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Nr. 247
Sitzung von Reichskabinett und beteiligten Ländern über Fragen des besetzten Gebiets. 13. November 1923, 15 Uhr
R 43 I/189, Bl. 333–3381
Anwesend: von der Reichsregierung: Stresemann, Fuchs, Luther, Jarres; StS Kempkes, Meissner; GeneralKom. Schmid; MinDir. Kempner, Dilthey; MinR Claußen, Mayer, Graf Adelmann, Wolf; für Preußen: MinPräs. Braun; MinDir. Nobis, Bail; RegPräs. Momm; für Bayern: MinR Sperr; für Baden: StPräs. Köhler, Gesandter Nieser; für Hessen: StPräs. Ulrich, IM von Brentano, Gesandter von Biegeleben; für Oldenburg: MinPräs. von Finckh; Protokoll: RegR Wienstein.
Der Reichskanzler Es war notwendig, diese Besprechung anzuberaumen, weil Papiermarkbeträge mit Einführung der Rentenmark nicht mehr gedruckt werden dürfen oder etwas später nicht mehr möglich ist, Zahlungsmittel in das besetzte Gebiet zu bringen2. Ich brauche nicht besonders zu betonen, daß das besetzte Gebiet so lange wie möglich zu halten ist, aber die Schwierigkeiten der Lage sind doch nicht zu verkennen. Frankreich verhandelt mit der Industrie, nicht mit der Reichsregierung. Wenn vielfach die Behauptung verbreitet worden ist, daß die Herren Stinnes und Vögler ohne Wissen oder sogar gegen den Willen der Reichsregierung Verhandlungen pflegen, so ist diese Behauptung unzutreffend3.
Aus der Versammlung heraus sind vielfach Angriffe gegen den Fünfzehnerausschuß gerichtet worden. Die Idee dieses Ausschusses stammt jedoch aus dem besetzten Gebiet selber und sie wurde mir vorgetragen bei meiner Anwesenheit in Hagen4.
[1052] Preußischer Ministerpräsident5: Bis jetzt hat man sich m. E. gescheut, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Dieser Weg ist falsch. Frankreich hat mit seiner Taktik gesiegt; sein Ziel ist politische und wirtschaftliche Beherrschung des besetzten Gebietes. Eines ist sicher: wir können nicht mehr an das besetzte Gebiet Zahlungen leisten, wir sind nicht in der Lage, dort Hoheitsrechte auszuüben.
Was soll geschehen, um dem Rheinlande zu helfen? Wir sind m. E. nicht mehr in der Lage zu helfen. Wir müssen gewissermaßen das besetzte Gebiet seinem Schicksal überlassen. Es ist unmöglich, einer Kommission so weitgehende Befugnisse zu übertragen, wie sie die Reichsregierung plant6. Das würde nichts anderes als die Einsetzung einer Regierung bedeuten. Alles, was im besetzten Gebiet nunmehr in politischer Hinsicht geschieht, muß als erpreßt erscheinen.
Der Reichskanzler Ein Beschluß der Reichsregierung, einer Kommission gewisse Befugnisse zu übertragen, wäre noch nicht gleichbedeutend mit der Sanktion einer Abtrennung. Notwendig ist für die Reichsregierung, einen Aufruf an alle Staaten zu erlassen, der dahin geht, daß alle Reparationsleistungen eingestellt werden, weil der Versailler Vertrag gebrochen worden ist. Der Standpunkt der Reichsregierung ist der: Es handelt sich im Westen um ein okkupiertes Gebiet, auf das die Reichsregierung keinerlei Macht ausüben kann. Dann aber muß wenigstens ein Gremium von Männern geschaffen werden, welches mit den Besatzungsmächten Verhandlungen führen kann.
Gesandter v. Preger7 [!]: Was der Herr Reichskanzler ausführt, muß zu einer Trennung des besetzten Gebietes vom unbesetzten Deutschland führen. Wenn man einem Ausschuß so weitgehende Vollmachten einräumt, dann läuft das auf eine Zustimmung zur Separation hinaus. Im übrigen muß ich wiederum betonen, daß der Fünfzehnerausschuß auch nicht richtig zusammengesetzt ist. Pfalz und Rheinland gehören weder wirtschaftlich noch sozial zusammen.
[1053] Reichsminister für die besetzten Gebiete Der passive Widerstand hat schließlich nicht mit einem Siege geendet. Wir müssen der Bevölkerung des besetzten Gebietes eine gewisse Ermächtigung geben. Wir müssen der Bevölkerung Wege weisen, die gegangen werden können. Unsere Pflicht ist es, dafür zu sorgen, daß wir dem Rheinlande eine Existenz ermöglichen.
Staatspräsident von Hessen8: Auch die Länder müssen an einem Ausschuß beteiligt werden, der verhandeln darf. Wenn man im übrigen einem Ausschuß die Befugnis zu wirtschaftlichen Verhandlungen gibt, so läßt es sich nicht vermeiden, daß der Ausschuß auch auf politischem Gebiet verhandelt.
Ich bin der Überzeugung, daß die Erwerbslosenunterstützungen nicht grundsätzlich am 25. November d. J. aufhören müssen. Es muß der Reichsregierung möglich sein, einen Ausweg zu finden, der es ermöglicht, Zahlungen weiterzuleisten. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Steuern weit rigoroser veranlagt und beigetrieben werden können,
Staatspräsident von Baden9: Ich glaube den Worten des Reichsministers der Finanzen, daß die Erwerbslosenzahlungen am 25. November aufhören müssen. Der Zusammenbruch, der dann entsteht, ist allerdings riesengroß. Die großen innerpolitischen Schwierigkeiten, in welche die Länder kommen werden, berücksichtigt die Reichsregierung nicht in genügender Weise. Ich kann nur versichern, daß Baden sich um einen Ausschuß nicht kümmern wird.
Hessischer Minister des Innern: Der Ausschuß bedeutet nichts anderes als eine Ausschaltung der Länder. Weshalb aber sollen die Länder nicht selber verhandeln können? Sind denn Verhandlungen so ganz unmöglich und aussichtslos? Auch das Reich hat mit Verhandlungen, wenigstens auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens, Erfolge gehabt10.
Der Reichskanzler Wenn das Reich den eben erwähnten Erfolg gehabt hat, so liegt es daran, daß das Reich ausschließlich der gebende Teil war. Es lag im dringendsten französischen Interesse, den Betrieb auf der Regiebahn wieder in Gang zu bringen und deshalb Eisenbahnmaterial von uns zu erhalten.
Was soll geschehen, wenn man nicht gewisse Rechte auf einen Ausschuß delegiert? Es ist doch ganz unmöglich, daß die einzelnen beteiligten Länder mit Frankreich verhandeln. Auch eine Notenbank im besetzten Gebiet kann das Reich nicht ohne weiteres konzedieren.
Ministerpräsident von Oldenburg v. Finckh: Oldenburg ist mit seinem Birkenfelder Bezirk am besetzten Gebiet beteiligt. Wenn Birkenfeld auch nur ein kleines Land ist, so müssen wir doch unbedingt zu Verhandlungen zugezogen werden.
Ministerialdirektor Bail machte einige Ausführungen über die vom Rheinland verlangte Notenbank. Er wies darauf hin, daß eine Erleichterung durch die Notenbank zunächst kaum geschaffen werden könne. Voraussichtlich würden[1054] vor zwei bis drei Monaten Noten von der neuen Bank nicht ausgegeben werden können. Diese Noten würden auch nur allmählich in den Verkehr hineinkommen11.
Reichsminister des Innern Ich darf kurz zusammenfassen. Die Leistungen ins besetzte Gebiet von seiten des Reichs müssen bald aufhören. Den vom Ministerpräsidenten Braun vorgeschlagenen Weg, das Rheinland sich selber zu überlassen, halte ich nicht für möglich. Es wird notwendig sein, mit den Besatzungsmächten zu verhandeln. Das Reich kann nicht von sich aus zu Verhandlungen schreiten. Die Bevölkerung selber muß verhandeln, gestützt vom Reich. Erweiterung der Selbstverwaltung, aber Festhalten am Reich, das muß das Ziel der Verhandlungen sein. Das besetzte Gebiet müßte auch eigene Steuerquellen sich erschließen können. Die Reichshoheit muß wenigstens auf dem Papier bestehen bleiben.
Hessischer Gesandter (Freiherr v. Biegeleben): Die Ausführungen des Reichsministers des Innern bedeuten einen neuen Staat. Wenn eine Kommission mit den Besatzungsmächten verhandelt, dann darf sie nur über wirtschaftliche Dinge Verhandlungen führen. Die Länder müßten in Übereinstimmung mit der Reichsregierung mit den Franzosen Verhandlungen führen können.
Der Reichskanzler machte zunächst noch Mitteilung davon, daß die Verhandlungen von Stinnes und Vögler mit den Franzosen deshalb gescheitert seien, weil die Franzosen 60% der Rheinflotte verlangt und gefordert hätten, daß die von den Ruhrindustriellen an Frankreich gelieferte Kohle auf „Reparationskonto und auf andere Verpflichtungen“ angerechnet würde12. Er teilte sodann mit, daß die Herren des Fünfzehner Ausschusses folgende Entschließung ihm übermittelt hätten:
1. | die politische Entscheidung liegt beim Kabinett, |
2. | der Ausschuß setzt die begonnenen Verhandlungen fort, |
3. | der Ausschuß bittet, die außenpolitische Haltung der Reichsregierung noch nicht bekanntzugeben13. |
Zu letzterem Punkt (3) bemerkte der Reichskanzler allerdings, daß er persönlich sich schon dem französischen Botschafter gegenüber in dieser Hinsicht festgelegt habe.
Hierauf machte der Reichskanzler von einem Telegramm des deutschen Botschafters in Washington Mitteilung, dessen Inhalt besagte, daß die Leistungen aller charitativen Verbände in den Vereinigten Staaten an Deutschland sofort aufhören würden und daß ein Weizenkredit an Deutschland aussichtslos sei, wenn in Deutschland eine Rechtsdiktatur ans Ruder käme14.
Zum Schlusse faßte der Reichskanzler die Diskussion folgendermaßen zusammen:
[1055] Zahlungen in das besetzte Gebiet sind nach Auffassung des Reichskabinetts und der Preußischen Staatsregierung nur noch für eine begrenzte Zeit möglich. Die Ansichten gehen vielleicht darüber auseinander, wann die Zahlungseinstellungen notwendig sein werden.
Da die Länder sich entschieden gegen eine Delegation der geplanten Befugnisse an eine Kommission aussprechen, muß das Reichskabinett erneut Stellung nehmen und einen Ausweg suchen. Vor endgültiger Entscheidung müssen die Länder gehört werden. Die Reichsregierung beabsichtigt, einen Aufruf an alle Mächte der Erde zu erlassen, daß Reparationsleistungen eingestellt werden müßten, da der Versailler Vertrag gebrochen sei15.
Fußnoten
- 1
Abgedruckt bei R. Morsey, Die Rheinlande, Preußen u. das Reich 1919–1945. Zu dieser Sitzung liegt eine Parallelaufzeichnung von Jarres über die Äußerungen von Braun, v. Preger, Ulrich und Köhler vor (BA: NL Jarres 6).
- 2
Vgl. dazu die Ausführungen des RFM in der Besprechung um 11 Uhr (Dok. Nr. 245).
- 3
S. die Erörterungen zu den Micum-Verhandlungen, 8. u. 9.10.23 (Dok. Nr. 120, 121).
- 5
Hier heißt es in der Aufzeichnung Jarres’: „Braun: Klarheit! Franzose hat noch und [!] taktisch gesiegt: politisch und wirtschaftlich. Papiermark im Abgrund ersoffen. Rentenmark würde folgen. Wir müssen d. Strich ziehen. Sorge zu überlassen [dem], der tatsächlich herrscht. Wir sind nicht mehr in der Lage, den Rheinländern zu helfen. Aber wir können sie auch nicht vor. d. Gewissenskonflikt bewahren; kann nicht Parole geben, daß Staat entsteht. Preußen kann diesen Schritt nicht tun. Art. 48 nicht anwendbar, sondern nur auf Grund v. Reichsgesetz u. Landesgesetz. – Preußen kann nur hinnehmen, was geschieht. Alles, was geschieht, muß als erpreßt dastehen. Wir werden nicht Stab brechen.“ MinR Sperr teilte dem bayer. Min. d. Äußeren als Äußerung Brauns mit: „Auf die Frage, was solle geschehen, könne er nur sagen: wir sind nicht mehr in der Lage überhaupt noch zu helfen. Die rheinische Bevölkerung müsse selbst sehen, wie sie zu einem staatlichen Eigenleben komme. Das angenehmste sei, wenn dies ohne Verletzung deutscher Gesetze möglich sei. Wir könnten aber auch die rheinische Bevölkerung nicht von diesem Gewissenskonflikt befreien, nicht zustimmen zu Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, einen selbständigen Staat zu schaffen. Wir können ihn allerdings nicht verhindern, würden aber mit einer Zustimmung unsere Stellung der Welt gegenüber außerordentlich schwächen, die Aussicht aufgeben, diese Gebiete wieder zum Reich zu bringen. Wir würden außerdem den Franzosen einen Teil der Verantwortung abnehmen und auf unsere Schulter nehmen“ (Geh.St.A München: Gesandtschaft Berlin 1421; Hinweis v. H. Schulze).
- 7
Dazu lautet die Aufzeichnung Jarres’: „Nicht bevollmächtigt. Widerspruch Stresemann/ Braun. 15er-Ausschuß: selbständiger Staat. Niemals darf unter unserer stillschweigenden od. ausdrückl. Zustimmung Staat entstehen. Ermächtigung ausgeschlossen.“
- 8
In der Aufzeichnung von Jarres heißt es: „Länder müssen Einfluß auf Ausschuß haben. Im Rahmen des deutschen Reiches Einnahmen schaffen.“
- 9
Zu den Ausführungen Köhlers ist in der Aufzeichnung von Jarres notiert: „Daß Reich nicht mehr kann, nehme ich an. Innerpolitische Gefahren, wenn Eröffnung erfolgt. Baden wird sich um Ausschuß nicht kümmern. Offenburg?“.