2.111 (str1p): Nr. 111 Besprechung der Sechserkommission mit General Degoutte in Düsseldorf vom 5. Oktober 1923, 17 Uhr

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 10). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

[474] Nr. 111
Besprechung der Sechserkommission mit General Degoutte in Düsseldorf vom 5. Oktober 1923, 17 Uhr1

R 43 I /453 , Bl. 4–16 Durchschrift2

Allgemein ist vorweg zu bemerken, daß die Franzosen der Besprechung offenbar große Bedeutung beimaßen und daß wahrscheinlich sowohl von Tirard wie auch Poincaré Anweisungen vorlagen, die deutsche Kommission sowohl in den äußeren Formen wie auch sachlich freundlich zu behandeln3. Die Kontrollstellen hatten Anweisung; Automobile und ein französischer Begleitoffizier holten uns in Vohwinkel ab; Pässe wurden sofort ausgestellt; abends kam ein Offizier und erbat die Pässe zurück, um die Zahl der Ein- und Ausreisestellen nach unseren Wünschen noch zu erweitern; ebenso wurden die infolge des Belagerungszustandes notwendigen Passierscheine für die Nacht uns unaufgefordert zugestellt; die Rückkehr erfolgte auf unseren Wunsch über Brackel, in Begleitung eines französischen Offiziers und in uns zur Verfügung gestellten Automobilen. – General Denvignes, den wir zuerst kurz sahen, war durchaus liebenswürdig, aber auch General Degoutte war entgegen unseren Erwartungen in der Form durchaus freundlich, ging bereitwillig auf die Erörterung aller Fragen ein und bemühte sich, in taktvoller Weise Fragen zu behandeln, die uns peinlich oder schmerzlich sein mußten. Er betonte wiederholt, daß er natürlich den Standpunkt der französischen und belgischen Regierung vertrete, aber unter den extraordinären (eigenartigen) Verhältnissen, unter denen sie sich auf deutschem Gebiet befänden, unsere gegensätzlichen Anschauungen durchaus verstehe. Er hatte sich tagszuvor dahin geäußert, daß er das deutsche Volk als degeneriert und insbesondere die Arbeiterschaft für hoffnungslos verlottert[475] ansehe4; der Entschluß der deutschen Industrie, mit aller Energie wieder zu intensiver, geordneter Vorkriegsarbeitsleistung zurückzukehren, schien ihn daher besonders angenehm zu berühren und die Verhandlungen von vornherein in die richtigen Bahnen zu leiten.

Wir wurden um ½5 Uhr vom Breitenbacher Hof durch einen französischen Hauptmann in Automobilen abgeholt zum Gen. Denvignes5, der sich nach der Stellung einzelner, ihm noch nicht bekannter Mitglieder der Kommission erkundigte und dann etwas plauderte, nachdem er vorher erklärt hatte, daß seine Anweisungen ihm nicht gestatteten, mit uns den Gegenstand unseres Besuches zu berühren. General D. fuhr dann mit uns zum Stahlhof. Da General Degoutte noch nicht aus Bonn zurückgekehrt war6, mußten wir etwas warten. Wurden dann von General Denvignes dem General Degoutte vorgestellt, worauf letzterer ersteren [!] in ziemlich schroffer Form bedeutete, uns allein zu lassen.

General Degoutte eröffnete die Unterhaltung mit der Erklärung, daß er die Besprechung als eine rein private auffasse und sich in dieser Auffassung mit uns in Übereinstimmung glaube. Er lasse sie ohne Zeugen stattfinden und sei auf unseren Wunsch auch bereit, den anwesenden Adjutanten, den er nur als Dolmetscher dort behalten habe, zu entfernen. Er stelle anheim, offen zu sprechen und alles zu sagen, was wir zu sagen wünschten; er würde uns am Schluß bitten, ihm zu sagen, welche Teile der Unterhaltung er nach Paris berichten solle und welche nicht; er würde sich genau danach richten.

Herr Geheimrat Klöckner legte dann dar, daß die rhein.-westf. Industriellen es nach Aufgabe des passiven Widerstandes als ihre Pflicht betrachteten, die Produktion so rasch wie möglich wieder aufzunehmen. Unsere Produktionskosten und damit auch unsere Preise seien viel zu hoch, die Kohlenpreise lägen z. B. ungefähr 16 Goldmark über den Weltmarktpreisen. Die Aufgabe sei daher, nicht nur zu produzieren, sondern auch wirtschaftlich und lukrativ zu produzieren. Bei den hierzu erforderlichen Entschlüssen müsse man bei einem der Grundstoffe, der Kohle, anfangen. Die Industrie sei der Überzeugung, daß es ein schwerer Fehler gewesen sei, den sozialistischen Einflüssen nachzugeben und nach einem verlorenen Kriege auch noch eine verkürzte Arbeitszeit einzuführen. Viele Schwierigkeiten hätten vermieden werden können, wenn mehr Kohle gefördert worden sei, und es müsse unsere Aufgabe sein, wieder genügend[476] Kohle zu fördern, um außer Deutschland auch Frankreich, Belgien, Holland und die Schweiz voll versorgen zu können. Der rhein.-westf. Bergbau habe sich daher entschlossen, am kommenden Montag die Vorkriegsarbeitszeit wieder einzuführen, d. h. 8½ Stunden einschl. Ein- und Ausfahrt für Untertagearbeiter und zehn Stunden für Übertagearbeiter. Die Industrie sei aber nicht in der Lage, ihre Absichten auszuführen, ohne die Unterstützung der Okkupationsmächte und das sei einer der Gründe unseres Besuches7.

General Degoutte unterbrach hier und erklärte, die Okkupationsmächte hätten am 11. Januar ds. Js. proklamiert, daß sie die deutschen Gesetze achten würden8; der Achtstundentag sei deutsches Gesetz; seine Einführung sei außerdem auf den Friedensvertrag zurückzuführen9, und er sei nicht in der Lage, in die Verhandlungen zwischen Arbeitgeber[n] und Arbeitnehmer[n] einzugreifen.

Geheimrat Klöckner erklärte sofort, daß General Degoutte ihn zu früh unterbrochen habe, und er sowohl wie auch Herr Stinnes haben im Laufe der Unterhaltung wiederholt scharf betont, daß die Industrie auch ihrerseits eine Einmischung der Okkupationsmächte in die Frage der Arbeitszeit nicht wünsche; es sei das eine Frage, die die Industrie mit den Arbeitern einerseits und mit der Regierung andererseits selbst regeln werde. Die Bitte um Unterstützung beziehe sich nur auf solche Punkte, wo die Eingriffe der Okkupationsmächte selbst die Ausführung der Absichten der Industrie verhindern.

Herr Geheimrat Klöckner führte dann aus, daß die Besatzung auch heute noch fortfahre, Gelder zu beschlagnahmen, Gleise aufzureißen, Beamte und Angestellte auszuweisen usw. Die Wiederaufnahme geordneter Arbeit sei nicht möglich, solange damit fortgefahren werde.

General Degoute erklärte, daß sie bei der Beschlagnahme der Gelder 2 französisch-belgische Ansprüche unterschieden. Man beschlagnahme

a)

Gelder für die Unterhaltungskosten der Truppe, die nach Auffassung seiner Regierungen Deutschland obliege.

Nachdem sich die wichtigsten Städte des besetzten Gebietes: Düsseldorf, Essen, Oberhausen, Mülheim, u. a. bereit erklärt hätten, diese Kosten aufzubringen, würden dort Beschlagnahmungen aus diesem Grunde nicht mehr stattfinden;

b)

Gelder, die zur Fortführung des passiven Widerstandes an nicht arbeitende Teile der Bevölkerung gezahlt würden. Sobald die Bevölkerung zur Arbeit und gar zu intensiver Arbeit zurückkehre, würden auch diese Beschlagnahmungen automatisch fortfallen. In der Auszahlung von Geldern an [477] Nichtarbeitende würde man aber eine Fortführung des Kampfes gegen Frankreich – Belgien erblicken, und hier mit Beschlagnahmungen fortfahren

.

Was die Aufreißung von Gleisen anbelangt, so erfolge diese nur, um den Abtransport der für Reparationszwecke beschlagnahmten Kohlenbestände zu verhindern. Sobald ihm die Sicherheit gegeben würde, daß die beschlagnahmten Bestände nicht gefährdet seien, stände nicht nur der Wiederherstellung der Gleise nichts entgegen, sondern dort, wo die Zechen bereit sein würden, die Bestände selbst aufzuladen, würde man auch die eigenen Verladekommandos und die Truppen zurückziehen, nur einen Zivilkontrollbeamten belassen und im übrigen die Zechen vollkommen räumen, um ihnen die Wiederaufnahme der Arbeiten zu erleichtern.

Herr Stinnes legte dann dar, daß aber auch die Freigabe der Bestände, und zwar sowohl auf den Zechen wie auch auf den Hütten, eine Notwendigkeit sei, wenn der General zu einem sofortigen Wiederaufleben des gesamten Wirtschaftslebens helfen wolle. Die Eisenindustrie kann nicht warten, bis wieder Kohle und Koks gefördert, bis wieder Schrott, Roheisen, Stahl, Halbfabrikate usw. erzeugt seien; man müsse zunächst auf die vorhandenen Bestände zurückgreifen können, um wieder in Gang zu kommen. Außerdem aber müsse man Geld haben, um die Inbetriebnahme finanzieren zu können, und auch dazu müsse man schleunigst über die Bestände verfügen können.

Die Verhandlung, die dann in der Hauptsache zwischen Herrn Stinnes10 und Herrn General Degoutte geführt wurde, sprang häufig von einem zum anderen Gegenstand über. General Degoutte faßte aber am Schluß der Unterhaltung die Hauptforderung der deutschen Kommission noch einmal zusammen, und nachstehend werden die Hauptpunkte angegeben, die bei ihrer Erörterung erwähnt wurden:

Fußnoten

1

Zur bisherigen Kontaktaufnahme der dt. Industrie mit der Micum s. Dok. Nr. 30 mit Anm. 1, daneben liefen Verhandlungen zwischen der dt. und frz. Industrie, von der jedoch die RReg. keine offizielle Kenntnis hatte (vgl. Anm. 8 zu Dok. Nr. 83). Demgegenüber ist der hier abgedruckte Bericht als Vermerk über das erste gemeinsame Auftreten gewählter Vertreter der im Bergbau-Verein zusammengefaßten Ruhrindustriellen gegenüber der Micum anzusehen. Der Sechserkommission gehörten an: A. Janus (Vorsitzender des Rhein.-Westf. Kohlensyndikats), P. Klöckner (Klöckner-Werke A. G.), G. Lübsen (Gutehoffnungshütte), O. v. Velsen (Hibernia), H. Stinnes (u. a. Stinnes-Zechen in Essen, Dortmunder Union, dt.-luxemb. Bergwerks- und Hütten A. G.), A. Vögler (dt.-luxemb. Bergwerks- und Hütten A.G.); s. dazu H. Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau III, S. 151.

2

Dieser mit „L“[übsen?] gezeichnete Aktenvermerk findet sich teilweise und mit geringen stilistischen Veränderungen bei H. Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau III, S. 161 ff. Wie die Reichskanzlei in den Besitz des Vermerks gelangt ist, läßt sich nicht ersehen; doch könnte er dem RK von H. Stinnes anläßlich ihrer Unterredung am 7.10.23 übergeben worden sein.

3

Als Auffassung der RReg. in dieser Hinsicht hatte „Die Zeit“, Nr. 228 v. 3.10.23, dargelegt: „Es sollen keinerlei Verhandlungen im besetzten Gebiet geführt werden, bevor auf die Anfrage, ob die französische und die belgische Regierung geneigt sind, in Verhandlungen über das besetzte Gebiet einzutreten, eine Antwort vorliegt. An der belgischen und der französischen Regierung liegt es nunmehr die letzten Hindernisse für die allgemeine Arbeitsaufnahme im besetzten Gebiet aus dem Wege zu räumen.“ Bei den Industriellen hat vor der hier wiedergegebenen Verhandlung die Absicht bestanden, eine Abstimmung mit dem RK herbeizuführen; s. Vermächtnis I, S. 343.

4

Nach einem Bericht der „Zeit“ vom 5.10.23 hatte Degoutte einer Gewerkschaftsabordnung als Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Arbeit genannt: „1. Abschaffung des Betriebsrätegesetzes; 2. Einführung der zehnstündigen Arbeitszeit und der Akkordarbeit; 3. Aufnahme jeder zugewiesenen Arbeit widrigenfalls Ausweisung erfolgt; 4. für die Eisenbahner gelten die bereits bekannten Bedingungen; 5. Unterdrückung jeder Auflehnung mit Waffengewalt; 6. Verschärfung des Stadtschutzes.“ In einem Schreiben vom 14.10.23 spricht der Kommandant des Düsseldorfer Brückenkopfes, General Simon, davon, „daß die Haltung des deutschen Mobs, welche freiwillig in Arbeitsfeiern beharren [!], das Haupthindernis für die Wiedereinrichtung eines normalen Lebens darstellt“ (R 43 I /453 , Bl. 69).

5

Devingnes war Leiter der Contrôle de l’administration Allemande in Düsseldorf. Im August 1923 hatte er mit Otto Wolff verhandelt.

6

Degoutte hatte mit Tirard und belgischen Vertretern in Bonn eine Besprechung geführt. „Diese Konferenz habe sich in der Hauptsache mit der Frage der Naturalleistungen und der Probleme der ausgewiesenen Beamten befaßt und verschiedene Vorschläge ausgearbeitet, um, sobald eine rechtmäßige deutsche Regierung ans Ruder kommt, sie den in Frage kommenden Regierungen zugehen zu lassen.“ („Die Zeit“, Nr. 232 v. 7.10.23).

7

S. zu den Ausführungen Klöckners den Beschluß der Vertreter des Ruhrkohlenbergbaus in Unna-Königsborn vom 30.9.23, in: Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1081; Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau III, S. 378 f.; vgl. hierzu auch Stinnes’ Äußerung gegenüber US-Botschafter Houghton vom 21.9.23, in: Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie, S. 65 f.

8

S. Art. 1, Abs. 2 der VO der frz. Besatzungsmacht über die Verhängung des Belagerungszustandes vom 11.1.23 in: Ursachen und Folgen V, S. 19; Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau III, S. 317.

9

Eingeführt wurde der Achtstundentag durch die Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit für gewerbliche Arbeiter vom 23.11.18 (RGBl., S. 1334 ). Im Versailler Vertrag wird der Achtstundentag in der Anlage zu Art. 426, in der das Programm der Washingtoner Arbeitszeitkonferenz aufgestellt ist, behandelt; hierauf dürfte sich Degoutte bezogen haben.

10

„Die Zeit“, Nr. 232 v. 7.10.23, meldete unter der Überschrift „Stinnes verhandelt im Ruhrgebiet“ mit dem Datum 6. 10.: „Der Düsseldorfer Berichterstatter der ‚Chicago Tribune‘ versichert, daß Hugo Stinnes, der gestern in Düsseldorf eintraf, sich in Begleitung eines französischen Offiziers zu Krupp von Bohlen ins Gefängnis begab. Die beiden Ruhrmagnaten plauderten eine Stunde. Nach der Unterredung begab sich Stinnes in das französische Hauptquartier zu General Degoutte, dem er ein Programm unterbreitete, das er mit Krupp im Gefängnis ausgearbeitet hatte. Der Korrespondent fügt hinzu, daß Stinnes von verschiedenen anderen Industriellen begleitet war und jedes Interview ablehnte. – Wie die Telegraphen-Union in Berlin von gut unterrichteter Seite erfährt, trifft es zu, daß Hugo Stinnes sich ins Ruhrgebiet begeben hat, um dort Verhandlungen über die Wiederaufnahme der Arbeit und die Ingangsetzung der Betriebe zu führen.“

Extras (Fußzeile):