Text
Nr. 88
Das Badische Staatsministerium an den Reichskanzler. Karlsruhe, 28. September 1923
R 43 I/2703, Bl. 198–199 Durchschrift1
Verhängung des Ausnahmezustandes für das Reichsgebiet.
[I.] An den Herrn Reichspräsidenten Ebert in Berlin:
Die Verhängung des Ausnahmezustandes für das ganze deutsche Reichsgebiet hat bei der Badischen Regierung sehr überrascht. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß in ganz Baden nach den in der letzten Woche vor sich gegangenen Auseinandersetzungen mit kommunistischen Putschisten1a völlige Ruhe herrscht und der Vollzug des Ausnahmezustandes, wie Herabsetzung der Feierabendstunde, Versammlungsverbot usw. bei der Bevölkerung dieserhalb nicht verstanden wird, legt die Badische Regierung großen Wert auf eine möglichst baldige Aufhebung der Ausnahmeverordnung. Erst wenn „der Fall gegeben“ ist, pflegt man hierzulande zuzugreifen. Hätten Nationalsozialisten und Deutschvölkische in Baden etwa den Versuch gemacht, sich irgendwie zu zeigen, dann würde einer prompten Durchführung des Ausnahmezustandes nichts im Wege stehen. So aber fehlt der Feind und die Bevölkerung schaut dem Vorgang mit Verwunderung zu.
Ist der Ausnahmezustand als Vorbeugungsmaßregel gedacht gewesen, dann dürfte er in den Ländern, für welche eine solche erforderlich ist, ihren Zweck bereits erfüllt haben. Aus dieser Erwägung heraus sollte es möglich sein, den Ausnahmezustand für das Land Baden aufzuheben.
Herr Generalleutnant Reinhardt hat die vollziehende Gewalt auch für das Land Baden übertragen erhalten; er stationiert zu diesem Zweck einen Offizier nach Karlsruhe. Karlsruhe und der größte Teil des badischen Landes liegt in der neutralen Zone. Militärische Befehlsgewalt kann nach Artikel 43 des Friedensvertrags von Versailles in der neutralen Zone nicht ausgeübt werden. Die in Karlsruhe stationierte französische Militärmission findet sicher durch die Entsendung eines deutschen Offiziers in die neutrale Zone einen[397] Vorwand zu Maßregeln, die dem badischen Land ebenso unangenehm werden können, wie die seinerzeitige Stillegung der Luxuszüge mit der darauf folgenden Besetzung Offenburgs durch die Franzosen. Wenn etwa die Reichsregierung den Artikel 43 des Friedensvertrags nicht die gleiche Auslegung geben wollte, wie das von mir hier geschieht, so bleibt immerhin die Tatsache bestehen, daß bei früheren Gelegenheiten ähnlicher Art auf die neutrale Zone Rücksicht genommen wurde. Ein Militärbefehlshaber kann vollziehende Gewalt nur dort ausüben, wo ihm Truppen zur Verfügung stehen. In der neutralen Zone befinden sich Truppen nicht, ein Hineinschicken von solchen wäre im Bedarfsfalle nur nach vorherigem Benehmen mit den Franzosen möglich. Daraus ergibt sich ganz von selbst, daß die in den Jahren 1919 und 1920 gehandhabte Übung, Baden von der Verhängung des Ausnahmezustandes auszunehmen, die richtige gewesen war. Meine Befehlsgewalt über die badische Polizei abzutreten wäre ein gefährliches politisches Experiment. Ist das beabsichtigt, dann lege ich hiermit hiergegen Einspruch ein2. Vor wenigen Tagen hat die badische Polizei den Oberleutnant Kirchstein in Donaueschingen verhaftet, weil er vor etwa 14 Tagen aus Reichswehrbeständen eine größere Menge Maschinengewehrmunition an die Deutschvölkischen geliefert hat. Aus diesen und aus anderen Gründen wird sich die Badische Regierung vorbehalten, auf die Frage der Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr späterhin zurückzukommen. Jedenfalls sei für heute ausdrücklich hervorgehoben, daß die Badische Regierung mit diesem Schritt des Herrn Reichspräsidenten nicht einverstanden sein kann. Die militärische Befehlsgewalt entbindet keine Regierung eines Landes vor ihrer politischen Verantwortung, es bleibt somit nur der beschämende Zustand der Setzung eines Offiziers in das Staatsministerialsgebäude als Vormund über eine vom Volk gewählte Regierung.
II. Nachricht hiervon mit dem Ersuchen um Stellungnahme3.
Remmele
Fußnoten
- 1
Vgl. Dok. Nr. 85. Der letzte Satz dieses Schreibens (II) ist maschinenschriftl. nachgetragen. Wie auch die hess. StReg. hatte das bad. StMin. telegrafisch bereits am 27.9.23 der Übernahme der vollziehenden Gewalt durch den RWeM im Bereich der neutralen Zone widersprochen (R 43 I/2703, Bl. 159, 180).
- 2
In einem Telegrammwechsel mit dem RWeM am 3.10.23 warnte der bad. StPräs. Remmele davor, die bad. Sicherheitspolizei unter militärischen Befehl zu stellen, da hierin die frz. Besatzung ihre Behauptung bestätigt sehe, diese Polizei sei verkappte Reichswehr. Die Folgen müßten „katastrophal“ sein. Darauf bemerkte Geßler, die Polizei in der neutralen Zone werden nicht unter militärischen Befehl gestellt. „Etwaig notwendig werdende Anordnungen wird Militärbefehlshaber der badischen Regierung zuleiten“ (R 43 I/2708, Bl. 173).
- 3
Namens des RWeMin. übersandte am 8.10.23 Major von Schleicher der Rkei die Antwort Geßlers zu der Anfrage des bad. StMin. Danach enthielt der VV keine Bestimmung, die den militärischen Ausnahmezustand für die neutrale Zone ausschloß mit der Einschränkung, daß dort keine Truppen verwendet werden dürften. Die Anordnungen der Militärbefehlshaber seien in der neutralen Zone durch die Polizei auszuführen. „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß sämtliche Reichs-, Landes- und Kommunalbehörden in der neutralen Zone den Weisungen der zuständigen Militärbefehlshaber Folge zu leisten haben“ (R 43 I/2708, Bl. 172). Da das bad. StMin. seine Einwendungen nicht behoben sah, beauftragte es am 9.10.23 den StPräs., den RK persönlich „auf den Ernst der Situation für die Westgrenzgebiete aufmerksam zu machen“. Die bad. Reg. sah die Schwierigkeiten ein, in denen sich die RReg. wegen der Vorgänge in Bayern, Sachsen und Thüringen befand, und wollte deshalb ihr Verhalten nicht „als eine Fronde“ betrachtet wissen, doch meinte sie Hinweise zu besitzen, daß der Ausnahmezustand von Frankreich zu weiterem militärischen Vordringen in Deutschland benutzt werden solle (Remmele an RK, 10.10.23; R 43 I/2703, Bl. 219–220). Auf dieses Schreiben hin bat der RK den Bad. StPräs. am 18.10.23 zu einer Unterredung in der Zeit vom 22.–24.10.23 nach Berlin zu kommen (R 43 I/2703, Bl. 221). Ob es zu einer Unterredung tatsächlich gekommen ist, ließ sich nicht ermitteln. In den „Lieber-Aufzeichnungen“ wird hierzu ausgeführt: „Baden sträubt sich gegen die Ausdehnung der militärischen Gewalt auf sein Land […]. Geßler sieht sich daher veranlaßt anzuordnen, daß die badische Sicherheitspolizei nicht dem Befehlshaber im Wehrkreis V unterstellt wird. Dagegen lehnt er die Aufhebung des mil. Ausnahmezustandes für Baden ab“ (BA-MA: NL von Rabenau 40, Bl. 38–39).