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2. Lage.
Der Reichskanzler übernahm den Vorsitz und berichtete über die innerpolitische Lage. Auf Grund der letzten Presseberichte aus Thüringen habe sich eine erhebliche Erregung der Parteien bemächtigt, welche dazu geführt habe, die sofortige Bildung republikanischer Hundertschaften zum Kampf gegen die Reaktion zu fordern. Er habe den Eindruck, daß zu einer solchen Maßnahme keine Veranlassung bestehe und daß die Lage von einigen Parteiführern in nervöser Übereilung falsch beurteilt werde4.
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Die Morgenpresse hatte von einer verstärkten Spannung an der bayer.-thüring. Grenze berichtet. Außerdem wandte sich der thüringische IM Hermann am 5.11.23 an den RK und übersandte ihm abschriftlich ein Schreiben an den RWeM, in dem er dagegen protestierte, daß auf Anforderung von Wirtschaftsverbänden der Unternehmer Reichswehrtruppen in das Meuselwitzer Streikgebiet entsandt worden seien, ohne vorher der Landesregierung Mitteilung zu machen. Das Vorgehen der Antragsteller sei deshalb verantwortungslos, weil ihnen der Schutz der Anlagen garantiert worden sei. Der Militärbefehlshaber habe wiederrechtlich polizeiliche Gewalt ausgeübt. „Ein solches Vorgehen der Truppe trägt allenfalls zur Erhöhung der Erregung innerhalb der Bevölkerung bei, die in reichlichem Maße bereits vorhanden ist, weil bei der heutigen Wiederaufnahme der Arbeit durch die Streikenden etwa 30% der Arbeiterschaft nicht wieder eingestellt wurden.“ Die Reichswehr werde ersucht, aus den unbedrohten Gebieten abzuziehen (R 43 I/2713, Bl. 101–103). S. a. Anhang Nr. 1.
[967] Der Reichskanzler berichtete über das Bild der Lage in Thüringen, wie es sich vom Standpunkte der Reichskanzlei aus in den letzten Tagen ergeben habe, und wies insbesondere auf die irreführenden Meldungen der Presse aus München vom 3. November hin5. Nach den gegenwärtig vorliegenden Berichten militärischer Sachverständiger, die an Ort und Stelle entsandt seien, befände sich zur Zeit lediglich eine Anzahl rechtsradikaler Verbände in der Gegend um Coburg versammelt, denen jedoch offenbar ein klares Ziel und eine ernst zu nehmende politische Führung fehle6. Gegenüber diesen Leuten ständen vier Regimenter Reichswehr bereit, welche erforderlichenfalls mit der Waffe eingreifen würden, so daß eine vollkommene Sicherung geschaffen sei.
Was die Bewegung unter den rechtsradikalen Organisationen in Pommern, Brandenburg usw. anbelange, so sei auch hier zweifellos eine gewisse Aktionsbereitschaft festzustellen und die Gefahr gewaltsamer Putschversuche, ähnlich wie z. B. in Küstrin, sei nicht von der Hand zu weisen7. Aber auch hier sei im übrigen das Fehlen einer klaren politischen Zielsetzung festzustellen8. Die einen verlangten die Absetzung des Generals v. Seeckt, die anderen richteten sich gegen den General Ludendorff; wieder eine andere Gruppe verlange ein Direktorium, für dessen Besetzung die Namen v. Kahr, Wiedfeldt, Minoux genannt würden9. Eine gemeinsame Linie, ein klares politisches oder wirtschaftliches Programm oder sonst von weiteren beachtenswerten Kreisen gestellte greifbare Forderungen, zu denen Stellung genommen werden könne, lägen dagegen nirgends vor.
Es sei sein Standpunkt und wohl auch der des übrigen Kabinetts, daß man jederzeit bereit sei, Männern, die in erhöhtem Maße das Vertrauen der Nation besäßen, Platz zu machen; gegenüber einer so labilen und ungeklärten Lage wie der gegenwärtigen sei es aber unmöglich, das Amt niederzulegen10.[968] Vielmehr sei es gerade in einem solchen Augenblicke der Verwirrung Pflicht der Regierung, entsprechend der von dem Herrn Reichspräsidenten übertragenen Aufgabe das Ruder in der Hand zu halten11. Allerdings sei eine Regierung mit dem Parlament z. Z. kaum möglich, nachdem die große Koalition auseinandergegangen sei12. Er halte auch vorderhand eine Sitzung des Reichstags nicht für möglich13. Dagegen schlage er vor, einen Aufruf an das deutsche Volk zu erlassen, in welchem zur Reichseinheit gemahnt werde. Einen Entwurf dazu lege er vor.
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Vgl. dazu die Auseinandersetzungen in der DVP-Fraktion am 5. und 6.11.23, auszugsweise abgedruckt in Vermächtnis I, S. 195 ff. und 198 ff. Am 6.11.23 erklärte u. a. der Abg. Gildemeister in der Fraktionssitzung: „Ist das Kabinett richtig konstruiert? Warum sind in den höchsten Stellen nicht Männer, die das Vertrauen der Fraktion haben? Warum nimmt der Kanzler immer wieder Leute, die nicht im Parlament sitzen? Jetztige Lage: Sozialdemokratie hat große Koalition gesprengt und ist dennoch stiller Teilhaber geblieben. Ich bin mit Scholz der Meinung, daß wir Verbreiterung nach rechts suchen. Stres. hat sich gestern dagegen ausgesprochen. Ist die Fraktion anderer Auffassung, dann muß sie ihren Weg gehen. Wir sind keine Partei Stresemann. […] Ich beantrage, Scholz den Auftrag zu geben, jetzt qua Fraktion mit Dtschn. Fraktion zu verhandeln.“ In der gleichen Fraktionssitzung führte Curtius aus: „Reichskabinett hätte Aufforderung an Dtschn. richten müssen. Gestrige Erklärung Dr. Stres. hat mich auf das Äußerste verblüfft, glatte Desavouierung der Politik der Fraktion und ihres Vorsitzenden. Stresemann hat uns doch sozusagen den Bettel vor die Füße geworfen. Stresemann will diktatorisch regieren. Was sollen wir für Folgerungen daraus ziehen? Entweder wir treten still beiseite, oder wir sagen Stresemann: So geht das nicht weiter. Es ist doch unmöglich, daß Stres. als Kanzler Parteiführer bleibt, das führt zu den schlimmsten Konsequenzen. Wir müssen Stres. um seiner selbst willen auffordern, das Amt des Parteiführers niederzulegen.“ In der Nachmittagssitzung der DVP-Fraktion wurde in der Diskussion über den Fortbestand des Kabinetts vom Abg. Hugo gesagt: „Dieses Kabinett kann nicht regieren, es ist in Abhängigkeit von Sozialdemokraten. Wir müssen auch an künftige Wahlen denken. Rechtsfront gegen Linksfront!“ Nach ihm meinte Hepp: „Auf dem Lande herrscht volle Verzweiflung. Jetzt offenbart sich sozialistische Mißwirtschaft. Eine feste Hand ist notwendig. Landwirtschaft lehnt Stres. restlos ab“ (Pol. Arch.: NL Stresemann 87).
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Zur Haltung Eberts gegenüber Stresemann zu diesem Zeitpunkt s. Seeckt an Wiedfeldt (Anhang Nr. 5).
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Vgl. dazu o. die Ausführungen von Gildemeister und Curtius in Anm. 10.
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Der RT trat erst wieder am 20.11.23 zusammen.
Er bittet um Beschlußfassung hierüber und Stellungnahme zu seinen Ausführungen über die innerpolitische Lage und die Haltung des Ministeriums.
Der Reichsarbeitsminister erklärte seine Zustimmung zu den Ausführungen des Reichskanzlers und verlas den Entwurf eines Aufrufs mit einigen von ihm vorgeschlagenen Ergänzungen.
Der Reichspostminister der Reichsernährungsminister erklärten ebenfalls ihr Einverständnis zu den Ausführungen des Reichskanzlers.
Der Reichskanzler stellte fest, daß dem Aufruf zugestimmt werde14.
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Text in Schultheß 1923, S. 210.