn zu wählen. Wer nicht in törichter Verblendung den Bemühungen um den Wiederaufstieg des Vaterlandes in den Arm fallen will, muß diesem „Volksbegehren“ fernbleiben. Wer es unterschreibt, fördert die Zersetzung und die Versklavung des deutschen Volkes.
Fußnoten
- 1
Dieser der RReg. mit Eilbrief zugesandte Entwurf war vom AA und vom RIMin. vereinbart worden (R 43 I/1889, Bl. 38, hier: Bl. 38). Ein anderer Entwurf des RIMin., der nicht ermittelt wurde, scheint während der Kabinettssitzung am 10. 10. vorgelegen zu haben, siehe die Ausführungen des RWiM in Dok. Nr. 316, P. 11.
- 2
Gegen den letzten Teil des Satzes wandte sich der RWeM. „Viele der Anhänger des Volksbegehrens seien sicherlich nicht durch Frivolität, sondern aus ehrlicher Überzeugung zu ihrer Anschauung bewogen.“ Der RK und der RIM billigten die Streichung, ohne die Bedenken des RWeM zu teilen (Vermerk in der Rkei, 11.10.29; R 43 I/1889, Bl. 42, hier: Bl. 42).
- 3
Handschriftlich verbessert in: „der bisher erfolgreich betriebenen Verständigungs-“.